Tiefherbst. Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 7. November 2012. Klammsturm nach Glöcklers Lesung. Und nachmittags wieder: Das angebliche Ende der Literatur durch das Netz.

4.44 Uhr:
[Arbeitswohnung. Henry Cowell, 7th Synphony.]
Diese Musik im Nachgang >>>> zu gestern abend. Nur wenige Leute waren dort, was wie immer etwas schmerzhaft, eigentlich aber zu erwarten war, wenn Real Madrid gegen Dortmund oder Düsseldorf oder Bochum, ich weiß nicht, spielte, weil doch bekanntlich 70 % aller Leser:innen Frauen sind, von denen man die Begeisterung kennt, mit der sie lieber hinterm Fernseher für die Sportschau sitzen – na, egal, nein, nicht egal, denn tatsächlich ist >>>> Ralph Roger Glöckler in Deutschland weniger bekannt als in Portugal, weniger sogar als in den USA, und >>>> Charles Ives wiederum, tja, wer soll den schon kennen, da man den Kopf schon voll genug hat mit, um den Mittitel des Romans zu travestieren, Musikern des vierten Grades..? Aber, wie wir nachher, unten, im Literaturcafé feststellten, hatten auch wir einen Fehler gemacht; ein Hinweis, etwa, in der >>>> „Siegessäule“ hätte ein proppevolles Auditorium beschert – einer Erfahrung zufolge, die Ernest Wichner, Lyriker, Übersetzer und Chef des Hauses, in lesbischem Zusammenhang gemacht. Andererseits wäre dann der Akzent ein anderer gewesen; anders aber auch, als Glöckler vorgehabt, schob ich für den Abend die Musik in den Hintergrund und fokussierte vor allem auf seine Poetik; es hat sich ein weiteres Mal bewährt, die Moderation mitten in die Lesung mit hineinzulegen, direkt Fragen zu Textstellen und materialen wie auch persönlichen Hintergründen zu stellen, und zwar dies alles in offener, einer mit Fontane gesprochen causierenden Gesprächsform, dabei durchaus führend, wenn der Autor, begeistert in seinem Thema, zu dozieren begann oder in Gefahr geriet, das zu tun. Eh wir uns versahen, waren knappe anderthalb Stunden, am Stück, vorüber, doch das Publikum hätte immer noch weiterhören können und wollen, mögen sowieso – aber da zog ich mit einer Textstelle aus dem Roman, worin die Tür zugezogen wird, die Tür zu und bat um drei Minuten Schweigen und Aufmerksamkeit für die nunmehr aus dem Hintergrund eingespielte Musik. Obwohl also wirklich nur wenige Leute da waren, um die zehn, war das dann ein insgesamt sehr schöner, vor allem: sehr freier und persönlicher Abend, der nicht nur das Gemälde einer Zeit betrachten ließ, die so lange noch gar nicht vorüber, sondern eben auch zeigte, wie ein Dichter sich in persönlichen Bezug zu seinem Thema setzt, oder sich dieses zu ihm. – Ich denke, daß man diese Art Lesung ausbauen sollte; was „es“ dann allerdings wirklich braucht, ist jeweils ein Gesprächspartner, der seinerseits die Poetik des Autors/der Autorin versteht, aber eben auch einiges vom Gegenstand der jeweiligen Bücher und der die poetische Bearbeitung einzuschätzen, das einem Publikum aber auch mitzuvermitteln weiß, – kurz: es braucht jemanden, die oder der mit Liebe kundig, zugleich eloquent, aber bescheiden genug ist, den Spot nicht auf sich selbst, sondern eben auf die Gesprächspartner:innen zu richten.
Im Café, nachher, trank ich mein alkoholfreies Weizen, schaute immer mal wieder durch die nachtdunklen Scheiben hinaus in diesen Tiefherbst und dachte an die Heimradelei durch den Regen, die dann aber sogar sehr schön war, zumal ausnahmsweise nicht das Licht am Fahrrad ausfiel wie sonst immer, wenn es draußen naß ist. Jedenfalls ist die Prosa Ralph Roger Glöcklers nach Peter H. Gogolins die zweite Romandichtung in kurzer Zeit, die mich wirklich beeindruckt – Nähe durch, kann man sagen, Ferne. Privat sprachen wir über meine Art Homophobie, auf die ich >>>> dort schon, Leserin, eingegangen war, sprachen über dieses Problem, daß man als Stockhetero genau deshalb im Kunstbetrieb mitgeblockt wird usw. – was alles ein furchtbarer Unfug, weil es nun wirklich nicht drauf ankommt, ob jemand geschlechtlich lieber mit seinem Kühlschrank, einer Frau, einer Zahnpastatube oder einem Mann verkehrt, sondern wirklich nur um das Kunstwerk, dessen prima movens die Zahnpastatube gerne auch sein mag.
Über Argo noch gesprochen; imgrunde muß jetzt schon für den kommenden Herbst geplant werden. Es wird, hier schon mal hinzuerzählt, eine Subskriptionsausgabe des Bandes geben; ich werde davon noch erzählen und möchte Sie, selbstverständlich, gerne zur Zeichnung bewegen. Lassen Sie mir bis Dezember Zeit. Um Viertel nach Mitternacht lag ich im Bett und schlief quasi sofort ein.

Latte macchiato, erste Morgenpfeife.
Trotz der Vorbereitung zu dem Abend hab ich gestern weitere 150 Thetisseiten ge„schafft“: meine Notateliste wird länger. Kleinzeug, aber wichtiges, für das ich noch Ösen in Argo plazieren muß, solche von Aura, Geschmack; die Themen selbst sind ohnedies gespannt, aber sie brauchen hie und da noch Haltepunkte. Jedenfalls war es kein Fehler, bereits mit der Neulektüre von Thetis begonnen zu haben; heute noch mal 150, vielleicht sogar 200 Seiten, dann morgen auf der Zugfahrt nach Frankfurtmain abermals, dann werd ich bereits weit über die Hälfte des ersten Andersweltromans wieder gegenwärtig haben, im Laufe der kommenden Woche, mit Unterbrechung durch das Seminar für die >>>> Start-Stiftung, auch das zweite und werde dann den letzten Durchgang Argo starten können, so daß ich wahrscheinlich noch vor dem Dezember fertig sein werde und das Typoskript meinem Lektor bringen kann. Dann geht es wieder an den >>>> Giacomo Joyce, sowie an die Neue Fröhliche Wissenschaft. Und ich werde anfangen können, das nächste Hörstück vorzubereiten. Für das ich aber umdisponieren muß: mein eigentlicher Plan wird sich wahrscheinlich nicht realisieren lassen. Jedenfalls: „wegräumen“. Dann der nächste Roman, das Sterbebuch, auf See.

À propos Joyce: Ich wollte für gestern abend das Motto von Glöcklers Buch auf Englisch vortragen, was ich dann auch getan habe; aber ich wollte auch auf Deutsch vortragen und sah mir drei Übersetzungen an, deren keine mir gefiel. Also probierte ich mich selbst an einer aus; das Ergebnis werde ich gleiuch noch, bevor ich zu lesen beginne, in Der Dschungel einstellen.

[Cowell, 13th Symphony.]
Nässe. November. Böen rauschen, und abgerissene Äste fallen vom tags gezerrten, nachts von Wilden Jagden schlaflosen Himmel, der kein Kissen hat, den Kopf darin zu bergen, noch eine Decke, sie über sein Frösteln zu ziehen. Wir aber haben‘s.

Noch ein Nachtrag zu gestern abend: Als ich, auf dem Podium, Glöcker nach seiner persönlichen Verbindung zu Charles Ives fragte, antwortete er: „Ich habe immer diese Bilder von ihm gesehen und immer gedacht: Was war das für ein schöner Mann! Eigentlich hatte ich eine erotische Beziehung zu ihm, und deshalb, unter anderem, schrieb ich.“ – Welch eine schöne und wahre Antwort für eine Leidenschaft, die dann zu solcher Poetik wird. Ich möchte es Ihnen ans Herz legen, >>>> dieses Buch. Bevor ich nunmehr in meinem eignen, das völlig anders ist, weiterschreite.

8.01 Uhr:
Jetzt habe ich doch >>>> weiterübersetzt, ich konnte nicht anders, kam einfach nicht los. Jetzt, auch als Zäsur, die Löwin wecken, dann wieder an Thetis. – Diese „Vettern vierten Grades“ – woher mögen sie ursprünglich stammen?

15.03 Uhr:
Tief geschlafen. Richtig weit bin ich mit Thetis heute nicht gekommen. >>>>> Dr. Nos fortgesetzter Thetis-Abschluß at mich beschäftigt; dann sind allgemeine Vorbereitungen für die kleine Reise morgen zu treffen; muß gleich ins Wetter hinaus, von dem meine Oma gesagt hätte, es sei keines draußen. Und >>>> diese Beobachtung Keuschnigs paßt in das übrige Bild ziemlich gut hinein, einem der öffentlichen Verschweigung, aus dem allein das Internet immer wieder herausbricht, weil darin Leute sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Dieser Vorstoß Daniel Lenzens ist in der Tat infam. Man kann richtig zusehen, wie sich die Lobbies in Kampfhaufen sammeln, hier übrigens nicht anders als dort. Wie denn die Kulturen zu vermitteln seien, wird erst gar nicht mehr gefragt und sowieso nicht gesehen, daß sehr wohl das Internet auch ein Träger des Wortes ist – wahrscheinlich sogar mehr mittlerweile als irgend ein Buch, ja sogar als die „klassischen“ Zeitungen. Und daher weht denn auch der Wind. Was wir beobachten können, ist schlichtweg ein Konkurrenzkampf.
Also hinaus. „Is‘ ja kein Wetter draußen!“

(Eigentlich wollte ich noch was zur USA-Wahl sagen, das weniger mit ihr selbst oder gar ihrem Ausgang zu tun hat, als mit ihrer Kommunikation in Deutschland. Aber es ist mir ein >>>> Paralipomenon wert; das mag ich nicht verschießen.)

>>>> Steht drin.

: 16.37 Uhr.

2 thoughts on “Tiefherbst. Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 7. November 2012. Klammsturm nach Glöcklers Lesung. Und nachmittags wieder: Das angebliche Ende der Literatur durch das Netz.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .