7 thoughts on “Achtundzwanzig.

  1. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse.

    Ich kann sehr genau datieren, wann ich dieses Buch zum ersten Mal las: 1970. So geht das aus den Drucklegungsdaten im Impressum hervor. Das deckt sich mit meiner Erinnerung. Wie bereits bei den vorigen Büchern bin ich in der Lage, noch genau dasjenige Exemplar vorzuzeigen, das damals meiner Lektüre diente. Leider ist das nicht bei allen Büchern möglich, die hier noch folgen werden. Ich werde es jeweils dazuerzählen. Aber schon die Bilder, denke ich, werden erweisen, ob ja oder ob nein.
    Freuds Bücherl zur Massenpsychologie, das selbstverständlich beeinflußt von LeBon ist, ist eventuell nicht „mein“ erster Freud gewesen; möglicherweise kam seine „Psychopathologie des Alltagslebens“ vorher; dieses Buch ist leider verlorengegangen. Vielleicht habe ich es damals, nach der Lektüre, verliehen.
    Die paar Freunde und ich sprachen viel über Psychologie in der Zeit, als wir fünfzehn/sechzehn waren; ich las enorm viel Zeugs davon, Charlotte Bühler zum Beispiel, vor allem auch popularpsychologische Titel, nämlich rauf und runter, wollte sogar Psychologie studieren, in völliger Absehung meiner schulischen Unleistungen, die einen Universitätsbesuch absolut ausgeschlossen hätten. Ich wollte das Fach auch nicht zu meinem Beruf machen, sondern da schon Schriftsteller sein, nachdem mein Traum, ein Astronaut zu werden, aus ziemlich komischen Gründen und ziemlich gleich nach der Mondlandung zerplatzt war.
    Übrigens bin ich niemals ein eingehender Besucher von Biblitoheken gewesen, sondern habe mir meinen Lesestoff fats immer antiquarisch besorgt, oft vom Grabbeltisch. Leihen mochte ich mir die Bücher nicht, weil ich oft ausgebig hineinkritzelte, unterstrich, sogar durchstrich, was mir nicht paßte, und abermals an den Rand kritzelte. So etwas konnte man geliehenen Exemplaren nicht antun. – Jedenfalls las ich damals erstmals Freud – aber mehr Alfred Adler, von dem nicht sehr viel in mir geblieben ist. Ich versuchte es selbstverständlich auch mit Carl Gustav Jung, aber fand nicht wirklich hinein und habe bis heute, anders als gegenüber Freud, Vorbehalte, die an Vorurteile grenzen. Das hat sicher auch politische Gründe, ist aber um so seltsamer, als, anders als Freud, Jung meine mystischen Neigungen hätte sehr wohl füttern können. Doch die befriedigte ich, wie Sie in den noch kommenden siebenundzwanzig Tagen sehen werden, auf andere Weise: belletristisch nämlich. Schon >>>> Die Dämonen standen mir, unter vielem anderem, dafür.
    Freuds Massenpsychologie allerdings war für mich wie gemacht. Ich scheute Mengen und Gruppen, ja fürchtete mich vor ihnen. Sogar später noch habe ich auf Demonstrationen nicht ohne Beklemmungsgefühle mitgehen können. Und noch heute, vielleicht gerade heute, lese ich mit Bewunderung und zugleich politisch starker Beklemmung ab S. 37 Mitte:

    Was bei der hier angenommenen Zersetzung der religiösen Masse zum Vorschein kommt, ist nicht Angst, für welche der Anlaß fehlt, sondern (sind) rücksichtslose und feindselige Impulse gegen andere Personen, die sich bis dahin dank der gleichen Liebe Christi nicht äußern konnten. Außerhalb dieser Bindung stehen aber auch während des Reiches Christi jene Individuen, die nicht zur Glaubensgemeinschaft gehören, die ihn nicht lieben und die er nicht liebt; darum muß eine Religion, auch wenn sie sich die Religion der Liebe und der Verzeihung heißt, hart und lieblos gegen diejenigen sein, die ihr nicht angehören. Im Grunde ist ja jede solche Religion eine solche Religion der Liebe für alle, die sie umfaßt, und jeder liegt Grausamkeit und Intoleranz gegen die nicht dazugehörenden nahe. Man darf, so schwer es einem auch persönlich fällt, den Gläubigen daraus keinen zu argen Vorwurf machen; Ungläubige und Indifferente haben es in diesem Punkte psychologisch um so viel leichter. Wenn diese Intoleranz sich heute nicht mehr so gewalttätig und grausam gibt wie in früheren Jahrhunderten, so wird man daraus kaum auf eine Milderung in den Sitten den Menschen schließen dürfen. Weit eher ist die Ursache davon in der unleugbaren Abschwächung der religiösen Gefühle und der von ihnen abhängigen libidinösen Bindungen zu suchen. Wenn eine andere Massenbildung an die Stelle der religiösen tritt, wie es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint, so wird sich dieselbe Intoleranz gegen die Außenstehenden ergeben wie im Zeitalter der Religionskämpfe, und wenn die Differenzen wissenschaftlicher Anschauungen je eine ähnliche Bedeutung für die Massen gewinnen könnten, würde sich dasselbe auch für diese Motivierung wiederholen.

    Zwar bezieht sich der letzte Teilsatz Freuds deutlich auf die Anfeindungen, denen die junge Psychoanalyse ausgesetzt gewesen, aber man wittert schon, zurückbetrachtet, den 10. Mai 1933 zwölf Jahre voraus.
    Es war aber letztlich nicht dieses, war nicht inhaltlich, was Freud bis heute für mich so ausschlaggebend macht, sondern es ist seine elegante und klare Diktion, ist die hohe Literarizität, die sich in dem Stil seiner Schriften ausdrückt. Er teilt ihn mit Nietzsche, der sehr bald danach eine ebensolche Bedeutung in mir erlangte. Freuds starker Akzent auf Sexualität mag zwar damals schon Wurzeln in mir geschlagen haben, indes eine Pflanze wurde daraus erst über zehn Jahre später.
    1. Klingt ganz so, als wären Sie mit fünfzehn/sechszehn ein ziemlich arroganter und selbstverliebter Bengel gewesen. Und, mit Verlaub: als wären Sie es immer noch, ein Bengel, meine ich.

    2. @Binker: Wo sehen Sie in meinem Text die damalige Arroganz? Woran, wie das heißt, „machen Sie sie fest“? – klingt ganz so ist ein bißchen zu dürr als Aussage, als daß es mehr als eine geschmäcklerischere Behauptung sein könnte. Und ob jemand, der so viel Angst gehabt hat, wie ich sie damals hatte – vor Gleichaltrigen vor allem, nicht vor der Welt an sich -, selbstverliebt überhaupt sein kann, ist eine weitere Frage, allerdings eine genereller Natur.

      Ob ich, hingegen, noch heute ein Bengel sei, weiß ich selbst nicht zu sagen.

    3. Sicher waren Sie ängstlich, aber es war die Angst davor, von Gleihaltrigen verkloppt zu werden, weil permanent auf Ihrer Stirn geschrieben stand: „Ich lese Freud und Dostojewskii und bin erst fünfzehn!“

    4. Wenn das, Binker, ein Grund dafür ist, verkloppt zu werden, steht es um die Menschheit wirklich mies. Allerdings wurde ich schon vorher ziemlich oft verkloppt, alle zwei Tage im Schnitt, weil ich mich nie wehrte, sondern die Arme hängen und auf mich einschlagen ließ. Außerdem trug ich meine Lektüren nicht anders auf der Stirn als die anderen ihre Eintracht Braunscheig oder die Beatles. Pragmatisch betrachtet, hatte ich einfach nur andere Interessen als meine Gleichaltrigen. Und war davon ebenso begeistert wie diese von den ihren.
      Mich zu wehren, lernte ich mit fünfzehn oder sechzehn; es war das Ergebnis einer ziemlich harten Intervention meines Großvaters, der dieses Elend nicht mehr mitansehen wollte und mich in eine Judo- und Jiu-Jitsu-Gruppe steckte. Freilich war, a l s ich mich dann endlich wehrte, so viel Gewalt in mir, daß die neue Wehrhaftigkeit durchaus nicht integrativ wirkte.
      Übrigens ist fünfzehn die allerbeste Zeit, um Freud und Dostojewski zu lesen, weil es nicht darum geht, wirklich alles zu verstehen, sondern rechtzeitig entzündet zu werden. Entzündet bedeutet, daß auch das Herz beteiligt ist. Alles Spätere läuft immer ein bißchen als Rationalisierung, bzw. ist es pragmatisch vom Nützlichkeitsdenken geführt.

    5. Entzündet zu werden ist ein wichtiges Stichwort.
      Verbundenheit und Wachstum sind die Grundkonstanten, die man aus dem Mutterleib mit in die Welt bringt. Vielen Heranwachsenden entsteht dieses Verbundenheitsgefühl aber nur, wenn sie sich an Themen/Ideen/Musiken entzünden, die sie mit Anderen teilen können – die „populär“ sind.
      Für Autor:innen und Musik zu schwärmen, die in der Klasse sonst niemand liest oder kennt, macht einsam. Die Schulzeit als Spießrutenlauf. Da entstehen dann Zweck- oder Verzweiflungsbündnisse. Oder man steht einfach für sich.

      Ah … wie ich es genieße, erwachsen zu sein. Die Freiwilligkeit meiner Bündnisse.

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