Ritalin & Askese. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 5. Juni 2012.

10 Uhr:
[Arbeitsjournal.]
Es klappt momentan überhaupt nicht, früh aufzustehen; wie denn auch, wenn ich immer erst gegen zwei Uhr ins Bett gehe? Zweieinhalb Stunden Schlaf sind definitiv zu wenig; nach meinen üblichen viereinhalb ist es dann halb sieben; heute kam ich überhaupt erst um sieben raus. Mich ärgert das, denn es ist eine Form der Dekonzentration, was mich nachts nicht etwa lesen läßt, sondern Filme gucken; es hat auch was Suchthaftes, das völlig unnötig ist. Nun gut, bis eins saß ich mit Broßmann und dem Profi, die beide erst statt, wie vereinbart, um 23 Uhr um 23.30 Uhr aufkreuzten; „nur mal einen Absacker“ funktioniert dann nicht. Und aufgekratzt war ich, als ich um eins zurück in die Wohnung kam. Vielleicht brauche ich d o c h >>>> Ritalin, aber bin andererseits zu stolz, um etwas anderes als den eigenen Willen auf mich Einfluß nehmen zu lassen; selbst Schmerzmittel, wenn sie mal sein müßten wie nach dem Zahnarzt, meide ich. Das hat etwas durchaus Ideologisches: auch nicht dem eigenen Schmerz sich zu beugen. Wäre ich weniger weltlich, was dankenswerterweise die Göttinnen, leibliche und imaginäre, verhindert haben, ich könnte den Asketen schon einiges nachempfinden, die sich durchbohren und allein durch ihren Willen den Schmerz auszuschalten verstehen. Mich treibt eine komische Art von über den Rand getretener Selbstbestimmungswut.
Also um Viertel nach sieben an Argo gesessen und tatsächlich zehn Seiten geschafft. Wozu ich sagen muß, daß der Text sich seit fünfzig Seiten auffällig, fast plothaft geworden, linerarisiert hat. Ich bin mir noch unsicher, ob das seinerzeit an einer Konzeptionsschwäche lag oder schlichtweg daran, daß es auf eine Coda zugeht. Jedenfalls fließt er ohne die für mich typischen Brüche; nur hier und da füge ich Perspektivenwechsel ein oder schiebe die Ebenen eng. Dafür kommt mir momentan eines der Leitmotive zu kurz: ich werde es in der nächsten Überarbeitung hier und da dazuflechten müssen, damit die Lese-Erinnerung nicht flöten geht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es noch zu früh; erst muß stilistisch alles sitzen; evtl. ist auch noch einmal ein Konstruktionsplan herzustellen.
Gut. Beiseitegelegt für heute. TS 651. Jetzt geht es mit der Neuen fröhlichen Wissenschaft weiter, die ganz eigene Probleme hat, solche, die aus der Differenz von Netz- und Buch-Ästhetik resultieren, aber nicht nur: sondern einige Gedanken sind schärfer zu fassen, provokanter, auch gegen mein eigenes (gefühltes) Meinen. Aber die Hauptarbeit wird, wie ich gestern schon schrieb, darin bestehen, eine Ordnung zu finden, sprich: eine Dramaturgie. Die Texte sollen nicht zufällig wirken, das Buch nicht wie ein Patchwork, sondern die einzelnen Nummern, es dürften Hunderte sein, auch in ihren Widersprüchen stringent.

Für den Szuka-Preis ist alles so weit fertig, ich muß nur noch die Sendung verpacken und abschicken. Dabei ist mein „Es ist noch nicht vorbei“ offenbar erst mal auf der Strecke geblieben; ich kann mich nicht zerschneiden, die Zeit ist für uns alle eine begrenzte, auch wenn wir noch so viel tun. Daß mich das ärgert, muß ich nicht sagen; besonders ärgert mich aber, wie viele Zeit ich sinnlos vertue, abends vor allem, wenn meine Konzentration rapide zurückgeht, meistens nach 20 Uhr. Als legte wer einen Schalter in mir um. Andererseits, gestern nacht, hab ich doch tatsächlich parallel zu dem Krimi noch Miszellen der Neuen fröhlichen Wissenschaft simultanbearbeitet und wirklich auch noch was hingekriegt, wie ich eben sah, als ich die Datei geöffnet habe. So. Nicht schwätzen, sondern arbeiten. Außerdem bin ich extrem untersext. Dem Freund, der permanent jagt und erlegt, was indessen sein Wild sehr beglückt, sagte ich: „Ich wüßte gar nicht, wie ich das momentan auch noch unterkriegen könnte.“ Klar, ich könnte vögeln, statt Filme zu gucken. Aber dazu müßte ich erstmal in den Wald, um die Fährten zu finden. Oder beruhige ich mich – nach Jahren nunmehr d o c h? Mir würde das vor allem, interessanter- wie ulkigerweise, t h e o r e t i s c h mißfallen.

11.10 Uhr:
Selbst offenbar wirklich Interessierte schreiben über Literatur im Netz >>>> nur sehr dürftig.

11 thoughts on “Ritalin & Askese. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 5. Juni 2012.

  1. Aber dazu müßte ich erstmal in den Wald, um die Fährten zu finden. Oder beruhige ich mich – nach Jahren nunmehr d o c h? Mir würde das vor allem, interessanter- wie ulkigerweise, t h e o r e t i s c h mißfallen.
    Irgendwann mißfällt es nicht einmal mehr theoretisch. Eine solche Entwicklung kenne ich allerdings sehr gut.

    1. Oh, ich werde mich. Sowie ich – auflachend – Zeit dazu finde, gegen die Entwicklung s t e m m e n. Wenn es denn eine ist. Soll niemand jemals sagen, der Herbst sei “ruhig “geworden.

  2. Ich traue mich zu behaupten, dass ich meine, einige zu kennen, denen ihre Arbeit wichtiger ist als Sex, dazu steht eine Gesellschaft im Widerspruch, die auf allen Kanälen funkt, dass es um nichts anderes gehe, vielleicht muss man sich da fragen, was ist die Ablenkung, was ist der Trick? Wäre ich Mann würde mich wahrscheinlich auch ein Rollenbild nerven, was mir den Immerwoller und Könner verschreibt, würde ich wahrscheinlich aus Prinzip lieber arbeiten. Glücklicherweise bin ich eine Frau, ich muss nicht immer wollen, ich muss nicht immer können, aber wenn ich immer will, darf ich, ob sich Zeit meines Lebens dazu auch die Objekte meiner Begierde hinzugesellen, darüber denk ich lieber nicht so viel nach und hoffe einfach mal, dass ich klug genug wähle, um mich nicht zu enttäuschen:).

    1. @Diadorim Aus Prinzip lieber arbeiten? *Dann* würde man allerdings das Rollenbild – *wenn* es denn so existierte – als negatives Abziehbildchen *weiterhin* reproduzieren, oder? Besonders souverän erscheint mir das nicht.

      Ich persönlich kann’s eh nicht trennen: läuft die Libido gierig die Wände hoch, ist es mit der Arbeit nicht mehr weit her (außer mit derjenigen, die noch als Sublimation – d.h.: perverser Lustgewinn – dienen kann). Bleibt die Arbeit auf der Strecke, weil ich dem Hang zur Maßlosigkeit in *allem* zu lange fröne, werde ich unzufrieden und die Begierde ermattet zunehmend. Kurzum: kein produktiver Fokus ohne erotische Stimulation, keine substanzielle(!) Stimulation ohne Produktivität.

    2. Souverän war ich ja nun mal leider noch nie und werd es wohl auch nicht mehr. Meine Libido braucht Raum und Zeit, vielleicht mag ich die auch nicht irgendwo dazwischenpuzzlen und denke, das tut ihr aber jetzt zu kurz, wenn die um meine oder irgendwessen Arbeit drumgepuzzelt wird. Vermutlich ist meine Libido despotisch veranlagt und verlangt: sag alles ab, danach noch wen zur Arbeit aufbrechen sehen, ein Affront. Ich begreife ja leider bis heute nicht so ganz, warum ein ewiges Zelten in einem ewigen Sommer am Baggersee vorbei sein soll, und unterstelle, dass man sich davor schon früher vor mir zum Skateboardrampenbauen oder in irgendwelche, schreckliche Musik verbrechende Punkbands geflüchtete hat, nur um nicht immer nur mit mir Sex zu haben, fand ich eigentlich blöd, schließlich hatte man das da gerade erst entdeckt, und skaten konnte man doch schon ne Weile. Da bekam ich schon eine Ahnung davon, dass Männer noch höhere Ziele haben, und alles nur Schmu ist, von wegen, die wollten immer nur Sex. Die wollen Karriere machen oder irgendwas vorstellen im Leben, oder zum Sport, und dann hat man den Salat und denkt, so eine Verarsche, von wegen, es dreht sich alles nur darum. (O-Ton eines Autors, den ich sehr verehre: wer mit mir zusammen ist, muss wissen, dass mir die Arbeit das Wichtigste ist, da dachte ich ok, stell ich mein Schwärmen mal besser ein, es fielen weder die Worte Sommer, noch Baggersee, noch Sex, schlechtes Zeichen:)

  3. Die Wahl der Mittel Aber selbst wenn man sich der als solche deklarierten Medikation enthält: es bleiben mindestens Tabak, Alkohol, Kaffee, Lebensmittel(!), köperliche Aktivität (vom zappelnden Bein über Sport bis Sex) etc., die *allesamt* teils massive Manipulationen unseres Stoffwechsels inklusive Neurotransmitter sind, dazu allerlei sonstige sinnliche und geistige Stimulation. Von «nur dem eigenen Willen» kann also kaum die Rede sein, es sind – selbst für strikte Asketen unausweichlich, denn essen und trinken müssen auch diese – *immer* externe Mittel im Spiel, mit denen man sich reguliert.

    1. Dieses Rollenbild des Mannes, der immer will und immer kann, habe ich bereits in jungen Jahren als Klischee entlarvt mittels einfacher Beobachtung meiner Umwelt. Mit Prinzipien hat das alles nix zu tun, der freie Wille weht, wo er will, wann er will und eben nicht, wenn er nicht will. Alles hat eben seine Zeit, nur die Wurst hat zwei.

    2. Wahllosigkeit im Zugriff verrät den triebstarken Mann. Geschmäcklerisches Aussuchen und Raffinesse eher schwach.
      Honoré de Balzac!

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