G e s c h ä t z t e    L e s e r : i n n e n ,   (Arbeitsjournal, Dienstag, 3. Januar 2012, 6.50 Uhr)

[Rihm, >>>> Fetzen.]



es geht nicht mehr. Ich war einigermaßen verzweifelt, wenn ich auch dauernd lachte und dabei in der Wohnung hin- und herstrich, telefonierend, ein autistischer Tiger, dem die tausend Stäbe indes noch mildernd nicht zur Welt geworden, sondern er stemmt die Hintertatzen in den Boden und drückt die Stäbe trotzig, bei aller Kraft, aber eben nicht weg: „Was soll ich ein Kinderbuch schreiben?! Das bin ich nicht, ich will an ARGO..!“ – undsoweiter verzweifelt wegen des bizarren Umstands, in einer Schreibhemmung zu sein, die ich gar nicht habe; vielmehr, bei ARGO, ecco, oder für die nächsten Gedichte, für Melusine Walser und Die Dschungel sowieso schrieb ich ganz hemmungs-, schriebe ich blocklos wie je. Nur daß ich mich in Kinderhirne habe zu versetzen, ich stehe ja unter Vertrag und bin schon sowieso zu spät, kann nun aber dieses u n d meine erwachsene Arbeit, künstlerische, nicht gleichzeitig leisten, ich muß in den Kinderkopf hinein und nicht nur, das wär das wenigste, wegen der Sprache, sondern plothalber schon, wovon jede Dschungelüberlegung mich abhält – zumal, ja,
zumal mir auch der Auswegspfad versperrt ist, den ich sonst immer ging, etwa, als ich die vierfünf Jahre an ARGO habe geschrieben, bis das Rohmanuskript auch wirklich stand: nämlich täglich Texte aus der Tagesarbeit in Die Dschungel einzustellen, zu denen dann kommentiert werden konnte – oder wie bei >>>> den Elegien (die Sie, verdammtnochmal, endlich bestellen sollten; gemäß den Zugriffszahlen d o r t wäre die erste Auflage schon über dreimal weggegangen – ); das darf ich diesmal nicht, weil doch die Jungenromane pseudonym erscheinen, aus strategisch guten Gründen, die persönlich schlechte, für mich schlechte sind, denn, Sie wissen schon, >>>> die Welt: wir wollen, der Verlag und ich, den Paria nicht auch im Kinderbuchsegment am unsichtbaren Pranger des Betriebs steinigen lassen, auf daß er endlich a u s der Welt sei. Also darf es zwischen hier und dort keine Verbindungen geben, und ich, dem das doch gar nicht liegt, hab im Verschwiegenen zu wirken. Es ist schon schwer genug, für einen solchen Unhold zu gelten, nur weil man gerade leben will und lebt; jetzt muß ich auch meinen Namen, und zwar ein zweites Mal, verstecken, allein, weil falsche Meinung ihn nicht will – so wenig können wir unserm Bestimmtsein entkommen.
Vor allem für den Arbeitsprozeß selbst. Es ist etwas anderes, ob man sich gleich nach dem frühen Aufstehen an den Roman setzt und in dessen innerer Geographie umherspaziert, gekleidet, wie die Gegend es braucht, die man nun strolchesweise durchstreift, oder ob man, wie eben jetzt in Der Dschungel, erst einmal tägliche die künstlerische Bilanz zieht: immer bedarf das, soll solch ein Text, selbst nur ein Arbeitsjournal, schließlich gelingen, zweier Stunden wenigstens, meist ihrer aber dreie. Da ist man immer schon woanders und findet sich nur schwer noch zurück oder, wie ich jetzt, gar nicht, es sei eben denn, es dränge einen an die Arbeit. Was bei dem Jungenroman, de, jetzt zweiten, leider so gar nicht der Fall ist.
„Was also wollen Sie tun?“ fragte mich Frau Kiehl, mit der ich noch immer trotzgetigert, erinnern Sie sich dessen bitte:, telefoniere. „Was passiert, wenn Sie nicht abgeben, wenn Sie es sein lassen und das Projekt aufgeben?“ „Ich stehe unter Vertrag, ich würde Einkunft verlieren.“ „Können Sie sich das leisten?“ „Nein. Auf gar keinen Fall. Ich würde auch Vertrauen enttäuschen.“ „Und Selbstvertrauen“, sagte sie. „Das ist wahrscheinlich schlimmer.“
Abermals fing ich zu schimpfen an, und abermals zog Frau Kiehl aus diesem schon, für seine Art, peinlich verzweiflungsgrollenden Tiger den Profi auf den Boden zurück. „So bleibt Ihnen nichts, als sich hinzusetzen und die Sache durchzustehen.“ „Mir fällt ja aber nichts ein!!“ rief ich aus, und was mir einfalle, dünke mich schal und ohne Interesse. Ich sei aber, so wieder sie, beim ersten Jungenroman völlig anderer Stimmung gewesen, hätte viel Begeisterung gezeigt und vermittelt, und wirklich – ich hatte ihr einige Kapitel geschickt – habe Sie mich bewundert dafür, welch eine Sprache ich für diese Jungens und auch das Mädel hätte gefunden; es sind ja überhaupt alle, die es lasen, von dem Buch beglückt gewesen, der Lektor, Korrektor, Verlagschef, die Freunde, „nur Sie jetzt“, beharrte Frau Kiehl, „haben diese Krise“, von der sie verstand, daß ich mich zurückgesetzt fühle, unanerkannt, als Dichter verschwiegen und gemieden, und jetzt müsse ich, so mein Empfinden, mich vor mir selbst erniedrigen, „der schreibt halt Kinderbücher“ – worauf sich das Gespräch um deren Notwendigkeit und Fähigkeiten drehte, die aber mich nicht interessieren, weil Pädagogik mich nicht interessiert, weil ich nicht strategisch schreibe, denn ich lebe so auch nicht; nicht zwar Moral geht mir am Arsch vorbei, wohl aber ihre öffentliche Gleichbeschaltung, die political und Gender-Correctness, das alles stinkt mir, kotzt mich an, die Rauchverbote und nicht ‚Nigger‘ sagen zu dürfen, wo das doch hingehört, oder von ‚Ethnien‘ sprechen zu müssen, weil ‚Rasse‘, wiewohl den gleichen Inhalt bezeichnend, nicht erlaubt ist… jeder Ausdruck nach mehrmaligem Schleichen erst von auf den Zehenspitzen hoch zu den Lippen und hinausgebracht, Frauen nicht mehr Frauen zu nennen und Männer Männer nicht, sondern hermaphrodit für den Markt äquivalibriert, diese längst geflockte Milch der guten Denkungsart, die jeder nächstbesten Macht, wenn sie nur kitschig genug opportun ist, in die Enddärme ihrer Mainstreame kriecht… – Sie lesen hier meine Verfassung. Dazu die emotionale Verwirblung meiner vergangenen dreieinhalb Wochen mit der ständig vergeblichen, auf unablässige Leistung aber getrimmten Anstrengung, mich endlich wieder zu focussieren; ich habe schlichtweg kein Vermögen, das es mir erlaubte, mich zurückzulehnen und die Dinge laufen oder ruhen zu lassen, ich habe nicht mal Rücklagen. Hab aber auch den Arbeit‚geber‘ nicht, der mich strukturell bestimmt; ich könnte so einen auch gar nicht ertragen. Auch das gehört, jetzt, in meinen Trotz: daß der Vertrag mich bindet und ich nicht tun kann, was ich will. Andererseits hab ich den Vertrag ja selbst gewollt –
Wie auch immer, es geht, weil der Jungenroman geschrieben werden muß, jedenfalls mit Der Dschungel nicht weiter. Nicht so, wie bislang. „Dann fangen Sie einen Counddown an“, sagte Frau Kiehl, „zählen Sie rückwärts ab dreißig. Ein Monat müßte jemandem wie Ihnen genügen, um dieses Buch zu schreiben. Für Die Dschungel aber – nein, Sie dürfen sie n i c h t einstellen! – wechseln Sie das Medium.“ „Wie meinen Sie das?“ „Setzen Sie sich eine Frist. Dreißig Tage eben. Und in Der Dschungel operieren Sie in dieser Zeit mit Bildern. Stellen jeden Tag eine Fotografie ein, wie ich das >>>> bei mir nicht selten mache. Nun bin ich freilich Bildnerin, es gehört zu meinem, nicht Ihrem Beruf. Also müssen Sie‘s verbinden. Fotografieren Sie täglich irgend ein Detail aus Ihrer Wohnung, die, wie ich weiß, eine Schatzkammer von Weltpartikeln ist. Nur die Fotografie, nichts weiter, bitte keinen Kommentar, keine Erklärung, sonst sitzen Sie in der Fall schon wieder drin. Oder Sie stellen jeden Tag eine Fotografie eines derjenigen Bücher ein, die Sie am meisten beeinflußt haben, nur das Cover oder die Titelseite.“
Ich spürte sofort, daß es das war.
So will ich es nun halten.
Dreißig Tage lang, mit morgen beginnend, erhalten Sie morgens nunmehr ein Bild. Das sei kommentierbar, aber von Ihnen. Wer eigene Erfahrungen hat mit jeweils dem Buch, möge kommentierend von ihnen erzählen; ich selbst, allenfalls, werde abends reagieren, nach getaner Jungenbucharbeit, dann auch, vielleicht, mit Ihnen sprechen. Doch anderes, bis das Buch fertiggeschrieben ist und ich zurück ins Tägliche kann, in mein poetisch Donquichottes, in meinen Größenwahn und die Verkleinung ins gespiegelt Private oder seine Fiktionen, darin sich alles austobt, und in die Projekte – anderes also werden Sie dreißig Tage lang hier nicht mehr lesen. Bleiben Sie dennoch Der Dschungel gewogen oder hassen Sie sie, dennoch, weiter.
Ich beginne zu zählen und bin selbst gespannt, welch eine Bibliothek sich nunmehr ergibt. Ich werde versuchen, die Titel chronologisch zu wählen, mit den ersten meiner Jugend bis zu den letzten reifer Jahre, aber nicht streng dabei vorgehen und das auch gar nicht können – doch >>>> ich beginne zu zählen.

ANH

5 thoughts on “G e s c h ä t z t e    L e s e r : i n n e n ,   (Arbeitsjournal, Dienstag, 3. Januar 2012, 6.50 Uhr)

  1. Ich stimme ebenfalls zu! Aber… Ich wünsche Ihnen alles Gute zum Neujahr !
    Ihre Hemmungen beschreiben Sie genau und ausführlich genug, um eine Lösung zu finden. Phyllis Kiehls Ratschläge scheinen mir äusserst wirksam. Kann ich Ihnen etwas vorschlagen? Ändern Sie den Ort wo Sie gewöhnlich schreiben. Ihre Frustration kann verschwinden, sobald Sie anderwo sitzen.
    Oder: „Wenn ich sitze, ’sitzen‘ auch meine Gedanken“, schrieb Montaigne und benutzte ein Pult, um stehend zu arbeiten !
    Sie haben soeben von Saint Exupérys ‚Nachtflug‘ mit grosser Tiefe gesprochen. Die Idee von ‚Le Petit Prince‘ kam ihm aus einem Detail, das er an einem Jungen einer bekannten Familie bemerkte: dieser trug einen wunderlich langen gelben Schal und der Autor zeichnete den Prinzen auf der Stelle… (Jener Junge, Pierre Sudreau, wurde später Minister von De Gaulle !!)
    Ob es ein gutes Beispiel ist, weiss ich nicht !
    Ich wünsche Ihnen Mut und Ausdauer!

  2. Musenküsse Die Muse küßt offensichtlich nicht auf Befehl, auch einen ANH nicht. Wie wär’s denn, nur so zum Einstimmen, mit einem Tag in der Jungenbuch- Abteilung einer städtischen Bibliothek und einem Blick in Jugendbuchklassiker wie „Die Rote Zora“, die Abenteuer- und 5-Freunde-Bücher von Enid Blyton, Harry Potter gar etc etc. Nicht daß Sie kopieren sollten, aber um sich einzufühlen könnte das sicher nicht schaden.

  3. Oh, es gibt nur einen Weg an den Schreibtisch, schreiben, was man schreiben will, das darf man dann auch Jugendbuch nennen, wenn Sie hier schreiben, schreiben Sie doch auch verständlich, Jugendliche sind ja nicht doof, Sie haben neulich so einen fantastischen Zettel aus Ihrer Jugend eingestellt, ihre ersten Begegnungen mit der Oper, schreiben Sie Ihre Musiksozialisation auf, wie in diesen Stichpunkten, der unvollkommenen Mensch, der kämpft, März 1970, wenn das kein einzelner Eintrag geblieben ist, haben Sie doch einen kompletten Jugendroman, machen Sie bloß das, was Sie immer schon begeistert hat, es fehlen doch bestimmt Bücher, die an die Oper heranführen für Jugendliche, so ein Knebelvertrag kann das gar nicht sein, dass Sie nicht auch tun dürften, was Sie wollten, Mensch Alban, just do it! Einfach das machen, worauf DU Lust hast, jeder ab 12 oder 11,5 wird da noch mitkommen, Schere aus dem Kopf jezze!!!
    (Mein vielgeliebter tschick segelt ja unter Jugendbuch, aber es steckt zu hunderteins Prozent Herrndorf drin, nicht weniger als in seinen Plüschgewittern.)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .