„Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah“: Es war in meiner Kindheit einige Zeit lang so sehr Ehrensache, diesen Namen auswendig zu wissen, daß ich ihn heute noch weiß. Dabei sagt er eigentlich nur, daß Halef Omar Abul Abbas‘ Sohn und Dawuhd al Gossarahs Enkel ist, und behauptet falsch, alle drei seien nach Mekka gepilgert. Ich weiß nicht mehr, ob ich zuerst Karl May und dann erst – dazu morgen mehr – Edgar Rice Burroughs las, aber ich las Karl May entschieden später, als meine erste Begegnung mit seinen Bücher stattgefunden hat. Das nämlich geschah noch in der Grundschulzeit. Da hatte ich einen Schulkameraden, der Gunnar Mackensen hieß und heute wahrscheinlich so immer noch heißt; sollte ihn Google auf diesen Text aufmerksam machen: wir gingen in die Braunschweiger Volksschule am Bültenweg. Meine Kontaktadresse steht rechts in der Leiste.
Nach meinem halben Schulweg begann der seine, so daß ich oft vor seiner Tür auf ihn wartete, einen damals dicklichen Jungen, der, wie ich, gemieden wurde. Mir ist die Karl-May-Verbindung über ihn noch so deutlich, weil es in seinem Zimmer keine Bücherregale gab, sondern er hatte alle Bände, ich glaube wirklich: alle siebzig, in Schubladen gestapelt, aus denen er sie wie Schätze nahm. An mich, abermals meiner Erinnerung nach, ich muß neun oder zehn gewesen sein, gingen diese Bücher aber nicht. Ich las vor allem Afrika-Romane in dieser Zeit, die mir außer der Tarzanserie, zu der ich schon älter war, sämtlich verloren gingen; aber einen Titel weiß ich noch: „Urwaldtrommeln rufen“. Ich habe ihn, vor dreieinhalb Jahren, >>>> schon einmal erwähnt.
Das gehört zwar hier noch gar nicht hin, muß aber wenigstens erwähnt sein, weil es zeigt, auf welch eigenartig verschobene Weisen es zu Lektüren kommen kann. Mein zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder las Karl May, glaube ich, zuerst, und zwar die Wildwest-Romane, die mich kaum ergriffen. Old Shatterhand und Winnetou fand ich klebrig – anders in den Verfilmungen, aber nur, weil ich mich so über beide Ohren in Marie Versinis Ntscho-tschi verliebte, daß ich mir tatsächlich alle Bravo-Nummern besorgte, aus denen man sich als sogenannten Starschnitt diese junge Frau lebensgroß zusammensetzen konnte.
Als ich dreizehn/vierzehn war, zierte sie in voller Körpergröße und eingekeilt zwischen Hunderte Astronautenbildchen und Zeichnungen von Raketen und Raumstationen die Wand über meinem Bett. Als Ntscho-tschi starb, weinte ich und kam lange Zeit nicht darüber weg. Tatsächlich stellte ich mich allabendlich darauf, also aufs Bett, und zwar auf die Zehenspitzen, und gab der Versini einen Kuß auf den Mund. Winnetous Tod ging mir nicht entfernt so ans Herz. Jahre später, als ich – freilich nicht in der edlen, von dem Typographie-Genie >>>> Friedrich Forssmann gestalteten Ausgabe,
sondern damals noch im billigen Fischer-Taschenbuch – Arno Schmidts >>> Sitara las, wurde mir klar, warum: Letzten Endes trug Winnetou an seiner Schwester Tod nicht einmal eine nur symbolische Schuld, sondern er war sein direkter Grund. Marie Versini mußte aus dem Weg geräumt werden, damit sie die verkniffene Homoerotik der Blutsbrüder Pierre Briece und >>>> Lex Barker nicht störte. Der mir überhaupt in Mays Wildwest hineinverholfen hatte, weil er der erste Darsteller war, den ich als Tarzan akzeptierte. Sie können hier schon lesen, wie eng verzahnt bereits in den Sechzigern Film- und Leseerfahrungen waren. Jedenfalls kann man sagen, daß Winnetou seinen Autor beauftragt hat, Ntscho-tschi umzubringen, damit er Old Shatterhand für sich behalten konnte. Ein klassischer, wenn auch ganz besonders mieser Eifersuchtsmord, weil bei einem – zumal verklemmten – Schreibtischkiller in Auftrag gegeben. Ich bin dem schwulen Apatschen immer noch groll. Allerdings weiß ich, anders als damals, weshalb. Und weiß es zu vertreten.
Nach Ntscho-tschis Tod waren mir, wahrscheinlich aus diesem moralischen Grund, Mays Wildwest-Romane sämtlichst eklig geworden. Anders ging es mir mit den „abseitigen“ Bücher wie dem in Mexico handelnden „Trapper Geierschnabel“,
der auch höchst namhaften Übersetzern , etwa >>>>> Rainer_G_Schmidt lebenslang anzuhängen scheint, sowie mit Der Blaurote Methusalem, Mays China-Roman, dessen Komik mich intensiv entzündet hielt.
Wirklich ergriffen haben mich aber die Orient-Romane. Auch hierbei spielte vielleicht Lex Barker eine Rolle, der ja auch den Kara ben Nemsi, Karl Deutschensohn, gab. In diese Bücher fiel ich geradezu hinein, schon, weil mich die herben Landschaften packten, denen die herben Charactere entsprachen – deutlich ein Gegenbild zu mir selbst, der ich waschlappenweich war -, während mich Mays permanente Christentümelei allerdings nervte. Besonders packte mich der Stolz der in diesen Büchern geschilderten Figuren, unter denen mir Halef Omar immer als eine in ihrer billigen Komik sentimentale Brücke erschien, die May zwischen die Temperamente des Orients und Okzidents spannte, um jenes Härten wegzuschleimen. Was ihn selbst, den Orient, angeht, so glaube ich aber, Mays Schilderungen haben mein Bild des sich von Nordafrika über den ganzen Sinai und Afghanistan bis nach Nordindien erstreckenden pan-arabischen Raumes unumkehrbar geprägt – nämlich ohne die Aufweicherei. Wahrscheinlich habe ich deshalb in einer ausgedehnten Stelle eines >>>> viereinhalb Jahrzehnte später entstandenen Hörstücks den vergessenen Dichter Carl Johannes Verbeen, in seinem berühmten Schatten-Roman von 1953, zweieinhalb Minuten eines Kapitels aus Lawrence von Arabiens Sieben Säulen der Weisheit so eng mit einer dreiviertel Minute Durch die Wüste verschneiden lassen, daß selbst der Kenner die Originale nicht mehr auseinanderhalten kann.
Aber noch aus einem anderen Grund war Karl May entscheidend für mich. Nicht nur fand ich ihn in Ernst Bloch und Arno Schmidt bestätigt, sondern er ist wahrscheinlich der erste, in all seiner Banalität, Mythogene, mit dem ich je Kontakt bekam. >>>> Syberbergs Film hat mir das später klargemacht. Es war Karl May vergönnt, Gestalten zu erschaffen, die ganz unabhängig davon, ob man je die Bücher gelesen, der Welt sich ein für alle Male eingeschrieben haben. Jeder, wirklich jeder Mensch unsres Kulturraums, welchen Geschlechts auch und wie immer gebildet oder ungebildet er sei oder sie, trägt sie als Ideen in sich und hat, wenn wir von ihnen sprechen, sofort ein Gesicht. Ich werde in den kommenden Tagen noch an weitere solcher Figuren erinnern, die man Personen nennen muß, versteht man Wirklichkeit als das, was wirkt. Es sind literarischste, um >>>> Freud zu travestieren, IchPerson-Ideale.
Kolma Puschi Bei uns war es gerade umgekehrt. Wir hatten die Wildwest-Romane Karl Mays, lange bevor wir die Filme sahen. Die maßen wir schon an unserer Vorstellung von „Werktreue“; vor allem waren wir enttäuscht darüber wie wenig der Llano Estacado vorkam. Die Wüste New Mexicos faszinierte uns: die tagelangen Ritte, Hunger und Durst, das Regenwunder durch das Anzünden der Kakteen und die Räuberbanden, die sich hier versteckten.
Ich schreibe: „Wir“, denn ich hatte keine eigenen Bücher, sowenig wie ein eigenes Zimmer. Mein Bruder und ich teilten miteinander nicht nur die Gegenstände, sondern auch das Erleben, oft las ich ihm vor. Über die Trilogie „Old Surehand“ stritten wir uns. Er fand sie recht langweilig. Mir war es eine Offenbarung. Er hatte wohl recht, was Handlung und auch Figurengestaltung anging. Doch meinen Träumen gaben diese Abenteuer Gestalt: Kolma Puschi, die Frau, die als ein Mann in der Wüste lebt auf der Suche nach ihren Söhnen. Abenteuer-Geschichten habe ich als Kind viel mehr geliebt als die typischen Mädchenbücher („Trotzkopf“), in denen sich alles darum dreht, den richtigen Mann zu finden. Unterwegs sein, forschen, kämpfen, unabhängig sein – so stellte ich mir auch mein eigenes fiktives Alter Ego vor. Dennoch wollte ich nie ein Mann s e i n. Hier war die Lösung: Eine Verkleidung. http://karlmay.agerth.de/wiki/index.php/Kolma_Puschi
Nach der Lektüre des „Old Surehand“ malte und schrieb ich eine aufwändige Bilder-Serie, die an Ivanhoe angelehnt war: ein weißer Ritter, unter dessen schimmernder Rüstung sich eine blond bezopfte Frau verbirgt. (Diese Bildergeschichte ist leider verloren gegangen. Vor Jahren wäre sie mir sicher peinlich gewesen. Heute könnte ich mit Nachsicht und Rührung auf das Mädchen schauen, das sie unbeholfen schrieb und zeichnete).
„Durch die Wüste“ dagegen hörten mein Bruder und ich zuerst als Hörspiel auf den Europa-Schallplatten. Die 6 Bände las ich viel später erst; nämlich kurz nachdem ich mich mit 19 verliebt hatte und mit dem Mann, mit dem ich inzwischen zwei Söhne habe, zum ersten Mal in sein Elternhaus fuhr. Da standen sie in seinem Jugendzimmer und ich begann an diesem Wochenende mit dem ersten Band. Die weiteren brachte er mir dann nach und nach an unseren Studienort von seinen Besuchen zuhause mit. Heute noch stehen sie – neben „meinen“ „Winnetou“ und „Old Surehand“-Bänden (der Bruder, dem sie nie ganz so viel bedeuteten, hat keinen Anspruch darauf erhoben) bei uns im Regal.
Unsere Söhne – leider – haben sich nie so für Karl May begeistern können. Nur der Ältere las wenigstens teilweise die Wüsten-Bänden.
Kammei‘ Dieses Titelbild ist auch auf meinem „Wüsten“-Band! Wir hatten dieselben Ausgaben, diese kleineren, eleganteren, grau-dunkelgrünlichen Hardcoverausgabe (nicht die etwas größere hellgrüne). Merkwürdigerweise fing ich aber nicht am Anfang an bei dieser 6-bändigen „Reiseerzählung“, sondern bei Band 4: „Durch die Schluchten des Balkan.“ Und der allererste Band, den ich überhaupt je besaß, war (wohl) hoch in den 30-ern: „Der Ölprinz“.
Doch so merkwürdig war das nun auch nicht, denn ich bekam beide geschenkt. Von meinem Vater. Der las sie uns auch vor, manchmal, stellenweise, im Urlaub. Das war etwas Besonderes, denn das passierte nicht allzu oft. Und so wurden diese Bücher etwas Besonderes, diese Bücher von diesem Autor, von dem mein Vater raunte: Kammei! Mit Betonung auf der letzten Silbe, Kammai‘ , so hatte ich verstanden, was für ein merkwürdiger Name.
Und meinem Vater war es anscheinend eine Freude, die entfachte Begeisterung durch Zukäufe wach zu halten über Jahre. Noch heute besitze ich alle 72 Bände dieser Ausgabe. Heute würde ich allerdings formulieren, es war meinem Vater s c h e i n b a r eine Freude zuzukaufen, in Wahrheit war es vermutlich Hilflosigkeit, er hätte kaum gewusst, was sonst. Denn anders als man es hier über Sie und Ihren Sohn, lieber Herr Herbst, lesen kann, fehlte meinem Vater das Fingerspitzengefühl, das Einfühlungsvermögen.
Aber egal, die Abenteuer von Kara Ben Nemsi waren der Anfang einer großen Freundschaft, wie Dick Stone, Tante Droll und Old Firehand, im „Wilden Westen“ (und neben den Haupthelden). Wie bei vermutlich den meisten anderen Jungen in Deutschland auch. Und selbstverständlich könnten Sie mich noch heute nachts wecken und ich nenne Ihnen den vollen Namen von Halef. Mal eins, zwei Gegenfragen: Wie heißt das Pferd von Kara Ben Nemsi? Wie ist der sprechende Name des Fiesen, der Intschutschuna (oder so ähnlich) erschoss?
Keineswegs habe ich alle Bände geschafft, aber doch viele. Mit den Jahren las ich dann auch über Karl May selbst („Ich“, oder Band 24: „Weihnacht“), las vom Stillen Ozean, von den Kordilleren, von Professor Witzeliputzeli (?) und dem alten Dessauer. Das Größte aber wurden die 4 Greifenklau-Bände, diese Saga über die ewige Feindschaft zwischen dem bösen französischen Gardeoffizier Richmonte und Hugo von Greifenklau, und dann über Generationen auch gegen dessen Sohn und später sogar den Enkel Richard. Blücher, Napoleon, Ulanenoffiziere, Ziethen-Husaren. „Der Weg nach Waterloo“, „Das Geheimnis des Marabu“, „Der Spion von Ortry“ und „Die Herren von Greifenklau – großes Kino! Habe 100 Jahre nicht mehr daran gedacht. Nicht zu fassen!
Aber geprägt?? War das Edle in Winnetou Vorbild? Dass der Indianer nicht viel Worte machte? War die Haltung und die Friedensliebe von Old Shatterhand Richtschnur? Um es offen zu sagen, ich weiß es nicht. Ich erinnere es nicht. Es ist mir jedenfalls nicht bewusst. Die Bücher, die Figuren sind ganz selbstverständlicher Teil meiner Kindheit, Teil meiner Erinnerungen. Ein Teil von mir. Ist das Prägung?
An die Welt des Orients erinnere ich mich auch gut. Das Einschleichen nach Mekka, um um die Kaaba zu laufen, Heiliges Wasser aus dem Brunnen Sem Sem, die Teufelsanbeter, Derwische, Sunniten gegen Schiiten, beide gegen Türken, alle gegen die Araber, und all die anderen Glaubenszweige, die da so abgehandelt waren. Die Verwirrtheit der Verhältnisse, die Uneinigkeit der Moslems – davon habe ich dort zum ersten Mal gelesen. Bei Kammei‘ .
Lieber Dr. No, wenn etwas wirkt, ohne daß wir uns zumindest gleich dessen bewußt sind, dann ist es einer Prägung Wirkung. Etwas markig gesagt, aber dafür haben sie mir jetzt Kammei in den Kopf gesetzt, werd ich sicher auch nicht mehr los. Das Pferd hieß, naheliegenderweise mochte ich den Namen nicht, Hatatlitla – wie wenn jemand beim Führergrüßen niest; gegrüßt wird aber eben doch. Karl Deutschensohns Pferd trug dagegen den Namen Rih. Aber als Bösewicht fällt mir nur der zu Ntscho-tschis Tod von Winnetou auf dem Umweg über seinen Autor gedungene Santer ein. Die anderen Westerns Kammeis habe ich aus den erzählten Gründen nicht mehr gelesen.
Meine Prägung bezieht sich als eine, von der ich unterdessen weiß, auf das Orientbild.
mir haben diese sechs bände als kind ausgesprochen gut gefallen. und in dauernder ermangelung neuer bücher hab ich sie mindestens fünfmal gelesen.
Ich bekam jahrelang immer einen Band zum Geburtstag und einen zu Weihnachten, zusammen mit dem Zeugs für die Aussteuer: Von meiner Großmutter : )
„zusammen mit dem Zeugs für die Aussteuer“. Da hat man sich einen Enkel gewünscht. Nehme ich an. So gesehen, waren die Geschenke Auftrag.
Karl May, Die Orient-Romane.
Nach meinem halben Schulweg begann der seine, so daß ich oft vor seiner Tür auf ihn wartete, einen damals dicklichen Jungen, der, wie ich, gemieden wurde. Mir ist die Karl-May-Verbindung über ihn noch so deutlich, weil es in seinem Zimmer keine Bücherregale gab, sondern er hatte alle Bände, ich glaube wirklich: alle siebzig, in Schubladen gestapelt, aus denen er sie wie Schätze nahm. An mich, abermals meiner Erinnerung nach, ich muß neun oder zehn gewesen sein, gingen diese Bücher aber nicht. Ich las vor allem Afrika-Romane in dieser Zeit, die mir außer der Tarzanserie, zu der ich schon älter war, sämtlich verloren gingen; aber einen Titel weiß ich noch: „Urwaldtrommeln rufen“. Ich habe ihn, vor dreieinhalb Jahren, >>>> schon einmal erwähnt.
Das gehört zwar hier noch gar nicht hin, muß aber wenigstens erwähnt sein, weil es zeigt, auf welch eigenartig verschobene Weisen es zu Lektüren kommen kann. Mein zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder las Karl May, glaube ich, zuerst, und zwar die Wildwest-Romane, die mich kaum ergriffen. Old Shatterhand und Winnetou fand ich klebrig – anders in den Verfilmungen, aber nur, weil ich mich so über beide Ohren in Marie Versinis Ntscho-tschi verliebte, daß ich mir tatsächlich alle Bravo-Nummern besorgte, aus denen man sich als sogenannten Starschnitt diese junge Frau lebensgroß zusammensetzen konnte.
Nach Ntscho-tschis Tod waren mir, wahrscheinlich aus diesem moralischen Grund, Mays Wildwest-Romane sämtlichst eklig geworden. Anders ging es mir mit den „abseitigen“ Bücher wie dem in Mexico handelnden „Trapper Geierschnabel“,
Wirklich ergriffen haben mich aber die Orient-Romane. Auch hierbei spielte vielleicht Lex Barker eine Rolle, der ja auch den Kara ben Nemsi, Karl Deutschensohn, gab. In diese Bücher fiel ich geradezu hinein, schon, weil mich die herben Landschaften packten, denen die herben Charactere entsprachen – deutlich ein Gegenbild zu mir selbst, der ich waschlappenweich war -, während mich Mays permanente Christentümelei allerdings nervte. Besonders packte mich der Stolz der in diesen Büchern geschilderten Figuren, unter denen mir Halef Omar immer als eine in ihrer billigen Komik sentimentale Brücke erschien, die May zwischen die Temperamente des Orients und Okzidents spannte, um jenes Härten wegzuschleimen. Was ihn selbst, den Orient, angeht, so glaube ich aber, Mays Schilderungen haben mein Bild des sich von Nordafrika über den ganzen Sinai und Afghanistan bis nach Nordindien erstreckenden pan-arabischen Raumes unumkehrbar geprägt – nämlich ohne die Aufweicherei. Wahrscheinlich habe ich deshalb in einer ausgedehnten Stelle eines >>>> viereinhalb Jahrzehnte später entstandenen Hörstücks den vergessenen Dichter Carl Johannes Verbeen, in seinem berühmten Schatten-Roman von 1953, zweieinhalb Minuten eines Kapitels aus Lawrence von Arabiens Sieben Säulen der Weisheit so eng mit einer dreiviertel Minute Durch die Wüste verschneiden lassen, daß selbst der Kenner die Originale nicht mehr auseinanderhalten kann.
Aber noch aus einem anderen Grund war Karl May entscheidend für mich. Nicht nur fand ich ihn in Ernst Bloch und Arno Schmidt bestätigt, sondern er ist wahrscheinlich der erste, in all seiner Banalität, Mythogene, mit dem ich je Kontakt bekam. >>>> Syberbergs Film hat mir das später klargemacht. Es war Karl May vergönnt, Gestalten zu erschaffen, die ganz unabhängig davon, ob man je die Bücher gelesen, der Welt sich ein für alle Male eingeschrieben haben. Jeder, wirklich jeder Mensch unsres Kulturraums, welchen Geschlechts auch und wie immer gebildet oder ungebildet er sei oder sie, trägt sie als Ideen in sich und hat, wenn wir von ihnen sprechen, sofort ein Gesicht. Ich werde in den kommenden Tagen noch an weitere solcher Figuren erinnern, die man Personen nennen muß, versteht man Wirklichkeit als das, was wirkt. Es sind literarischste, um >>>> Freud zu travestieren, IchPerson-Ideale.
Kolma Puschi Bei uns war es gerade umgekehrt. Wir hatten die Wildwest-Romane Karl Mays, lange bevor wir die Filme sahen. Die maßen wir schon an unserer Vorstellung von „Werktreue“; vor allem waren wir enttäuscht darüber wie wenig der Llano Estacado vorkam. Die Wüste New Mexicos faszinierte uns: die tagelangen Ritte, Hunger und Durst, das Regenwunder durch das Anzünden der Kakteen und die Räuberbanden, die sich hier versteckten.
Ich schreibe: „Wir“, denn ich hatte keine eigenen Bücher, sowenig wie ein eigenes Zimmer. Mein Bruder und ich teilten miteinander nicht nur die Gegenstände, sondern auch das Erleben, oft las ich ihm vor. Über die Trilogie „Old Surehand“ stritten wir uns. Er fand sie recht langweilig. Mir war es eine Offenbarung. Er hatte wohl recht, was Handlung und auch Figurengestaltung anging. Doch meinen Träumen gaben diese Abenteuer Gestalt: Kolma Puschi, die Frau, die als ein Mann in der Wüste lebt auf der Suche nach ihren Söhnen. Abenteuer-Geschichten habe ich als Kind viel mehr geliebt als die typischen Mädchenbücher („Trotzkopf“), in denen sich alles darum dreht, den richtigen Mann zu finden. Unterwegs sein, forschen, kämpfen, unabhängig sein – so stellte ich mir auch mein eigenes fiktives Alter Ego vor. Dennoch wollte ich nie ein Mann s e i n. Hier war die Lösung: Eine Verkleidung.
http://karlmay.agerth.de/wiki/index.php/Kolma_Puschi
Nach der Lektüre des „Old Surehand“ malte und schrieb ich eine aufwändige Bilder-Serie, die an Ivanhoe angelehnt war: ein weißer Ritter, unter dessen schimmernder Rüstung sich eine blond bezopfte Frau verbirgt. (Diese Bildergeschichte ist leider verloren gegangen. Vor Jahren wäre sie mir sicher peinlich gewesen. Heute könnte ich mit Nachsicht und Rührung auf das Mädchen schauen, das sie unbeholfen schrieb und zeichnete).
„Durch die Wüste“ dagegen hörten mein Bruder und ich zuerst als Hörspiel auf den Europa-Schallplatten. Die 6 Bände las ich viel später erst; nämlich kurz nachdem ich mich mit 19 verliebt hatte und mit dem Mann, mit dem ich inzwischen zwei Söhne habe, zum ersten Mal in sein Elternhaus fuhr. Da standen sie in seinem Jugendzimmer und ich begann an diesem Wochenende mit dem ersten Band. Die weiteren brachte er mir dann nach und nach an unseren Studienort von seinen Besuchen zuhause mit. Heute noch stehen sie – neben „meinen“ „Winnetou“ und „Old Surehand“-Bänden (der Bruder, dem sie nie ganz so viel bedeuteten, hat keinen Anspruch darauf erhoben) bei uns im Regal.
Unsere Söhne – leider – haben sich nie so für Karl May begeistern können. Nur der Ältere las wenigstens teilweise die Wüsten-Bänden.
Kammei‘ Dieses Titelbild ist auch auf meinem „Wüsten“-Band! Wir hatten dieselben Ausgaben, diese kleineren, eleganteren, grau-dunkelgrünlichen Hardcoverausgabe (nicht die etwas größere hellgrüne). Merkwürdigerweise fing ich aber nicht am Anfang an bei dieser 6-bändigen „Reiseerzählung“, sondern bei Band 4: „Durch die Schluchten des Balkan.“ Und der allererste Band, den ich überhaupt je besaß, war (wohl) hoch in den 30-ern: „Der Ölprinz“.
Doch so merkwürdig war das nun auch nicht, denn ich bekam beide geschenkt. Von meinem Vater. Der las sie uns auch vor, manchmal, stellenweise, im Urlaub. Das war etwas Besonderes, denn das passierte nicht allzu oft. Und so wurden diese Bücher etwas Besonderes, diese Bücher von diesem Autor, von dem mein Vater raunte: Kammei! Mit Betonung auf der letzten Silbe, Kammai‘ , so hatte ich verstanden, was für ein merkwürdiger Name.
Und meinem Vater war es anscheinend eine Freude, die entfachte Begeisterung durch Zukäufe wach zu halten über Jahre. Noch heute besitze ich alle 72 Bände dieser Ausgabe. Heute würde ich allerdings formulieren, es war meinem Vater s c h e i n b a r eine Freude zuzukaufen, in Wahrheit war es vermutlich Hilflosigkeit, er hätte kaum gewusst, was sonst. Denn anders als man es hier über Sie und Ihren Sohn, lieber Herr Herbst, lesen kann, fehlte meinem Vater das Fingerspitzengefühl, das Einfühlungsvermögen.
Aber egal, die Abenteuer von Kara Ben Nemsi waren der Anfang einer großen Freundschaft, wie Dick Stone, Tante Droll und Old Firehand, im „Wilden Westen“ (und neben den Haupthelden). Wie bei vermutlich den meisten anderen Jungen in Deutschland auch. Und selbstverständlich könnten Sie mich noch heute nachts wecken und ich nenne Ihnen den vollen Namen von Halef. Mal eins, zwei Gegenfragen: Wie heißt das Pferd von Kara Ben Nemsi? Wie ist der sprechende Name des Fiesen, der Intschutschuna (oder so ähnlich) erschoss?
Keineswegs habe ich alle Bände geschafft, aber doch viele. Mit den Jahren las ich dann auch über Karl May selbst („Ich“, oder Band 24: „Weihnacht“), las vom Stillen Ozean, von den Kordilleren, von Professor Witzeliputzeli (?) und dem alten Dessauer. Das Größte aber wurden die 4 Greifenklau-Bände, diese Saga über die ewige Feindschaft zwischen dem bösen französischen Gardeoffizier Richmonte und Hugo von Greifenklau, und dann über Generationen auch gegen dessen Sohn und später sogar den Enkel Richard. Blücher, Napoleon, Ulanenoffiziere, Ziethen-Husaren. „Der Weg nach Waterloo“, „Das Geheimnis des Marabu“, „Der Spion von Ortry“ und „Die Herren von Greifenklau – großes Kino! Habe 100 Jahre nicht mehr daran gedacht. Nicht zu fassen!
Aber geprägt?? War das Edle in Winnetou Vorbild? Dass der Indianer nicht viel Worte machte? War die Haltung und die Friedensliebe von Old Shatterhand Richtschnur? Um es offen zu sagen, ich weiß es nicht. Ich erinnere es nicht. Es ist mir jedenfalls nicht bewusst. Die Bücher, die Figuren sind ganz selbstverständlicher Teil meiner Kindheit, Teil meiner Erinnerungen. Ein Teil von mir. Ist das Prägung?
An die Welt des Orients erinnere ich mich auch gut. Das Einschleichen nach Mekka, um um die Kaaba zu laufen, Heiliges Wasser aus dem Brunnen Sem Sem, die Teufelsanbeter, Derwische, Sunniten gegen Schiiten, beide gegen Türken, alle gegen die Araber, und all die anderen Glaubenszweige, die da so abgehandelt waren. Die Verwirrtheit der Verhältnisse, die Uneinigkeit der Moslems – davon habe ich dort zum ersten Mal gelesen. Bei Kammei‘ .
Beste Grüße
NO
Lieber Dr. No, wenn etwas wirkt, ohne daß wir uns zumindest gleich dessen bewußt sind, dann ist es einer Prägung Wirkung. Etwas markig gesagt, aber dafür haben sie mir jetzt Kammei in den Kopf gesetzt, werd ich sicher auch nicht mehr los. Das Pferd hieß, naheliegenderweise mochte ich den Namen nicht, Hatatlitla – wie wenn jemand beim Führergrüßen niest; gegrüßt wird aber eben doch. Karl Deutschensohns Pferd trug dagegen den Namen Rih. Aber als Bösewicht fällt mir nur der zu Ntscho-tschis Tod von Winnetou auf dem Umweg über seinen Autor gedungene Santer ein. Die anderen Westerns Kammeis habe ich aus den erzählten Gründen nicht mehr gelesen.
Meine Prägung bezieht sich als eine, von der ich unterdessen weiß, auf das Orientbild.