Die Pornographie und die Liebe zum Leben ODER Wie man sich aussetzt: Tribut an die Körper nicht nur allein. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 27. September 2012. Und fassungslos, einfach fassungslos zur Nacht.

5.10 Uhr:
[Arbeitswohnung. Der Klang rauschenden Regens durchs Oberfenster.]

Mal wieder getrieben. Deftig. Also erst um halb zwei ins Bett, um zehn vor fünf, immerhin, auf. Mir träumte, mein Junge sei hier, müsse zur Schule, ich dürfe auf keinen Fall verschlafen. Welch nette Kapriolen uns unser Unbewußtes ins Halbwache schickt, worin ich das weiterhin annahm, so daß ich nicht nur erwachte, sondern auch wirklich aufstand. Erst als ich dastand, erst als ich grad mal ein T-Shirt übergezogen hatte und auf den leeren Bodenraum des Vulkanlagers sah, begriff ich den Trick. Lachte, stimmlos, für mich, suchte nach der Boxershorts, lag unterm Stuhl, zog sie über die noch immer währende, sehr fleischliche, dünkt‘ mich, Erregung. In die Küche, die Pavoni anschalten, morgens ist es bereits so kühl, daß ich wieder meine absurden Leggins trage, die, wie ich anderswo erzählte, sozusagen väterlichen, also vom Vater übernommenen, dann noch den dicken Pullover drüber und drüber Sherlock Holmes‘ Hausmantel, und den palästinensischen Schal, aus Ostjerusalem, um den Hals. Und die Computer eingeschaltet. Da stand noch der Porno, der letzte von nachts, voll auf dem Bild. Was zu neuer Verzögerung führte: so etwas macht süchtig, wenn man drauf ist.
Ist die Löwin auch. Das hat etwas Beruhigendes, auch wenn Wien-Berlin, nun ja, fast so schnell erfüllend ist wie Berlin-Paris. Doch Entfernungs-Obsessionen haben den Vorteil, daß sie erotisch sehr lange halten: dauernde Nähe zerstört den Reiz: Das ist ein Gesetz. A u c h ein Geheimnis, das wir als junge Menschen nicht verstehen (drum lest nur mit, ihr jungen Leute!), nicht verstehen k ö n n e n und deshalb abwehren müssen: der getrennten Schlafzimmer. Was an den Pornos wirkt, ist die Fremdheit. Distanz, Ferne. Im Verhältnis zur Nähe und zur – sexuell extrem wichtig, nicht aber so für die Liebe – Übertretung. Zehnmal dasselbe Modell nacheinander, und die Erregung geht flöten, egal, was die Mädels und Jungs da so treiben in ihren Filmchen. Muß deshalb ein anstrengender Beruf sein. Ich hab ja immer mal mit dem Gedanken gespielt, bei so etwas mitzumachen, aber, sehr wahrscheinlich aus innerer Klugheit, mich letztlich nie dazu durchringen können. Außerdem hat man dann dauernd eine Kamera zwischen den Beinen. Dazu die Hitze durch die Beleuchtung. Regieanweisungen. Immer wieder ein Skriptgirl oder der Gaffer. Und was, wenn man nicht „kann“, wenn man gebucht ist? Frauen haben da einen entschiedenen Vorteil, andererseits: wenn sie nur spielen, wie fern muß ihnen alles rücken, und auch wie angewidert würden sie sein, wenigstens nach einiger Zeit. Dazu die erregungslähmende Normalisierung. Schaut man die Filme aber im Netz einmal durch, sind es Tausende, wenn nicht Hunderttausende Frauen und, notwendigerweise, Männer, die dabeisind, je dabei gewesen (die „alten“ Filme, solche von vor den Siebzigern, erkennt man sofort am Schamhaar, das es in ihnen noch gibt).
Was ich dabei genieße? So ziemlich, was ich meist auch im Realen genieße: den Zustand der Dauererregung. Der macht nun aber doppelt süchtig; man könnte die Angelegenheit ja immer relativ schnell zuende bringen, so wie mein Stiefvater, der seiner Frau einmal, auf ihr gewiß sehr nüchternes, so war sie, Nachfragen, erklärte, weshalb er von Zeit zu Zeit ins Bordell ging: „Dann bin ich es immer schnell los, und vergleichsweise“, er meinte den Stundensatz, den er als freier, und höchst begehrter, Wirtschaftsanwalt einstrich, „billig.“ Möglicherweise hat er auch Wege gewußt, seine Triebabfuhr steuerlich gegenzurechnen. Das kommt auf seine Mandantschaft an. Hübscher Gedanke. Jedenfalls war er hochpragmatisch, der Geist war über den Körper gewölbt (er las Belletristik, wenn überhaupt, so gut wie nur auf Latein), dem er, dem Körper, nachgab: nicht grollend oder knirschend, sondern so, wie man aufs Klo geht: ist halt zu erledigen und, kurz, ein Idiot, wer sich drüber aufregt. Welch Gegenentwurf zu meiner Getriebenheit, die ich ja will. Welch Gegenantwurf aber auch zu der Verklärung, mit der der Kreis um Breton seine Pariser Prostituierten – ja: besang
Darum steh ich zu der meinen. Wie zu den Spielen, die ich spiele. Was den Surrealisten die Prostituierten, ist mir, poetisch, die Pornographie. Die Realität ist noch mal etwas anderes. Doch eines der ersten Gedichte, die ich überhaupt schrieb, ich mag siebzehn oder achtzehn gewesen sein, war >>>> Claudine Beccarie gewidmet und trug ihren Namen sogar im Titel.

Dennoch, gearbeitet habe ich gestern nach Abendanbruch eigentlich nicht mehr. Dabei war ich gut in Fahrt, kam mit Argo weit voran, diskutierte >>>> bei TT mit, war kurz sauer, nahm, in einer sehr feinen Ausgabenreihe, einen neuen Gedichtband in den Blick, las vor allem Ulrich Horstmanns, des einige Zeit lang nur noch posthum schreibenden Philosophen – er dürfte der einzige Mensch sein, dem sowas zur Lebzeit gelang – >>>> Untier

(doch lese ich gerade, daß ihn hat Gießen in unser Leben wieder zurückgeholt), und dann erreichte mich ein Brief >>>> Heinz Winbecks, dem ich meinerseits, vorgestern, einen Brief geschrieben hatte. Selbstverständlich werde er mir seine Musiken kopieren und zur Verfügung stellen, in solch bescheidenem Ton, dieser klanglich derart expressive Mann:Es ist immer wieder schön auch für einen die Öffentlichkeit und das Rampenlicht scheuenden Komponisten, wenn er von Zeit zu Zeit Anfragen von Menschen bekommt, die sich für seine Musik zu interessieren scheinen.Er fragt nach meinen Hörstücken, ich werde ihm, ist dieses Arbeitsjournal fertig, gleich antworten.
Gut auch die Diskussion unter dem >>>> vierzigsten Giacomo Joyce.

Also. Eigentlich „nur“ Argo heute, von dem kleinen einundvierzigsten Giacomo einmal abgesehen. Und abends eine Lesung aus dem bei den >>>> Kulturmaschinen neu erschienenen Buch: um 19 Uhr >>>> im Karl-Liebknecht-Haus. Da bin ich noch nie gewesen. Broßmann kommt mit, sagte er gestern am Telefon, als ich bei meiner entzückenden Vietnamesin aß, 4.90 Euro für ein Mahl, das nicht nur den Geschmacksnerven schmeichelt. Die Augen begeistert es auch. (Hostmanns messerscharfe, negativistische Sätze dazu, denen sich, wer sich ihrer erwehren will, aussetzen muß: nur dann hat die Lebenslust Wert. Dann darf sie auch meine Gier sein, wenn sie zugleich den Pessimismus mitdenkt.)

6.52 Uhr:
Auch hübsch: eine Nonne in High Heels. Läuft mir grade durchs Bild. Heute, insofern, mal keine Musik zur Arbeitsbegleitung, sondern die nächsten Pornos. Es fragt sich allerdings, ob mich das nicht doch zu sehr ablenken wird. Jetzt hockt sie sich auch noch hin und pinkelt, in einem Berliner Park, Parkstück, Prenzlauer Berg, hier gleich um die Ecke. Vor einer Kirche. Die alten Tabus, als zu brechende, funktionieren noch immer, selbst wenn wir gar nicht mehr gläubig sind. Eine alte Fantasie von mir, tatsächlich noch nie umgesetzt: eine Fellatio, während oben auf der Empore die Orgel mächtig spielt. Das Leben in einem Schöpferhaus feiern. Pulsend, pumpend die Energie.

11.06 Uhr:
Das läßt sich wohl sagen, daß >>>> der heutige Giacomo Joyce ausgesprochen genau auf das Eingangsthema dieses Arbeitsjournales paßt. Es gibt einfach keine Zufälle. Wobei dieses auf etwas Passen im Fall dieser Joyce-Notizen auch wieder nicht s e h r verwunderlich ist. – Massive Szene in Argo, unter komplettem Pornoeinfluß überarbeitet. Dabei geht es da gar nicht um Sexualität oder auch „bloß“ um Liebe, sondern eigentlich ist es eine Sterbeszene, eine Art Ertrinken. Dennoch meine ich, von der lüsternen, wollenden Energie etwas in dieses Ding hinübergebracht zu haben. Bin gespannt, wie es sich liest, wenn ich nachher kontrolliere.

18.35 Uhr:
Bis jetzt an Argo gesessen, zwischendurch ene Glühlampe besorgen müssen, dann war mein Junge hier für sein Cello, dann hab ich einen Brief als Antwort auf Winbecks Antwort auf meinen geschrieben. Zur Post war ich auch noch.
Nicht so weit gekommen, unterm Strich, wie ich wollte. Das heutige Dauer-Porno-Experiment kann ich insofern nicht als gelungen betrachten. Morgen also wieder Musik. Sò, ich muß zur Lesung los. (Worüber ich mich zwischendurch noch geärgert habe, schreibe ich Ihnen heute nicht.)

Broßmann dürfte gleich klingeln, und auch der Profi, sagte er, werde vielleicht zur Lesung kommen. Es gab ein Mißverständnis, Leser:innen: Ich selber les da nicht, sondern höre lediglich zu.

23.46 Uhr:
Ich bin grad – fassungslos. Sowohl Peter H. Gogolin als auch der Profi raten mir, bitte nichts in Der Dschungel darüber zu schreiben. Sondern erst mal, persönlich, zu sprechen. Ich weiß nicht, worüber. Und wozu. Um welchen Sinnes wegen. Aber ich halte mich erst mal daran.

10 thoughts on “Die Pornographie und die Liebe zum Leben ODER Wie man sich aussetzt: Tribut an die Körper nicht nur allein. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 27. September 2012. Und fassungslos, einfach fassungslos zur Nacht.

  1. Horstmann, Larkin, Lieben, Leben, Pornographieren Horstmann, ja, ja, unbedingt. Lohnt der Lektüre. In Gießen ist er doch, der Mar-Burger, schon lange und immer noch. Larkin hat er übersetzt, good old Phil from Hull. Der nun wiederum Heftchen sammelte. Siebziger Jahre, man erkennt das sofort. Ganz klar. Larkins Obsessionen. Auch aus seinem Briefwechsel ersichtlich. Man selbst guckt auch gern Por-No. Oft auch ein und dieselben. Vorleiben eben, Präferenzen. Wobei Abwechslung gut ist, Abstumpfung vorbeugt. Blasmusik und Faciales. Heißt das so? Prima facia. Vom Blatt lesen. Blattspiel. Spiel. Mit dem Stiel. Mit Stil. Sie hat das drauf.

    1. @P.Redvoort zur Pornografie. Ich sah es >>>> auf Ihrer Site, habe da aber nicht weiter nachgeschaut, weil ich nicht an das glaube, was der Titel Ihres Gedichtbandes nahelegt: „Pornos machen einsam“. Das machen sie, glaube ich, nur dann, wenn man(n) auf Pornos ausschließlich angewiesen ist. Tatsächlich meine ich, daß insbesondere pornografische Filme die Leben jedes Mannes, na ja: fast jedes, begleiten, ob die Frauen ihn nun lieben und verwöhnen oder nicht. Übrigens ist das bei Frauen ähnlich; allerdings sind sie deutlich wählerischer, jedenfalls die, mit denen ich sprach. Tatsächlich sprach ich irgendwann mit allen „meinen“ Frauen darüber, geh ja mit meiner Sexualität ohne Heimlichkeit um.
      Wenn Sie mir den Gedichtband trotz meines Einwandes schicken, sehe ich ihn mir gern an und schreibe ggbf. auch über ihn. Allerdings lege ich bei Gedichten beinahe noch härtere Kriterien an als bei Prosa, sehe i m m e r erst auf Form und Sprache. Inhalte sind für mich erst dann von Interesse, wenn die Poetik stimmt. Da ist mein Verhalten deutlich anders als gegenüber Pornos – „typisch männlich“, glaube ich. Was keine Selbstkritik, sondern einfach Feststellung ist.

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