Journale zwischen den Jahren, dessen heute viertes noch einmal, aber zu Taizé, durch die Nacht fliegt und in dem Freitag des 30. Dezembers 2011 landet. Das Leben als einen Roman betrachten (ff).

7.25 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Um sieben Uhr auf. Gleich den Latte macchiato bereitet und den Ofen besorgt. Ich habe große Schwierigkeiten wieder, früh aufzustehen, was heißt: Schwierigkeiten, rechtzeitig ins Bett zu gehen und mich nicht, statt dessen, irgendwie abzulenken, indem ich mir noch einzwei Filme um die Ohren haue. So auch gestern, nachdem ich mich vom Profi wieder getrennt hatte, den ich auch erst gegen 23 Uhr im Soupanova traf, das proppe mit jungen Franzosen voll war, jugendlichen Franzosen, heißt das, >>>> Taizé. Ich hatte davon noch nie gehört – oder gehört zwar schon, aber es war an mir vorübergegangen; nicht ganz zwar, denn auf dem Weihnachtsmarkt waren wir, लक्ष्मी, die Kinder und ich bereits in der Adventszweit angesprochen worden, ob wir nicht zwischen den Jahren einen jugendlichen Gast bei uns aufnehmen könnten. Mein Impuls war gewesen: wirklich gerne – aber die Arbeitswohnung ist zu eng, zu intim mit ihrem einen Zimmer, und Am Terrarium sind ja schon drei Kinder, da hat die Frau ohnehin so gut wie keinen alleinigen Platz, tags jedenfalls.
Der Profi, nun, erzählte mehr. Mir war, was ich hörte, sympathisch – schon was ich sah, bevor er dawar, war‘s mir gewesen; denn ich trat früher als er in das proppevolle, proppeverqualmte Lokal. Keine Spur entsinnlichter Sekterei. Die Mädels und Jungs qualmten und küßten, was das Zeug nur hielt. Wunderbarste Paarbildungsbilder. Ich liebe das.
Wir saßen da nicht wie ältere Männer, sondern, irgendwie, wie Eltern. So mein Gefühl. Ich will ja sowieso, unterschwellig, aber ständig, ein weiteres Mal noch Vater werden.
Ich erzählte vom Nachtflug. Immerhin hatte ich es tags noch zuwegegebracht, über das Buch auch zu schreiben und >>>> den Text in Die Dschungel zu stellen, einen unbeauftragten Text, was mir momentan sehr wichtig ist: daß ich nicht immer nur Aufträgen hinterherschreib. So sehr ich sie selbstverständlich, um den Lebensunterhalt zu sichern, brauche. Aber: frei schreiben. Die Dschungel, da mach ich mir nichts vor, ist nicht frei, sondern längst auch Auferlegtheit, Selbstauferlegtheit, allerdings eine, die mich mit meinem Beruf wie eine Hängebrücke verbindet, die über Schreibkrisen gespannt ist. Wobei ‚Krise‘ ein ziemlich absurdes Wort ist, wenn ich mir klarmache, wie alles in mir nach >>>> ARGO drängt: da wäre gar keine Krise, daran schüfe ich weiter, sofort, wenn nicht der Jungenroman II wäre, der zu schreiben ist, für den mir aber so gar kein Impuls kommt, nach wie vor nicht.
Also, wir sprachen über Nachtflug.
„Schon eine enorm konservative Haltung“, sagte ich, „zudem nicht frei von dem, was auch im Faschismus wirkte.“ „Aber Saint-Exupéry ist zutiefst Humanist“, entgegnete der Profi, „ich las das Buch mit fünfzehn oder sechzehn, wie beinahe alles von ihm.“ Daß er die Vorstellung eines humanistischen Diktators habe, eines Patriarchen im alten Sinn. „Soldatisch“, sagte ich, „sind die Bücher. Sie haben eine humanistische, aber soldatische Moral.“ „Man könnte auch sagen“, so wieder er, „eine religiös-exerzitische…“ „… aber nicht-konfessionell…“ „…christlich, das schon.“ Ich merkte, das Gespräch paßte gut in das heute taizésche Soupanova.
Gegen Mitternacht trennten wir uns. Ich sah noch einen ziemlich intelligenten Film Alain Sardes. Dann mußte ich mich zusammenreißen, um schlafen zu gehen.
Gleich wecke ich die Löwin, die mir nicht gram ist, der letzten Tage halber, aber doch kühler, spüre ich, mir gegenüber, fassungshalber, in ihrem Wien; ich war ja selbst sehr ungefaßt: nicht locker mehr. Was unter der Haut saß, aber sicher geborgen, längst, in einer Kapsel warmer Distanz, war auf- und ausgebrochen und das Tragische dran nicht länger ästhetisch vermittelt, sprich: unsublimiert wie ein Fleisch, dem die Haut riß. Daß ich das immer miterzähle, indem ich das Leben betrachte wie einen Roman, der eben kein persönliches Tagebuch, sondern auf Publizität angelegt wie jeder andere ist, macht es den Nahsten schmerzhaft schwer. Es ist, als griffen meine Schmerzen, die ich mir, sozusagen, vom Leibe schreibe, auf andere über: auf diese Weise wehren sie sich gegen ihre Ästhetisierung, als wollten sie nicht Poesie werden, sondern Schmerzen bleiben. Dazu paßt ziemlich gut, daß die Löwin auch meine Cholerik für einen Akt der Psychohygiene hält: „Sie schlucken gar nichts in sich hinein, sondern entäußern fast immer sofort, was Sie schmerzt. Sie husten die Schmerzen einfach hinaus, bevor die auch nur die Chance haben, Ihre Organe anzugreifen oder gar die Seele.“ Die ihrerseits, so lag‘s mir auf der Zunge, Organ ist.
Nun trete ich gerade ins Krebsalter ein. Mal sehen, ob die Löwin recht hat. (Immerhin muß ich heute zum Zahnarzt. Komische Blase links oben am Zahnhals, erst tat da was weh, bißchen nur, dann blähte sich das Zahnfleisch auf wie eine perlengroße Koralle. Seit gestern geht das zwar zurück, von sichtbaren Blutfädchen aber durchzogen; so riet mir der Arzt, ihn gleich zu besuchen. Ich habe wirklich, momentlang nur, an Krebs gedacht. Deshalb meine Bemerkung. Auch das nämlich sehe ich an. Und benenn es.)

Erstmal rasieren und unter die Dusche. Dann die Wahl des Anzugs. Draußen regnet‘s wie zu zu frühem Frühling.

10.42 Uhr:
Und jetzt, zwischendurch, hat es geschneit, so getan jedenfalls. Bin zurück.
Mein Immunsystem reagiert noch perfekt. Zwischen Brückenkopf und dem in den Kiefer gesenkten Stift ist ein kleiner Leerraum entstanden, worin sich eine Entzündung gebildet hat. Direkt daran wuchs eine Fistel, die überschüssige Flüssigkeit nach und nach abgab, je nach Füllstand größer wurde und wieder kleiner und die dann oft völlig verschwindet. „Ich habe Kollegen, die würden jetzt sofort sagen: alles rausreißen. Das seh ich anders. Sie haben diesen Leerraum schon lange, ganz offensichtlich, und der Körper hat das, wie jetzt, immer selbstreguliert. Da sollte man ihn lassen. Ich säubere das jetzt etwas, und Sie bekommen ein Antiseptikum mit Entzündigungshemmer drauf. Dann bitte zwei Stunden lang nichts essen und nichts trinken, sondern das Mittel einfach einwirken lassen.“ Im Nu war ich wieder draußen. „Melden Sie sich wieder in vierzehn Tagen. Dann können wir noch mal überlegen, ob man da eingreifen muß.“
Mit dieserart vollzogenem Aids-Test radelte ich heim.
Mit der Löwin telefoniert. „Ich habe Ihnen geantwortet . Sahen Sie‘s?“ Nein, >>>> das sah ich noch nicht. Wir entwickeln noch ungewöhnliche Formen des Umgangs mit Tiefen: kommentierender Tanz mit dem Schmerz.
Zündschnüre. Doch sind jene, die wir sehen, gefährlicher, als wenn sie versteckt wärn?
Zügel.

3 thoughts on “Journale zwischen den Jahren, dessen heute viertes noch einmal, aber zu Taizé, durch die Nacht fliegt und in dem Freitag des 30. Dezembers 2011 landet. Das Leben als einen Roman betrachten (ff).

    1. San Marco. Er war wohl ein schlechter Feuerwerker. Deshalb die Flügel.

      Die Alternative wäre: zu schweigen. Das wäre strategisch, weil voller Vorbehalt. Doch was ich zu ertragen habe, das hab ich zu ertragen. Der Satz klingt leicht und ist es nicht.

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