Durchschaut zu sein ODER Dammbrüche ABER „Zu lieben, bis Vernunft verbrennt“. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 24. Januar 2013.

4.57 Uhr:
[Arbeitswohnung. Pettersson, Dreizehnte.]
Wir seien durchschaut, hörte ich, ein Kollege und ich, womit gemeint war, unsere eigentlichen, ja, Absichten seien erkannt, die in Wahrheit hinter unseren Bedenken stünden, in Büchern nicht mehr opportune (und selbstverständlich nie opportun gewesene) Begriffe nachträglich durch andere, unerachtet der jeweiligen Zeitgeschichten moralisch einwandfreie zu ersetzen; diese eigentlichen Absichten werden freilich nicht genannt, aber das Wort „durchschauen“, das gegenüber Verbrechern, wenigstens Halunken, Verwendung findet, indiziert, daß es böse sein müssen, also sehr wahrscheinlich rassistische tatsächlich selbst. Darunter wird dann automatisch, notwendigerweise, die gesamte Diskussion gleich mitbefaßt, die hier um die Frage Erbschuld und deutsche Völkerverbrechen ausgetragen wurde und wird. Man kann so offen und klar sprechen, wie man nur will, es wird sich immer jemand und schließlich werden sich ganze Gruppierungen finden, die einem das Ungeheuer anhängen, schlichtweg deshalb, weil Tabus und OnNeDitPas‘ angerührt sind, die ein Zeit„geist“ oder die politische Opportunität oder eine bestimmte Ideologie soeben machtvoll durchsetzen will, was sich dazu selbstverständlich, auch das hat nicht nur deutsche Tradition, der guten Masse bedient. Mein rhetorischer Titel >>>> dort hatte schon recht, auf seine Weise zu agitieren.
Kein sachliches Argument, das auf den Spuren der Geschichte beharrt, verfängt. Geschichte soll getilgt werden. Die dadurch dreivier Generationen später auf die Menschen zukommende Gefahr wird nicht gesehen, schlichtweg, weil es der allzu guten moralischen Überzeugung an Fantasie gebricht. Die Leute sind halt alle keine Dichter und wie geblendet von der Gegenwart ihrer Unmittelbarkeit, aus der sie als Volkserzieher wirken wollen. Denn das steht dahinter. Derart gut sind sie in ihren Gesinnungen, daß sie nicht ahnen, wie ein j e d e s Wort sich diskriminierend umverwenden läßt; dazu >>>> schrieb Tinius in Iris‘ Blütenblättern ausgesprochen Kluges; er macht es dort am Beispiel von „Krüppel“ und „Behinderte“ deutlich. Ob wir nun „Neger“, „Farbiger“ oder „Schwarzer“ sagen, ist dem Rassisten tatsächlich egal; er wird noch das vorgeblich neutralste Wort in seinem Sinn verdrehen können und verdrehen, und wir, dann, werden wie auf der Flucht alle drei Generationen die jeweils neuen, noch nicht belasteten Wörter in die Kinderbücher schreiben, bis aller Zusammenhang verloren ist. Auf der Flucht bezeichnet, was geschieht, sehr gut; anstatt daß wir uns Rassisten einfach nur entgegenstellen, gestehen wir ihnen Macht zu, indem wir uns unserer Sprache begeben und ihnen ihre Wörter überlassen, anstelle sie drum zu enteignen. Wahrlich, das ist ein Weg, auch jeglich eigen Hab und Gut zu verlieren. Da muß einer nur zäh genug mit dem Schlamm werfen. Auf den Gedanken kommen wir gar nicht, daß doch auch w i r Wörter umbesetzen, sie ihm entreißen könnten. Nein, wir fliehen.
Einige doch objektiv bedenkliche Wörter sind dabei seltsam gefeit, „Jude“ etwa. Das war ganz sicher, und wird noch immer, manchmal, so gebraucht, auch ein Schimpfwort von schlimmster rassistischer Natur. Dennoch können wir unbedenklich schreiben, Karl Kraus sei ein Jude gewesen, und es wird wohl auch niemand aus Walter Scott den Juden wirklich streichen wollen. Woran liegt das? Daran vielleicht, daß Menschen mosaischer Abkunft selbst das Wort verwenden, weiterverwenden, unabhängig von seinem so häufigen Mißbrauch? In dem Sinn haben Schwarze (die meist schwarz überhaupt nicht sind, sondern von einer insgesamt märchenhaft schönen Differenziertheit brauner Hauttöne – schrieb ich schon, daß ich unsere blasse Haut unschön finde? unerotisch?: fad wie einen Teller Spucke?), – in dem Sinn haben Schwarze das Wort „Nigger“ längst okkupiert – untereinander, spöttisch mit sich selbst, befreit. Da ließ‘ ich mich gern einen Weißhäuter nennen oder rosa Schweinderl, wenn ich solche Freiheit hätte.
Ich sagte gestern am Telefon der Löwin: Es wird nicht mehr aufzuhalten sein, die Bücher werden umgeschrieben werden. Mit den Kinderbüchern wird es beginnen, ganze Schnüffeltrupps werden, übers Netz ist das leicht, die Literaturen nach Anstößigem durchforsten, und ein Buch nach dem anderen wird moralisch gesäubert werden. Der Damm ist gebrochen, und die Schleusen, zugleich, wurden geöffnet. Dieses Wasser k o m m t, ja bis zu den Waden sind wir schon naß.
Es ist ein trübes Wasser und hebt i m m e r mit dem Jugendschutz an. Das Wort von der drohenden Jugendverderbnis ist zu allen Zeiten das allererste gewesen, wenn moralisch durchgegriffen wurde. Als Jugendverderber wurde Sokrates der Schierlingsbecher gereicht. So nimmt es nicht Wunder, daß die Bewegung bei den Kinderbüchern ansetzt, autoritär gegenüber allen Eltern, denen abgesprochen wird, sie könnten ihre Kinder Ambivalenzen lehren; ja, die Ambivalenzen selbst stehen auf der Liste. Die anderen Bücher, die für Erwachsene, werden folgen, es muß sich nur jemand von einem diskriminiert fühlen und, sagen wir, klagen, um sein oder ihr Persönlichkeitsrecht; denn die Gebräuchlichkeit ist ja dann gegeben, Bücher umzuschreiben. Hannah Arendt wird nicht mehr über die „Negerfrage und Equality“, sondern über die Frage „Dunkel Pigmentierter und Equality“ geschrieben haben; so lesen‘s die Studenten dann, und die Rassisten werden Andersfarbigen höhnisch „Piggy!“ hinterherschrein, weil man von da sehr einfach >>>> auf das Schwein gelangen kann, so daß schon ein nächstes Wort wird gesucht werden müssen. Und die Wortschnüffler und -innen haben lebenslang zu tun, bigott, wie sie zunehmend werden; ein riesiges Begeisterungsfeld verschobner Denunzianten. Die Tartufferie ist ja jetzt schon gewaltig.
Was mich freilich ebenfalls wurmt, ist das Meinungsbild der Geschlechter, das die Diskussion auch in Der Dschungel zu spiegeln scheint: tendenziell sind Frauen für die Veränderungen in den Büchern, Männer aber dagegen. Das punktet auf die feministische Ideologie, das „Beharren“ auf „Unrechtswörtern“ der sogenannten patriarchalen Besitzstandswahrung anzulasten; wahrscheinlich ist so auch schon argumentiert worden, irgendwo, ich weiß es nicht. Privat bietet sich mir aber ein anderes Bild, in Emails und Telefonaten vertreten auch viele Frauen eine Position, die sich gegen das Umschreiben wendet; sie machen‘s nur nicht öffentlich. Mich ärgert das tatsächlich, ich komme mir sogar ein bißchen benutzt vor, vorgeschoben, um die Kohlen aus dem Feuer des Dammbruchs zu holen, weil‘s draußen ja so kalt ist und Frauen schneller als Männer frieren; das hat physiologische, nicht machistische Gründe, kalte Hände, kalte Brustspitzen, kaltes Gesäß, kalte Füße: insoweit versteh ich‘s aber auch… – s‘ ist momentan wirklich unwirtlich draußen. Dennoch, liebe Freundinnen, es wäre schön, schrieben Sie auch öffentlich, was Sie nur mir geschrieben. Das gäbe einfach ein besseres Bild, als wenn immer ich allein, der Unhold…
Aber ich fürchte, es hat keinen Sinn mehr. Der Dammbruch ist erfolgt, wir können nur noch die Wunden verarzten und der Kranken, dem Wort, das Leid ein bißchen weniger unerträglich machen. Es gibt ja das Morphin des Gedichts und der Sehnsucht, und wir können vögeln. Noch dürfen wir‘s, auch wenn uns AIDS eine Schranke gesetzt und hat uns mit einem Latex verschlossen, das in den Bäckere i en selbst Verkäuferinnen sogar schon an den Fingern haben, wenn sie die Brötchen in die Tüten tun. Reinheit, wohin man nur blickt. Deshalb, wenn ich „vögeln“ schrieb, so meine ich das – schmutzig. Denn was uns draußen ist verboten, werden wir, mit umso größren Lüsten, in unserem Intimen tun: nicht eine Übertretung von Moral, die wir darin nicht kosten werden.

6.30 Uhr:
Also wieder an die Gerichtsvollzieher-Interviews für das neue Hörstück. Öde. Öde Abipperei. Weil ich dazu auch gar keine Musik hören kann. Bis gestern 22.30 Uhr saß ich an den Transkriptionen und werde jetzt gleich damit weitermachen, unterbrochen mittags von einer Aufsicht in der Wohnung लक्ष्मीs, die nicht da sein kann, wenn der Handwerker kommt, um die ausgerechnet zu dieser Kälte ausgefallene Heizung zu reparieren. Aber ich werd den Laptop mit hinübernehmen und da Am Terrarium arbeiten, während die Leute in der Küche wurschteln. Außerdem muß ich mich um ein Hotel für die Leipziger Messe kümmern. Ich habe vier Lesungen wegen des Kinderbuchs, dessen Fortsetzung der Verlag zwar verschoben hat, aber die Schulen wollten den schreibenden Troll unbedingt wieder bei sich haben.; so zahlt man nun die Unterkunft, zwar, aber kümmern möge, bitte, er sich selbst. Gestern guckte ich bereits zwei Stunden lang, wurde auch fündig, warte aber jetzt auf eine Bestätigung und muß nachhaken. Da die Löwin mit dabei sein möchte, muß die Bleibe luxuriös sein; man schämt sich sonst als Mann, denn hat es doch so gerne, wenn sie sich auf der Ottomane wohlig streckt: Ich sehe ihre Vordertatzen zucken.

Guten Morgen. Gleich ist die Sinfonie zuende. Dann leg ich mit dem Tippen los. Ah ja: >>>> Norbert Schlinkert hat Geburtstag. Gratuliern Sie ihm. Das würd ihn, hoffe ich, ein bißchen glücklich machen, so zwischen Stein und Wasser – und „Ah ja!“ ein weitres Mal: Ich h a b es wieder, dieses Buch:



Fugue

Une joie éclate en trois
temps mesuré de la lyre
Une joie éclate au bois
que je ne saurais pas dire
Tournez têtes Tournez rires
pour l‘amour de qui
pour l‘amour de quoi
pour l‘amour de moi

(Eine Freude bricht auf in drei
Zeiten der Leier gemessen
Eine Lust im Gehölz vogelfrei
doch ich hab ihren Namen vergessen
Köpfe dreht euch   Lachen lauf Kür
zur Liebe wessen
zu Liebe wem
zu Liebe mir)
[Dtsch. von Paul Wiens.]

15 Uhr:
[Am Terrarium.]
Ich schreibe dies jetzt Am Terrarium, wohin ich den Laptop mitgenommen habe, direkt in die Maske, während nebenan der Handwerker arbeitet und oft schimpft; er war sehr pünktlich und werkt jetzt seit einer Stunde an der Therme herum. An dem Hörstück wollte ich weiterarbeiten, aber dann las ich >>>> Iris‘ sehr, finde ich, wichtigen Kommentar, auf den ich nunmehr geantwortet habe, direkt darunter. An das Hörstück komme ich hier jedenfalls nicht, dazu ist nicht genug Ruhe. Ich muß ja die Stimmen in mir hören, um die Texte vorzubereiten.

18 Uhr:
[Arbeitswohnung. Pettersson, Vierzehnte (zum Zweiten).]
Wieder zurück, und drüben geht die Heizung jetzt wieder. Dann hier noch schnell etwas gegessen, das vierte Mal Eintopf; nun ist er wirklich alle (von „allez“). Kurz mit meinem Sohn geplauscht, der fürs Cello noch hier war; mittlerweile kann ich kaum noch „mit meinem Jungen“ schreiben, so erwachsen wirkt er bisweilen. Obwohl er doch (noch für eine knappe Woche) erst zwölf ist.
Und wieder an das Gerichtsvollzieher-Hörstück. Daran, daß ich soeben >>>> einen ersten gesonderten Beitrag dazu eingestellt habe, sehen Sie, daß es nun ernst wird. Sehr schön, übrigens, ist, daß nun auch >>>> Frau Frankenberg einen kleinen Part sprechen wird, aber nach dem Studiotermin, hier bei mir am Sonntag abend. Das Stück rundet sich in meinen Ohren. Und morgen früh kommt jemand für ein weiteres Schuldner-Interview hierher. Dann dürfte ich insgesamt wirklich genügend Tonmaterial haben.
Vorhin hatte ich wieder den Impuls, die Musik abermals selbst am Akkordeon, nicht aber mit dem Cello, einzuspielen; wahrscheinlich werde ich fertige Musiken und meine Improvisationen mischen. Wie, das wird die Arbeit nach erstem Anlegen der Montage ergeben.

(Wie gewaltig diese Sinfonie rauscht!)

12 thoughts on “Durchschaut zu sein ODER Dammbrüche ABER „Zu lieben, bis Vernunft verbrennt“. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 24. Januar 2013.

  1. Interessant. Fällt mir gerade auf: Die >>> Erwähnung beim Bildblog ist drei Tage her, aber schon am zweiten pendeln sich die Zugriffszahlen wieder aufs Reguläre ein. Wie wenige Leser:innen also aus solchen Spitzen „hängenbleiben“. Darüber wäre eigentlich in einer weiteren Miszelle der >>>> Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens zu reflektieren; doch ich hab jetzt nicht die Zeit, will aber zumindest das Faktum konstatieren. (Und in der Tat, es geht mir um literarisches, nicht um journalistisches Bloggen. Unter dieser Perspektive steht hier jeder Text.)

  2. Ich frage mich nun doch (und weiß nicht recht, ob mein Kommentar unter diesen oder eher einen der anderen Artikel gehört, aber er fiel mir eben hierzu ein), ob sich das nicht vereinbahren ließe: Das Ändern und das Bewahren. Denn das Bewahren ist ja nichts Statisches, sondern auch etwas Lebendiges und Teil des weiteren Gestaltens von Geschichte. Auch die derzeitige Diskussion und die irgendwann aus ihr resultierenden Ergebnisse gehören bewahrt. Ich kann Ihre Sorge bzgl. eines Dammbruchs mit nicht zu ahnenden Folgen nicht nachvollziehen. Es soll doch nichts heimlich getilgt werden, der ganze Prozess liegt offen, muss er auch!, möglichst noch offener, damit er in die Geschichte eingehen kann. Warum sollte nicht auch etwas Weiches wie beispielsweise Nachgiebigkeit gegenüber einer Gruppe, auch nur einer kleinen, oder sogar nur einer einzelnen Person, die den Gebrauch z.B. des Wortes „Neger“ in nach wie vor gebräuchlicher Literatur nicht mehr erträgt, warum solte nicht auch eine solche Haltung und Handlung in die Geschichte eingehen dürfen oder können. Ich sehe auch die „Gefahr“ des Präzedenzfalls, aber dass damit alle Schleusen geöffnet seien, kann ich nicht erkennen. Dass es zu mehr Klagen kommen wird, ja, was zu bewältigen große Anstrengung fordern wird. Warum auch nicht? Warum sollte nicht in die Geschichte eingehen dürfen, dass einer Gesellschaft das Wohlbefinden einer Gruppe, eines einzelnen Menschen soviel wert war, dass man damit das mögliche Auslösen einer Lawine in Kauf nahm. Warum muss Geschichte vor allem von Stärke, Unnachgiebigkeit und Unterkontrollebringen/-halten geprägt sein.

    Ich muss hier leider abbrechen, weil der Herd ruft und danach der Buchladen. Ich würde aber sowieso kein Ende finden, da ich noch keine endgültige Meinung in dieser Sache gefasst habe, sondern noch sammle, bei mir und anderen.

    1. @Iris. Danke erst einmal für Ihren unaufgeregten, nicht anklagenden und herzenswarmen Text. Ich möchte Ihnen ebenso antworten, und weil das Gespräch so wichtig ist, werde ich Deters bitten, es, wie bereits in einem anderen Fall,>>>> noch dort zu kopieren:

      Auch die derzeitige Diskussion und die irgendwann aus ihr resultierenden Ergebnisse gehören bewahrt.Das wird ganz sicher geschehen; allein schon unsere Weblogs sorgen dafür, ebenso wie die Reflexe, die sie in neuer Literatur haben werden. Ebenso wird die Sensibilität gegenüber dem Gebrauch bestimmter Begriffe auch dann noch weiter ausgebildet werden, wenn man sie nach wie vor gebraucht oder wenn sie von anderen nach wie vor weitergebraucht werden.Ich kann Ihre Sorge bzgl. eines Dammbruchs mit nicht zu ahnenden Folgen nicht nachvollziehen. Es soll doch nichts heimlich getilgt werden, der ganze Prozess liegt offen, muss er auch!, möglichst noch offener, damit er in die Geschichte eingehen kann.Wir haben die Fälle verbotener Bücher in den letzten Jahren gehabt. Ich selbst war davon, mit einem meiner besten Romane, betroffen. Die Angelegenheit hat sich, aber hat mich fast meine Existenz gekostet – eine großen Verlag, der mich auch mitfinanzieren kann, habe ich seither nach wie vor nicht mehr- , schließlich befriedigend lösen lassen; ich selbst konnte das Problem nicht, obwohl ich wollte, vorher lösen, weil der Verlag es nicht wollte. Das ist es aber auch nicht,. worum es mir hier geht, sondern prinzipiell ist auch hier ein Damm gebrochen worden. Nahezu alle Romane, die heute veröffentlicht werden und einen autobiografischen Character zu haben scheinen, gehen unterdessen zuerst an die juristischen Abteilungen. Bücher zu schreiben wie „Montauk“ oder auch den Werther, ist unterbunden, weder Il fuoco noch gar Dantes Göttliche Komödie wären heute mehr möglich. Dazu kommen die verstärkt exekutierten Urheberrechtsbestimmungen; Wolf Vostell könnte heute einen Großteil seines kritischen Werks nicht mehr schaffen, schon, weil ihm die Verwendung des Mercecessterns, als ein bestimmtes und bestimmbares Zeichen, untersagt würde.
      Ich sehe Zustände wie in den USA auf uns zukommen, wo der an Darwin orientierte Bioloogieuntertricht den Glauben mancher Sekten stört – schon sie Sekten zu nennen, wäre eine Verletzung -, und es können deshalb Kinder von der Teilnahme am Biologieunterricht „befreit“ werden.
      Ich halte hiergegen, daß es auch ein Recht auf geschehenes Unrecht geben muß, nämlich seine Darstellung und Nennung, und zwar besonders die unbewußte, und daß nachträgliche Schönung Prozesse der Reifung und des Umgangs mit der eigenen Geschichte letztlich verhindert. Die Menschen werden auf den Zustand von Kindern reduziert, auf die man ständig Rücksicht nehmen müsse, nämlich auch in der Darstellung von Geschehenem.Warum sollte nicht auch etwas Weiches wie beispielsweise Nachgiebigkeit gegenüber einer Gruppe, auch nur einer kleinen, oder sogar nur einer einzelnen Person, die den Gebrauch z.B. des Wortes „Neger“ in nach wie vor gebräuchlicher Literatur nicht mehr erträgt, warum solte nicht auch eine solche Haltung und Handlung in die Geschichte eingehen dürfen oder können.Sicher dürfte das eingehen, es gibt ja auch ganze große Gruppen solcher Nachgebigkeiten. Ich halte das aber einer wirklichen Emanzipation, wirklichen inneren eigenen Befreiung nicht für förderlich, sondern diese wird, ganz im Gegenteil, verhindert. Wer mit dem, was einmal gewesen, auch mit dem Leid, das man erfahren oder von dem man auch nur gehört hat, nichts mehr zu tun haben will, indem er sein Erscheinen sogar in einzelnen Wörtern, die früher einmal geschrieben wurden, nicht mehr erträgt, erträgt seine eigene Geschichte nicht. Das ist genau das Gegenteil von Befreiung, sondern zeigt einen inneren Zustand von Unterdrücktheit an. Die eben ist doch aufzuheben. Auch ich muß die Darstellung des Deutschen als eines schlimmen, ja widerlichen Geschöpfs immer wieder, vor allem in US-amerikanischen Filmen, ertragen. Sie finden den Deutschenhaß und entsprechende Karikaturen quer durch die Literatur, gerade auch bei mir sehr lieben Autoren wie Dostojewski. Damit kann ich aber leben. Wenn ich nicht verstanden habe, weshalb das schon zu seinen Zeiten, lange vor Auschwitz, so war, habe ich mich drum gekümmert. Und wenn ich es verstanden habe, war es in Ordnung. Dieses Verstehen von Zusammenhängen und Verwendungen – im Falle Hannah Arendt war „Neger“ absolut nicht diskriminierend gemeint – kann ich auch anderen Menschen zumuten, ob sie schwarz, braun, grün oder gelb und rosa von Hautfarbe sind. Das Leben selbst mutet zu, ständig; wir leben nicht in einer Glocke der Freundlichkeiten und werden das auch nie, schlichtweg deshalb, weil wir dem Naturprinzip unterstehen und uns ernähren müssen.und Ich sehe auch die „Gefahr“ des Präzedenzfalls, aber dass damit alle Schleusen geöffnet seien, kann ich nicht erkennen. Dass es zu mehr Klagen kommen wird, ja, was zu bewältigen große Anstrengung fordern wird. Warum auch nicht?Weil wir vor Correctheitsklagen nicht mehr werden geradeausgucken können, weil unser gesamtes Leben ein Gehen auf Zehenspitzen sein wird, und weil auf diese Weise heruntergedrückte Aggressionen sich anderwärts Platz schaffen werden, und zwar an Orten, wo wir sie nicht vermuten und ihre Gründe auch gar nicht mehr erkennen oder nur nach langwierigen therapeutischen Prozessen. Weil Aggressionen schlichtweg zum Leben gehören und wir auch ohne sie längst nicht mehr lebendig wären.Warum sollte nicht in die Geschichte eingehen dürfen, dass einer Gesellschaft das Wohlbefinden einer Gruppe, eines einzelnen Menschen soviel wert war, dass man damit das mögliche Auslösen einer Lawine in Kauf nahm.Weil die Lawine ein Leben nach ihr unerträglich machen wird. Es wird einen Kontrollstaat geben, nicht von einer Diktatur geprägt, sondern von Kommissionen des Guten Meinens, auch von Kirchen und Sekten und jederlei Minder- und Mehrheit. Ihnen wird bekannt sein, daß Martin Mosebach bereits nach einer Wiedereinführung eines Blasphemie-Paragraphen gerufen hat, der den gläubigen Christen nicht weiter diskriminieren lassen will; damit fielen dann viele Werke Voltaires, überhaupt der Aufklärung usw., der komplette französische Surrealismus und die gesamte kommunistisch geprägte Literatur den Reinigern anheim, wahrscheinlich auch Karl Marx. Was aber, das stimmt, für einen Schwarzen wegen seiner Herkunft und Herkunftsgeschichte ihm nicht mehr zugemutet werden kann, kann dann auch keinem gläubigen Christen mehr zugemutet werden. Ganze Bilder werden aus den Bildbänden verschwinden, denken Sie an Max Ernsts Mutter Gottes, die das Jesuskind züchtigt. Und wenn wir es mit der Integration ernst nehmen, muß, was für gläubige Christen gilt, auch für gläubige Moslems gelten. Usw.Warum muss Geschichte vor allem von Stärke, Unnachgiebigkeit und Unterkontrollebringen/-halten geprägt sein.Das wird sich nicht ändern, wenn wir Begriffe in den Büchern austauschen, sondern so hat Welt und hat Natur immer funktioniert. Es hat wenig Sinn,. dem Zahnschmerz zu verbieten, daß er sei; Karies bleibt Karies auch dann. Was wir aber ändern können, und sollten, ist, gegenüber einmal absichtlich oder unabsichtlich benutzten Wörtern in Zukunft sensibel zu sein und sie eben nicht mehr weiterzubenutzen. Das, in der Tat, geht in die Geschichte. Wenn wir da sorgfältig sind – so weit wir es vermögen und so weit uns die Problemfelder bereits bewußt sein können. Zum Beispiel habe ich selbst das Wort „Neger“ überhaupt vorher noch nie, sondern zum ersten Mal geschrieben, als ich zum Widerstand gegen das Reinigen von Büchern anschrieb. Da war es, in der Tat, nötig, hat aber überhaupt keinen Schwarzen gemeint. Auch also aus politischen Gründen sollten Wörter zuhanden bleiben.
      Mrr geht es tatsächlich nicht um Preußler, ich bin mit ihm gar nicht sozialisiert, in meiner Kindheit standen in den Büchern noch viel heiklere Begriffe. Dennoch ist meine Generation und die davor eine gewesen, die widerständig war und sich für Emanzipation auf die Straßen begab; man wird nicht notwendig Rassist, wenn man in seiner Kindheit mit solchen Wörtern umging, und man wird auch nicht traumatisiert, wenn man in Büchern abwertend dargestellt wird. Sondern es kommt darauf an, sich selbst dagegen zu positionieren. Das genau ist ein Teil von Reifung und eigener Emanzipation, vor allem dann, wenn das geschehene Unglück im Fall der Bücher allenfalls noch Reflex eines einmal geschehenen ist und gar nicht mehr fortgesetzt wird, sondern im Gegenteil haben die Schwarzen (ich weiß wirklich nicht, ob ich auch dieses Wort noch schreiben darf), die sich jetzt diskriminiert fühlen, in diesem Land Aufnahme und neue Heimat gefunden, was doch wirklich deutlich zeigt, wie anders längst gedacht wird. In den USA ist das nach wie vor nicht so: da werden Menschen, die einwandern wollen, an der Grenze zu Mexiko abgeschossen wie Hasen. So entsetzlich bigott ist das, so abgrundtief furchtbar, daß wir ausgerechnet von dort Vorschriften und die Selbstzensur der allgemeinen Correctness übernehmen.

      Und noch eines, zum Schluß, das mir persönlich, als auch politischem Künstler des Wortes, wichtig ist: Wir verändern die Zustände nicht, indem wir die Wörter verändern, sondern wir verschleiern sie damit, vor allem dann, wenn wir die Veränderungen nachträglich vornehmen. Der Schmerz darüber, daß bestimmte Wörter verwendet wurden, muß erhalten bleiben, damit wir wissen, worum es geht und was wir nicht mehr wollen.

  3. Was machen wir … … denn bitte mit Joseph Conrads Roman „Der Nigger von der Narzissus“? Oh, Oberhirtin aller geistigen Gleichmacherei HILF ! Das Buch heißt nun mal so. Wollen wir es verbrennen? Wäre wohl das Beste. So lasst uns denn über FB einen Verbrennungstermin absprechen.

    1. @PHG. Dieses ist nur die Spitze des Eisbergs. Es werden sich noch Tausende, Hunderttausende finden. Aber insgeamt ist der Kunst, ihrem Unmoralischen, das sie notwendig hat, der Krieg erklärt worden. Dies aber nicht nur von den Reinigerinnen und Reinigern, auch von der Industrie, die den möglichst leichten Absatz an möglichst viele Menschen will. Da ist es hinderlich, wenn etwas in den Büchern steht, das nicht allen Millionen Konsumenten gefällt oder von dem sie sich verletzt fühlen. Es geht um Äquivalenz, ich kann gar nicht genug darauf hinweisen. Außerdem wird Joseph Conrad sowieso schon aus den Bibliotheken genommen, weil man Platz für Gängigeres braucht und in der Tat die Bücher nicht mehr ausgeliehen werden.

    2. So ein Unfug, Conrad ist überall noch im Bücherregal, in welche Buchläden gehen Sie denn?
      Wissen Sie was mir auch auffällt, stellen Sie sich vor, jeder Weltenbürger würde Nazi zu deutschen sagen, was wäre dann, ein unglaublicher aufschrei, warum, warum, würde ma betroffen hauchzen, aber der Neger muss bleiben und warum? Weil die Afrikaner nie irgendwo einmarschiert sind, fremde Länder besetzt hielte? Das ist schon ein arges Verbrechen, böse Afrikaner

    3. @Conrad. Ich habe von Bibliotheken gesprochen und bezog mich auf die Schilderung eines Bibliothekars hier in Der Dschungel. den ich aber auch persönlich kenne.

      Was den Nazi anbelangt, so bin ich genau das gewohnt, aus Frankreich etwa, aber besonders aus den Niederlanden. Der Vorbehalt ist ständig zugegen; erst über eine junge Generation hat sich das geändert. Ich käme aber auch gar nicht auf die Idee, wenn ich nach Holland zöge, dort aus den bereits geschriebenen Büchern den Begriff mitsamt seiner für die Siebziger Jahre geltenden Vorurteile herausnehmen zu wollen. Läse mein Kind so ein Wort, wüßte ich ihm sehr klar zu sagen, weshalb es da steht und daß es dafür in der Tat Gründe gegeben hat, die in das Gefühl der Menschen eingesickert sind. Daß wir Heutigen aber, wenn wir von unseren sozialen Umständen her nicht wahnsinniges Unglück haben, uns davon haben freimachen können.
      Ich verstehe auch Ihren gehässigen Ton nicht; er zeugt von wenig Überlegenheit. Erstens sind auch Afrikaner (was soll das sein? wir reden da von einem Kontinent) anderswo einmarschiert und haben, auf Stammes- oder Sippen-Ebene, Verbrechen begangen, und ehtnische „Säuberungen“ heutzutage werden dort von afrikanischen Völkern an afrikanischen Völkern verübt, und zweitens sehe ich den von Ihnen zitierten Aufschrei nicht. Ich würde mich dagegen verwehren, heute noch ein Nazi genannt zu werden, aber gewiß nicht von Büchern, die früher geschrieben wurden. Daß das Wort „Neger“ nicht weiterhin verwendet werden soll, das ist hier völlig unstrittig. Es zeugt alleine von unlauterer Absicht, hier etwas anderes zu unterstellen. Ich wehre mich gegen Glättung und vor allem Säuberung von existierenden Dokumenten, zu denen auch einst geschriebene Kinderbücher und Bücher überhaupt gehören. Die Gründe, deretwegen ich mich wehre, habe ich deutlich dargestellt. Lesen Sie’s einfach erst einmal nach, bevor Sie herumzetern und mir etwas unterstellen, von dem die Rede nicht sein kann.

      (Abgesehen davon, hinkt Ihr Vergleich sowieso, weil mit „Nazi“ gesagt wird, jemand habe ein Völkerrechtsverbrechen begangen, bei „Neger“ aber ist fast unmittelbar klar, an ihm ist ein Verbrechen begangen worden. Vergleichbar wäre allenfalls das Wort „Barbar“, das Julius Cäsar für uns hatte, oder das „Boche“ der Franzosen oder unser „Spaghettifresser“ für einen Italiener; wenn ich das Wort heute läse, würde ich laut lachen vor wiedergelesener Bizarrerie. Daß man so etwas nicht weitervewendet, steht doch ganz außer Frage. „Kümmeltürke“ fällt mir noch ein. Und für die Deutschen das nach wie vor mehr als nur gängige „Krauts“.)

  4. Prägungen Aragon ist Prägungs-Autor (wenn auch mit „Blanche oder das Vergessen“). Was aber gleichwohl Anlass gibt, um der Fortführung jener Rubrik nachzfragen?
    Beste Grüße
    NO

    1. Lieber Dr. No, die dazugehörenden Bücher sind hier immer noch neben der Couch auf dem Boden gestapelt; also vergessen ist die Reihe nicht. Ich weiß nur zeitlich im Moment nicht, wie sie fortführen. So etwas wie die Auseinandersetzung wegen der Kinderbücher, die gesäubert werden sollen, ist auch nicht geeignet, mich wieder auf die Prägungen zurückzubringen, obwohl, fällt mir ein, einige der Prägungsbücher ganz sicher zu denen gehören, die gesäubert werden sollen; sozusagen soll meine schlimme Prägung gesäubert werden, die aber nicht dazu beigetragen hat, mich sonderlich rassistisch werden zu lassen.
      Ich glaube, hier ist eine Bewegung imgang, die man nicht unwidersprochen einfach so laufen lassen kann; hier werden im Moment Weichen gestellt für Züge, von denen wir nur ahnen können, wohin sie schließlich fahren werden. (Bei dem Wort „Züge“ überkommt mich fast immer ein Schaudern.)

  5. herr herbst, retten sie mich, hilfe, da draußen sind alle durchgeknallt, das negertourette nimmt kein ende, und keiner kapiert, dass man nicht gegen tilgung des wortes neger ist, sondern gegen tilgung, und alle behandeln bücher, als wären das keine fiktionen noch dazu, ich kann nicht mehr, was soll der scheiß, ich wünsche mir echt 20 bronx niggas her, die alle in grund und boden rappen, und will direkt nochmal gran torino schauen. auf einmal sind alle gut, die nur die korrekten worte gebrauchen, stimmte nur noch nie. (ansonsten sorry für abwesenheit, ich hab zur zeit viel um die ohren und habe nicht ihre gabe, dann noch überall zu kämpfen.) frau kiehl schrieb drüben so schön: gewissen-haft, ja, so fühlts sichs an, genau. (auch da abbitte, mir brennt die hüdde und der a und überhaupt, darum bin ich so abwesend, ich tauche eines tages wieder auf, versprochen.)

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