Ich, der Rassist. (Anstelle eines Arbeitsjournals. Am Sonnabend, dem 19. Januar 2013.)

Es wird so weit kommen, daß man mich einen Rassisten nennen wird, egal, ob ich es in meinem Verhalten oder meinen Handlungen gegenüber anderen Hautfarben, Kulturen, Religionen bin. Gegen eine Umschreibung von Zeitdokumenten zu sein, worunter selbstverständlich auch Kinderbücher fallen, früher geschriebene, aber auch heutige, genügt. Aus der Weigerung, bestimmte Wörter nicht löschen zu wollen, weil man Geschichte als Geschichte gegenwärtig halten will, wird, daß man – (:ich kann, weil ich ja mich selbst meine, der ein Mann ist, das Wort hier gänzlich indiskriminierend verwenden, also:) – daß man ein Wort und seinen gegenwärtigen Gebrauch verteidige, und daraus wird dann, wer das tut, ein Rassist. Auch wenn man eben nicht den gegenwärtigen Gebrauch verteidigt.
Sich gegen einen Strom zu stellen, bringt notwendigerweise viele Gefahren mit sich, darunter nun auch diese. Daß es eine ist, dem sehe ich durchaus klar entgegen, alleine meinem Gewissen und meiner eigenen Überzeugung verpflichtet, und zwar eingedenk des Umstands meiner Herkunft, die immer schon ein auch öffentlicher Anlaß war, mich zumindest indirekt zu diffamieren. Ich weiß von daher sehr gut, was Diskriminierung bedeutet – in meinem Fall für schwer schuldhaftes, ja untilgbar schuldhaftes Tun besonders eines meiner Vorderen; insofern verstehe ich aber sehr gut die Verletzungen derer, die sich von Wörtern wie „Neger“ heute verletzt fühlen.
Ich glaube indes, daß wir alle, was einmal gewesen ist, tragen müssen, ebenso nämlich, wie wir insgesamt unsere Herkünfte tragen und einen Umgang mit ihnen finden müssen – wir müssen ein Verhältnis zum einmal Geschehenen entwickeln, das dieses Geschehene nicht leugnet und gerade aus der Überwindung des Geschehenen, das selbstverständlich in die Künste geronnen ist, S t o l z entwickeln. Und stolz uns in die jeweils neue Zeit eingeben.
Gestern schrieb mich über Facebook eine Frau an, die offenbar meine Arbeit schätzt und hier nun zum Umdenken bewegen wollte, unter anderem vermittels eines, leider, >>>> agitativen, also bild-rhetorischen Videoclips, der dazu wenig geeignet war, weil er die Emotion des Betrachters affektieren will, nämlich als – in mir tatsächlich aufwogende – Aggression auf diesen Lehrer. Es mag solche, also Lehrer, geben, ich kann das nicht beurteilen, würde sie aber ablehnen. Hier, im Fall des Videoclips, ist ein einziger Lehrer gezeigt. Er soll für alle stehen, die sich gegen die nachträgliche Umschreibung von Kinderbüchern und Büchern überhaupt wehren. Genau das meine ich mit Agitation: ein spezielles Schlimmes für alles andere, das schlimm sei, stellvertretend hinzustellen und, in diesem Clip, bewußt zu konstruieren. So funktionierte seit jeher Demagogie, und so funktioniert sie noch immer. Wer das durchschaut hat, den stößt es ab.
Nun ließe sich einwenden, das, die Funktionsweise von Demagogie, gelte auch und im besonderen für Kinderbücher. Der Einwand übersieht aber zweierlei: – zum einen, daß ich nicht der Meinung bin, dieses Video müsse „umgefilmt“ werden, weil sich nun, und mit Recht, sehr viele Lehrer davon diskriminiert fühlen könnten; zum anderen, daß solche heute, zurecht oder nicht, nicht mehr verwendeten Wörter stets mit herabwürdigender Absicht in die Bücher hineingeschrieben worden seien. Dem ist mitnichten so. Hinzukommt, daß die, sagen wir, Diffamierung des Fremden in nahezu allen Kulturen ihre je eigene, ich meine das wertfrei, Tradition hat, über die wir entsetzt sein können, die sich aber nicht leugnen läßt.
Werke der Kultur, alle, tragen sie in sich mit und halten sie, als, hoffentlich, Überwundenes bewahrt. So stehen wahrscheinlich alle großen Bauwerke der Zeiten zugleich als bewundertes Kulturerbe der Menschheit wie als Mahnmal für meist furchtbare, menschenfeindliche Arbeitsbedingungen derer da, die sie letztlich erbaut haben, nämlich der Tausenden gepreßten und oft schon am Bauplatz verreckten Arbeiter, die zu ihren Zeiten rechtlos, weil Sklaven, gewesen. Der Gedanke, solches Kulturerbe nicht abzureißen und wegzusprengen, kommt möglicherweise alleine deshalb nicht auf, weil wir die Hintergründe nicht mehr sehen und es uns leicht ist, sie nicht zu sehen. Wir wären aber, andererseits, auch arm ohne sie, und die Welt sähe insgesamt wie ein Sechzigerjahrebau der Neuen Heimat aus: trist, karg, depressiv.
Die Schreiberin, die mich über das Video, sowie zuvor über >>>> den Podcast astefanowitschs in das Gespräch führen wollte, stellte sich später als ihrerseits (ich weiß nicht mehr, ob ich das noch sagen darf) schwarze, indes deutsche Frau heraus, die, wie sie schrieb, nicht wolle, daß ihr Kind in Kinderbüchern solchen Herabwürdigungen ausgesetzt werde. Das ist sehr zu verstehen, dennoch kein Grund, Bücher aus ihrer Geschichte herauszulösen, sondern auch einem Kind ist eine solche Verletzung zuzumuten, alleine deshalb, weil es eine Verletzung aus geschehener Geschichte ist.
Auch einem Kind ist, mit anderen Worten, Geschichte zumutbar. Ihr Unrecht wie Recht mutet sich uns allen zu, lebenslang. Dazu gehört ebenfalls Herkunft – also nicht Welt-, sondern die je persönliche Geschichte; einigen sieht man sie sofort an, anderen nicht. Je nachdem, wo wir uns befinden. Das läßt sich nicht hinwegdekretieren. Tut man es dennoch, dann um den schließlichen Preis des Verstummens, der Differenzen nämlich, die a u c h meinen: unseres UnterschiedlichSeins – eines, dem wir den kulturellen Reichtum überhaupt verdanken.
Auch mein Sohn – er, der heute dreizehn ist, freilich bereits weniger – wurde, wie vorher ich, von Kinderbüchern gekränkt; die Darstellung „der“ Deutschen ist in der zurückliegenden Literatur insgesamt keine neutrale, sondern nicht selten eine bis in den Wortgebrauch abfällige, an deren Gründen meine Junge so wenig Schuld trägt wie ich selbst. Dennoch käme ich nicht auf den Gedanken, hier Gerechtigkeit einzuklagen und „Nachbesserung“ solcher Bücher zu fordern; es war auch immer ein Leichtes, meinem Jungen, wenn er darüber stieß, Zusammenhänge kindgerecht zu erklären; auch eine „schwarze“ Mutter, ein „schwarzer“ Vater können das tun – sogar, anders als jemals ich, mit dem Stolz, von dem ich oben sprach: „So wurden wir, die diese wunderschöne Haut haben, einmal gesehen und behandelt – aber: Wir haben uns befreit.“
Ach, wenn ich das nur auch hätte von den fahlen Deutschen meiner Herkunft sagen können! Für uns „Krauts“ ist eine solche Erzählung mir verwehrt. Nicht aber nur deshalb erlebe ich es als eine Befreiung, daß unsre deutsche Totenblässe nun immer dunkler, sagen wir: farbiger, wird und sich andere Kulturen in die, die gegen ihre Todesblässe anschrieb, mischt.
Doch dieses dagegen Anschreiben, dagegen Andenken, dagegen Ankomponieren hat zugleich großartige Leistungen der Kunst vollbracht, die andererseits notwendigerweise ihrer Zeit verhaftet waren und dem Sprachgebrauch ihrer Zeit und den Moralen ihrer Zeit; darin bewahren eben auch sie das schwere Unrecht der Zeiten. Es war – und ist – ein Teil ihres Selbsts. Mit dieser Ambivalenz müssen wir leben. Nicht nur wir Deutschen, sondern wir Engländer auch und wie Franzosen, wir Russen, Italiener, Spanier – kurz: die Europäer.
Wenn ich Shakespeares Kaufmann von Venedig sehe, wird mir schlecht; zugleich muß ich bewundern. Das meine ich mit Ambivalenz. Erwachsen zu werden, bedeutet, in ihr leben zu lernen. Das gilt auch für, ich weiß nicht mehr, ob ich das schreiben darf, schwarze Deutsche, ebenso wie für Deutsche mit orientalischem, asiatischem und welchem Hintergrund auch immer.
Indem ich in ein neues Land eintrete und dort lebe, trete ich ebenso in seine Geschichte ein, wie wenn ich in ein Land hineingeboren wurde; zugleich bringe ich ihm eine andere Geschichte, nämlich die meiner eigenen Herkunft, mit, und ebendas kann, gemeinsam mit anderem, die Zukunft der Geschicht e n verändern, nicht aber je ihre Vergangenheiten. Menschen mit Migrationshintergründen werden diese Hintergründe noch nach Generationen als ihre je eigene Geschichte haben, was genau zugleich ein Teil ihres Reichtums ist, der, wenn es gutgeht, sich mit den anderen Geschichten amalgamiert, und andere Kinderbücher werden geschrieben werden, die neben den alten im selben Regal stehn.
Es geht in der Diskussion noch um etwas ganz anderes als die geforderte „gerechte Sprache“: Hintergründig wirkt eine Forderung nach Auslöschung von Unterschieden. In astefanowitchs Podcast wird das deutlich: Er wolle nicht dauernd, weil er eine andere Hautfarbe habe als die meisten übrigen, gefragt werden, woher er denn komme. Das ist verständlich, dennoch unvermeidlich, schlichtweg deshalb, weil ein Unterschied sichtbar ist und die Menschen neugierig sind. Darin liegt überhaupt keine Abwertung; vielmehr, wenn jemand fragt, wird Interesse an dem Menschen bekundet. Niemandem von uns „Weißen“, die oder der sich sogar auch nur in Süditalien niederließe, erginge es dort anders; auch wir würden gefragt und vielleicht auch unsere Kinder noch – bis ein Grad der Vermischung erreicht ist, der solche Fragen müßig macht. Dann erst wird ihr der Anlaß fehlen.
Zugleich möchte sich die Neugier aber auch bereichern, den Menschen, der fragt, anreichern, nämlich mit etwas, das er, hofft er, vielleicht noch nicht kennt und annehmen kann. Und wie oft geschieht das! Die Geschichte der Musik bringt es in unsere Ohren. Überhaupt ging Kunst seit jeher so mit andren Künsten um; so befruchtete sich der gesamte Jugendstil aus dem Orient, so Gaugins Malerei aus den Künsten der Südsee, so Zenders, Platz‘ und Scelsis Kompositionskunst aus den Klangwelten des asiatischen Raums, so der weiße Jazz am schwarzen.
Die Unterschiede lagen auf der Hand, waren sicht- und hörbar. Das sollte bei Menschen, die doch diese Kunst hervorgebracht haben und weiterhin hervorbringen, anders sein? Zugleich sind besonders mit Hautfarben riesige Assoziationshöfe, die ebenfalls geschichtlicher und damit kultureller Natur sind, verbunden. Ein jeder von uns trägt sie mit sich, ist sie; sehr deutlich wird uns das aber immer nur dann, wenn ein sichtbarer Unterschied da ist, also bei Minderheiten innerhalb von Mehrheiten.
Wenn ich als vergleichsweise älterer Mann in einen Club gehe, den vor allem Teenies frequentieren, werde ich selbstverständlich auffallen und Neugier, aber auch Abwehr auslösen, oder sogar Spott. Da spielt es gar keine Rolle, ob alle Teenies dort von heller Haut sind oder ob sich dunkelhäutigere dazwischen befinden. Es ist rein dasselbe Prinzip, und es ist nachvollziehbar. Wobei ich mir des Umstands bewußt bin, daß ihrerseits die Verwendung des Begriffs „Teenie“ nicht ohne einen diskriminierenden Anteil ist; er verdeutlicht aber, was gemeint ist, und ist abstrakt genug – allgemein genug -, um niemanden Bestimmtes persönlich zu treffen.
Ich beharre also auf einer Unterschiedlichkeit der Menschen, die ihre Herkünfte mitdenkt und, soweit es geht, mitfühlen möchte. Will man mich deshalb einen Rassisten nennen, so soll man das tun, auch wenn ich meine, daß es eine Verharmlosung des Begriffes wäre und aus reiner Demagogie, wenn auch einer der guten Absicht, Bemühung um Differenziertheit mit jenem Mob in einen Topf wirft, der in der Tat nicht nur im Wort abschätzig dahertobt, und eine ihrerseits geschichtsunwissende Demagogie dazu, die einer Ideologie von Gleichheit anhängt, deren eigentliches Ziel ihr verborgen blieb.
Aus astefanowitschs Podcast wird noch etwas anderes deutlich, nämlich eine überaus nachvollziehbare Unverbundenheit mit der Kultur, in der er jetzt lebt, das heißt wiederum: mit ihrer Geschichte. Selbstverständlich ist er Teil einer, bzw. der Jugendkultur, aber diese selbst hat sich US-amerikanisch formiert, nicht etwa aus den Kunsttraditionen Europas. Dafür gibt es gute, aber auch schlechte Gründe, die zu diskutieren ich längst anderswo unternommen habe; Tatsache bleibt eine gewisse Unverbundenheit mit Europas Kultur zugunsten eines meist englischsprachigen Bezugssystems, das seinerseits, und zwar marktvermittelt, kolonial agiert und den scheinbar darin überwundenen Kolonialismus de facto fortsetzt. Doch, wie gesagt, anderes Thema, wenn auch mit dem hier verbunden.
Was ich eigentlich erzählen möchte, ist, daß ganz natürlicherweise Mütter und Väter, die aus anderen Kulturen nach Deutschland kamen, ihren hier bereits als Deutsche geborenen Kindern die Lieder und Geschichten ihrer eigenen Kindheiten vorsingen werden; das sind kulturell sicher keine europäisch verwurzelten; und deren Kinder und vielleicht noch Kindeskinder werden es ebenso mit wiederum ihren Kindern so halten. Es ist mehr als verständlich, wenn astefanowitsch sagt, es sei ihm doch völlig egal, ob „Pippi Langstrumpf“ oder „Die kleine Hexe“ im Regal seiner Kinder stünden; die Bücher könnten da gerne auch fehlen. Ja, das können sie; sie gehören dennoch in den Kulturraum dieses Landes, und zwar mit allen Fehlleistungen, die in ihnen enthalten sind. Für jemanden, etwa, der in der islamischen Diaspora sozialisiert wird, spielt auch Shakespeare wahrscheinlich keine Rolle.
Das muß er auch nicht.
Er spielt aber, auch mit dem rassistischen Kaufmann von Venedig, aus kunstästhetischen Gründen, wie zugleich aus moralischen, eine riesige Rolle in der europäischen Kultur, und zwar allein schon über die Wirkung, die dieses Stück auf wieder andere Werke genommen hat, die sich teils davon abgesetzt, teils Schlüsse aus ihm gezogen haben. Wir leben in Strömen aus Herkünften und Wirkungen, die ihrerseits Herkünfte werden. Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Wir sind nicht, wie es der Markt gerne will, je nach Produktionslage verpflanzbar; wir wären, anders, Replikanten. Bücher umzuschreiben, bedeutet, uns selbst und unsere Kinder als solche Replikanten freiwillig anzubieten.
Da spielt es nicht einmal eine Rolle, ob die in den Blick genommenen Bücher und Filme und Bilder tatsächlich in die Kunst gehören, denn wenn wir beginnen, haben wir die Tür aufgestoßen, durch die fortgesetzt werden wird, und zwar stetig eskalierend. Immer werden sich Gruppen finden, die sich durch Wörter, Formulierungen, Wertungen zu Recht verletzt fühlen und Entfernung verlangen werden; möglicherweise wird dies, ist der Damm einmal gebrochen, auch die Gerichte beschäftigen, und es wird weitere und immer weitere Gesetze geben, die aus der gemeinten Freiheit schließlich auf Schritt und Tritt verminte Äcker machen werden; wir werden in einem Korsett aus Vorsichten leben, und die Kunst wird nicht erst, wie Adorno meinte, einer befreiten Gesellschaft absterben, sondern einer, die sich festgenagelt hat, und zwar eigenhändig. Und jedes neu geschriebene Buch, das veröffentlicht werden soll, wird von Kommissaren vorbegutachtet werden.
Doch geschieht im Umschreiben von historischen Texten noch etwas anderes, etwas, das Zusammenhänge, wiederum Geschichte, wegschmiert. Zwar kann man sagen, es sei doch harmlos, wenn aus Lindgrens „Negerprinzessin“, um Diskriminierung zu vermeiden, „Südseeprinzessin“ gemacht worden sei; das störe doch die Geschichte nicht, tangiere sie nicht einmal; ebenso wird bekanntlich im Fall der kleinen Hexe argumentiert. Bedenklich ist tatsächlich nicht ein nun plötzlich anderer Plot.
Genau in dieser Plotbezogenheit liegt – bei Kunst ist das immer so – das Problem. Nicht die Erzählung allein ist, was die Sprache erzählt. Wenn die Hautfarbe der Südseeprinzessin egal ist, wenn sie auch ebensogut hellhäutig sein könnte, wird sich einem „weißen“ Kind ein weißes Bild der Südsee bieten; daß dort einmal die „Weißen“ eingefallen sind, geht da gänzlich in der Prägung dieses Kindes verloren, und nun hat der Kolonialismus, seelisch, tatsächlich gesiegt. Nein, die Südseeprinzessin war eben dunkelhäutig, weil der gesamte Südseeraum damals ausschließlich von dunkelhäutigen Menschen bewohnt gewesen ist; ihre, nicht der Weißen, Heimat ist er gewesen, und daß er heute gemischt besiedelt ist, ist einer Geschichte aus Gewalt und Unterdrückung abgeschuldet worden, die sich brutalst durchgesetzt hat und im Begriff „Neger“ widerspiegelt. Die Südsee- statt der Negerprinzessin tilgt diese Spur.
Und da folgt nun auch gleich ein mehr oder gar nicht verklausuliertes Argument, das nur allzu bekannt aus doktrinären Staatsformen ist: Es sei den Eltern nicht zuzumuten, im schlimmeren Fall: nicht zuzutrauen, im allerschlimmsten: die meisten vermöchten es nicht, ihre Kinder entsprechend aufzuklären; dahinter mag eine in manchem Fall berechtigte Befürchtung stehen, sie wollten es auch nicht. In jedem Fall wird den Eltern die Erziehungsbefugnis entzogen und auf Instanzen übertragen, sei es solchen einer richtigen Gesinnung, sei es solchen „freiwilliger“ Selbstkontrollen, sei es de facto staatlichen.
Dies ist ein extrem scharfer Einschnitt und will die leibliche Vormundschaft, also wiederum Herkunft, durch abstrakte ersetzen. Noch die DDR war, gewalttätigst, zu bestimmen angestrengt, was das Volk zu lesen bekomme und was nicht; zu „nicht vermeidbaren“ Büchern wurden lange moderierende Vorworte geschrieben, die, wer solche Dichtung dann erstand, als allererstes hinausriß.
Nein, es i s t Eltern zuzumuten, auch solchen mit Migrationshintergrund, ihre Kinder aufzuklären oder sich anderweitig zu ihnen zu verhalten, wenn es um historisch begründete Ambivalenzen geht; es ist sogar ihre elterlich liebende Pflicht, ist ihr elterlich liebendes Recht. Daß dem nicht alle nachkommen können oder wollen, rechtfertigt nicht, es auch den übrigen zu nehmen. Menschen sind nicht gleich. Dafür, jeden Tag, danke ich meinen Göttinnen. Möge man mich einen Rassisten also nennen.

ANH, Berlin.
Allan Pettersson, Neunte Sinfonie.
9.55 Uhr.

105 thoughts on “Ich, der Rassist. (Anstelle eines Arbeitsjournals. Am Sonnabend, dem 19. Januar 2013.)

    1. liberale Geschäfte Danke für den interessanten Text.

      Ich glaube indes, daß wir alle, was einmal gewesen ist, tragen müssen,

      Toleranz war ja einst mit Liberalen verbunden und stammt wahrscheinlich ganz profan daher, dass der Handel treibende von je mit vielen unterschiedlichen Kulturen zu tun hatte, während Bauern und Handwerker sich bornierten Chauvinismus leicht leisten können.

      Ich bringe das ins Gespräch, weil die aktuelle Debatte ja von Verlagsmitteilungen angestoßen wurde, aber ich habe nicht erlebt ob nachgefragt wurde, ob die Überarbeitung der Versuch sind die Kunden zu erziehen, oder ob der Verlag dem Bedürfnis der Mehrheit der Kunden folgt.

      Das mag nicht so besonders spannend sein, ob der Verlag die Vorhut des gewandelten Bewußtseins ist, oder die Nachhut, also lasst uns ein Gedankenexperiment machen: Der Verlag würde 2 Versionen der Bücher pflegen, eine Originalfassung und eine adaptierte. Dann könnte sich jeder aussuchen, ob er „alles tragen will, was war“ oder eine glatte Geschichte erzählen.

      Wenn Rassismus überwunden wäre – für wen müsste man die Dokumente des Rassismus weitertragen – außerhalb von Museen? Macht es einen Unterschied, ob es um Kindermärchen geht oder Jugendbücher, Jugendbücher oder Literatur für Erwachsene, Hochkultur oder Alltagsprodukte?

      Ist es nicht auch das Recht der Gegenwart neue Dokumente zu schaffen, die eben unsere heutige Empfindlichkeit dokumentiert? Ich habe die meisten Kinderbücher nicht so präsent um zu sagen, ob diese noch funktionieren, wenn man die Atmosphäre, die durch damalige Bilder vermittelt und geprägt wurde, entschärft. Die Bilder haben aber eine doppelte Funktion, in dem sie die Vorstellungswelt einerseits schaffen, und andererseits von Vorstellungen abhängig sind, die durch andere Bücher oder Kulturprodukte geschaffen wurden.

      In meiner Kindheit gab es keine schwarzen Menschen, denen ich leibhaftig begegnet bin, sondern nur die Märchengestalten und später erst Filme. Neben Pippi also Tarzans und Robinsons Begegnungen mit gruseligen Kannibalen. Diese Geschichten verändern ihren Charakter dramatisch, wenn man den Kannibalismus daraus eliminiert. Unsicher darüber, inwieweit solche Kindheitsbilder einen Rassismus befördern würde ich solche Bücher eher liegen lassen. Es gibt ja andere Bücher auch. Ich muss es eben nicht tragen.

      Dass aber schon viel gewonnen ist dadurch, dass man eine Handvoll Bücher redigiert und notfalls aussortiert? Naja – das eine ist der eine Verlag, und das andere sind andere Verlage. Wenn das jeder Verlag macht, und andere Medienschaffende, dann wird aus vielen, kleinen Stichen, die entfernt werden, ein großer Effekt. Das denke ich doch.

    1. @Keuschnig: Eher s o. „um die Frage, wie man verhindern kann, daß geschehene Diskriminierung als noch nicht überwundene empfunden wird“. Ich habe versucht, das mit dem Stolz zu fassen, den einen das Überwundenhaben fühlen läßt – Stolz darauf, sich befreit zu haben. In der Betroffenheit durch ein Vergangenes wirkt das Vergangene als n i c h t-Vergangenes weiter. Mich tangiert es heute überhaupt nicht mehr, wenn ich im Ausland als „Kraut“ bezeichnet werde; ich weiß, wo ich stehe und wer ich bin. Diese innere Emanzipation ist das, worauf es ankommt; sie läßt sich nicht erreichen, indem man auf dem Papier löscht, was ihr entgegenstand oder noch -steht. Und man wird, unterscheidet sich jemand, i m m er Versuchen ausgesetzt sein. durch Diskriminierung geschwächt zu werden.

  1. solcher, Ihr Furor … … gegen die so genannte „political correctness“ und ihre un-historische Begriffsverheerung ist zwar berechtigt, verwirkt aber seine Berechtigung gerade dadurch, dass der Sprecher sich gegenüber den Opfern der Unsprache selbst als Opfer geriert. Und zuweilen – in den Nebenästen der Argumentation (wie etwa bei dem „Sechzigerjahrebau der Neuen Heimat …: trist, karg, depressiv“) – die sonst hohe Ebene der Verfertigung der Gedanken zu jener simpler Polemik verlässt, die er – wie gesagt mit Recht – kritisiert. Geschenkt und dem (westdeutschen) Plattenbau zur Ehrenrettung gesagt. Was mich eher bekümmert, wie sehr „deutsch“ hier wieder anklingt, dass der schuldbeladene Deutsche doch in seiner Sprache zumindest nicht der Täter sei, wenn er sie verteidigt. Um es klar zu sagen: Deutsche, welcher politischer oder denkungsartiger Couleur auch immer, waren und bleiben – auf alle Zeit! – Täter und haben somit kein Recht, sich – selbst über fehlgeleitete Sprachkritik – hinwegzusetzen – zumal nicht mit solcher Wortgewalt. Das mag apodiktisch klingen, ist aber hier angebracht – sorry …

    1. Scharfes@oegyer Veto! Ich bin kein Täter, noch ist es mein Sohn. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, ja faschistoid-selbst, die schwere Schuld von Toten auf Kinder zu übertragen, die diese toten Verbrecher nicht einmal gekannt haben.
      Das heißt nicht, daß ich nicht für die Geschichte meines Landes und meiner Kultur einstehe, im Gegenteil: Es erwächst daraus für mich eine Verpflichtung. Diese kann aber nicht auf andere übertragen werden, sondern man selbst nimmt die Verpflichtung an oder nicht.
      Eine Pflicht zu schweigen zu irgendwelchen politischen oder andersmoralischen Vorgängen habe ich nicht. Ich wurde 1955 geboren, zehn Jahre nach dem, endlich!, Untergang des Dritten Reichs. Ich bin nicht schuldig. Und werde genau das für jedes Neugeborene verteidigen. Und für jeden jungen Menschen, auf den man die Schuld projeziert.
      Ihre Haltung entspricht derjenigen eines Richters, der für die nichtgesühnte Vergewaltigung durch den Großvater dessen Enkel hinter Gitter bringt. Anders gesagt: Hier argumentieren Sie, nicht ich, völkisch.

      Haben Sie KInder? Falls nicht, fällt es Ihnen alleine deshalb leicht – leichtfertig und inhuman ist es, zu schereiben, was Sie hier schrieben. Lehnen Sie sich einen Moment zurück und denken, bitte, mal nach.

    2. @scharfes Veto Ich fand meinen Einwand recht konsiliant. Ob Ihres scharfen und unreflektierten Vetos fühle ich mich eher bestätigt in meiner – ebenso apodiktischen – Argumentation. Unser beider Positionen gegenüber der deutschen Schuld – über alle Generationen – sind gleichwohl so abgenudelt und verbreitet in den jeweils zwei Lagern, dass wir das nicht weiter zu vertiefen brauchen. Reichlich seltsam finde ich dennoch Ihre Frage, ob ich Kinder habe. Habe ich nicht. Aber was ist das denn für eine Diskriminierung meiner Argumentation, nur weil sie dreie haben (ihren Sohn und die Zwillinge)? Das macht mich jetzt etwas ratlos. Könnte es sein, dass Sie sich etwas verrennen? Es sei Ihnen zugestanden. Sie finden mich dennoch zurückgelehnt und durchaus nachdenklich.

    3. @oegyer Um es klar zu sagen: Deutsche, welcher politischer oder denkungsartiger Couleur auch immer, waren und bleiben – auf alle Zeit! – Täter und haben somit kein Recht, sich – selbst über fehlgeleitete Sprachkritik – hinwegzusetzen – zumal nicht mit solcher Wortgewalt.
      Darin klingt eigentlich nur die Angst vor dem Argument (der „Sprachgewalt“). Daher muss eine Haltung verkündet werden, der eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema gar nicht zuläßt, weil sie derart wuchtig daherkommt und alles niedermäht. Das ist ein rhetorischer Trick, der, wenn er Konsens würde, fatale Folgen zeitigen könnte.

      Sie werden es nicht schaffen, mir irgendeine „Täterschuld“ anzudichten (ich bin noch jünger als ANH). Das ist nicht nur unhistorisch, sondern auch totalitärer Blödsinn. Es mag Sie entlasten, denn Denken braucht man dann nicht mehr; das ist womöglich bequem.

    4. @Tom Wie oft ich diesen Einwand schon gehört habe. Egal: Für mich besteht die Übernahme der Verantwortung in der Anerkenntnis der Schuld jedes Deutschen, auch jedes nachgeborenen Deutschen. Einer Schuld, die durch nichts zu tilgen ist, schon gar nicht, indem man sich – typisch deutsch – selber als Opfer gegenüber Anschuldigungen der Opfer zu gerieren versucht.

    5. Kinder@oegyr. Es ist ein Argument des Erlebens. Sätze, wie Sie sie da schrieben, könnten Sie nicht schreiben, stünden Sie vor einem Kleinkindsbett; Sie sagten da nicht, und zeigten aufs Kleine: „Das ist schuldig. Das muß büßen.“ Es sei denn, Sie wären Sadist.

      Aber diese Argmentation, insgesamt, gehört nicht hierhin, >>>> Herr Keuschnig hat recht: Sie verschmiert, anstatt zu klären. Ob sie verschmieren will, stehe einmal dahin. Was aber die Täterschaft anbelangt und den Täter, der sich zum Opfer mache, so liegen auch hier die Dinge komplizierter. Ich war nie ein Täter, aber wurde als Kind, in der Schule, als einer behandelt, auch von Lehrern. Das lag alleine an meinem Namen. Die einen haben dunkle Haut, die andren einen Namen. Die Dynamik ist fast immer die gleiche.
      Damit haben Sie allerdings recht, daß ich kein Opfer bin. Ich bin es nicht mehr, schon seit langem nicht. Es kostete aber ein bißchen Anstrengung, mich da rauszudrehen. Mein Vater hat sich reingedreht, da hinein und in die Schuld, die er überhaupt nicht hatte. Es gibt kaum etwas Widerlicheres als den Erbschuldgedanken; nur noch seine Durchführung ist schlimmer.

    6. @Keuschnig Ich will Ihnen keine Täterschuld andichten, Sie haben sie als Deutscher – punktum (wie gesagt, ich argumentiere nicht weniger apodiktisch als ANH). Wenn sie das nicht so sehen, überlassen Sie es doch bitte mir, jedenfalls für mich diese Schuld zu bekennen und anzunehmen. Sie haben Recht, das könnte man auch als rhethorischen Kniff sehen, der sich wiederum entschuldet, indem er die Schuld ostentativ auf sich nimmt – auch typisch deutsch, da ähneln sich die deutschen Leugner und Bewussten der Schuld. Und wie Sie sehen erfasst mich der herbstsche Furor selbst …

    7. 2. Mose 20, 5.

      Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der HErr, dein GOtt, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen.Mehr werde ich zu diesem Seitenthema der Diskussion nicht mehr sagen. Sondern führe zurück auf den eigentlichen Gegenstand des Beitrags, in dem es um nachträgliche Revisionen in Büchern geht.

    8. @Kinder Da ich den Marxschen Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, für wahr halte, will ich Ihnen dieses Argument zugeben, dass mir womöglich erlebtes Sein (und damit Bewusstsein) fehlt, was den Blick in Kinderbettchen und -augen betrifft. Nicht zugeben kann ich Ihnen indes, dass meine Argumentation am „eigentlichen Thema“ vorbeigehe, es „verschmiere“. Ich habe eher den Eindruck, dass mein Einwand auf das Wesentliche Ihrer Argumentation zielt, nämlich den darin verborgenen, unterschwellig mitschwingenden Versuch Ihrer Ent-Schuldung, der, wie ich nicht das erste Mal bei Ihnen lese (und das solidarisch und voller Interesse), Sie schon seit Jugendzeiten umtreibt. Sie werden dennoch bemerkt haben, dass ich Sie nicht wie die 68er und ihre Adepten reflexhaft als Träger eines schuldbeladenen Familiennamens anklage, sondern Sie wie jeden Deutschen, auch die Kinder und Kindeskinder, und damit auch mich, geboren 1964, nicht aus der Schuld entlassen will, die m.E. eben unabhängig von Herkunft oder familiärer Verstrickung in den Völkermord der Nazis für jeden Deutschen auf ewig besteht. Beim Umgang mit solcher Schuld kann man freilich dennoch das Haupt hoch tragen, indem man sie als Auftrag zur Verantwortung sieht. Und meistens tun Sie das ja genau so – nur hier sind Sie weinerlich ob dessen, dass Ihnen vermeintlich jemand das Wort – das material des Dichters – verbieten will.

    9. @oegyer Diskussionen sollte man aufhören, wenn Zuordnungen wie „typisch deutsch“ zu veritablen Totschlägern herangezogen werden.

      Ich habe nichts gegen apodiktische Urteile. Aber sie sollten ein Mindestmaß an Rationalität aufweisen. Ansonsten sind sie einfach nur komisch, ja lächerlich.

    10. @Totschläger „Ich habe nichts gegen apodiktische Urteile. Aber sie sollten ein Mindestmaß an Rationalität aufweisen. Ansonsten sind sie einfach nur komisch, ja lächerlich.“ Was dann aber auch ein Totschlagargument als Retourkutsche wäre, oder?

      Interessant finde ich die Diskussion dennoch, indem sie zeigt, wie wir Diskutanten versuchen, den jeweils anderen dialektisch auszumanöverieren. Indes: auch Dialektik muss man können (wobei ich von mir gar nicht behaupten wollte, ich könnte sie – ich bin darin vielleicht gerade mal nicht ungeübt). Es ist schon nicht unerheblich, wenn ANH mir in seinem Einwand vorwirft, meine universale Schuldanerkenntnisforderung sei „völkisch“, „totalitär“ und zudem nicht kinderlieb 😉 Nicht minder interessant – so stichele ich mal -, dass er zudem Alttestamentarisches zitiert, um es urch das bloße Zitat als „inhuman“ zu widerlegen, namentlich den „bis ins vierte Glied“ zürnenden Gott. Man lasse sich genau dieses Zitat im Hinblick auf meine Argumentation auf der Zunge zergehen – zumal wenn es ein Zungenkünstler und Aromenerfahrener wie ANH in diesem Zusammenhang in Anschlag bringt. Bin ich jetzt böse? Ja, ein bisschen. Aber ANH wird’s verstehen – und aushalten 🙂

      Und ich mache mich dann gerne auch mal „lächerlich“, wenn es der denkenden Sache dient.

    11. …wenn es der denkenden Sache dient
      Das ist ja genau nicht der Fall, weil Ihr unbefragbares apodiktisches Urteil jegliche Denkmöglichkeit per se negiert. Das ist ja gerade der Trick; auch in der sogenannten „Antisemitismus“-Debatte: Diejenigen, die ihre Urteil zum Dogma machen können sofort jeden Andersdenkenden und -argumentierenden ebenfalls zum Antisemiten machen.

      Bezogen auf diese Diskussion bedeutet das, dass jeder, der sich nicht in den „korrekten“ Anzug des ewigen Täters pressen lässt (sind es denn vielleicht auch 1000 Jahre?), zur Täter-Kategorisierung noch einen weiteren Status verliehen bekommt: den des Leugners oder Verdrängers (wenn nicht Schlimmeres). Er wird damit zu dem, was sowieso schon als Behauptung gilt. Diesen Pseudo-Zirkel brauchen sie nun immer wieder nur neu anzuwerfen – schon glauben Sie den Diskutanten in der Falle.

      ANHs Totalitarismus-Vorwurf diesem Vorgehen gegenüber finde ich berechtigt. Auch das Attribut „völkisch“ finde ich auf eine paradoxe Art zutreffend: Wie immer wollen die Deutschen perfekt sein und wenn es sein muss dann in der Rolle des für ewige Zeiten Schuldigen. Das perfide in dieser „Argumentation“ bemerken Sie nicht: Es liegt darin, dass es über die Hintertür auch befreiend wirkt. Sie spielen mit dem christlichen Beichtsakrament – und waschen sich auf diese Art und Weise rein. Herbsts Verantwortungsposition ist viel anstrengender, weil sie kein Suhlen in der Reue zulässt.

    12. Völkisch@Keuschnig. Wenn an Oegyrs Meinung etwas wäre, stellte sich die bizarre Frage, ob denn die neuen Deutschen, um deren Schutz es in dieser Diskussion doch offenbar geht, ob diese neuen deutschen Bürger mit Migrationshintergrund denn auch Schuld an den Verbrechen der deutschen Vergangenheit trügen, ob nun auch sie mitzubüßen hätten, eben, weil sie Deutsche seien? Oder ob sich die Berufung auf Erbschuld nicht doch besser aus einer Stammeslinie ableiten läßt, was freilich Oegyr >>>> dort bestreitet. Denn der komplette Anlaß des Streites würde ansonsten ad absurdo geführt.

    13. @Oegyr (Und als Versuch eines Nachsatzes zu Gregor Keuschnigs
      „Herbsts Verantwortungsposition ist viel anstrengender, weil sie kein Suhlen in der Reue zulässt.“)

      Diese Verantwortungsposition und die damit verbundenen Mühen schildert ANH doch deutlich, wenn er nicht nur ein Sichtbarmachen und -bleiben fordert, sondern auch eine Förderung der sich daraus ergebenen Diskussionen. Eine Löschung der inkriminierten Wörter bedeutete ja letztlich ein Schweigen über Geschichte, und über — m.E. vergangene — Schuld. Ein solches Schweigen wäre in der Tat verantwortungslos.

      Was ist denn Ihre Konsequenz aus der Vergangenheit der Deutschen, in deren Verbindung Sie eine — dauerhafte — Schuld sehen?

    14. @ANH/völkisch Über >>> dieses Argument hab‘ ich lange nachgedacht, zumal es die „moralische“ Diskussion über den Allgemeinschuldbegriff gleichsam „logisch“ zu widerlegen versucht. Ich würde mal so antworten: Die Schuldzuweisung an ALLE Deutschen bezieht sich – im Sinne einer für die Schuld zu tragenden Verantwortung, nicht im Sinne von „Reue“ oder „Büßertum“ – auf all jene, die Angehörige des deutschen Kulturraums sind, sprich in und mit diesem aufgewachsen sind. Richtig ist, dass dieser Kulturraum inzwischen mehr und mehr schwer zu definieren ist, indem er durch Einwanderung andere Kulturen, z.T. bereits in dritter Generation, mehr und mehr „verwischt“ oder auch „multikulturell“ sich neu gestaltet.

    15. @Ögyr und zu Keuschnig: Mischland. Da liegt eben, meines Erachtens, der Fehlgedanke. Deutschland ist nämlich immer Misch- und Einwanderungsland gewesen. Auf welche Angehörigen des deutschen Kulturraums beziehen Sie sich denn? Zum Beispiel ist eine deutsche Kultur, schon gar eine des deutschen Kulturraums, ohne den jüdischen Anteil schlichtweg nicht vorstellbar, und tatsächlich haben sich sehr viele jüdische Bürger mit diesem Kulturraum identifiziert, von Kafka über Kraus, der ein erbitterter Fürredner der Assimilation war, bis Benjamin und lange nachher nachfolgende.
      Nie bestritten habe ich eine Verantwortung, im Gegenteil, ich habe sie sogar herausgehoben, aber als eine nicht wegen einer Schuld, die ich zu verantworten hätte, das habe ich in der Tat nicht, sondern als Aufgabe, die eben meine Kultur mir stellt. Ich kann sie annehmen oder auch nicht. Fest zu definieren war gerade der deutsche Kulturraum nie, und zwar insofern er in keiner Zeit der Geschichte mit den Nationalgrenzen übereinstimmte.
      Sie geraten mit Ihrer Zuweisung aber durch den Ausschluß in heftige moderne Probleme, denn gerade die Deutschen mit Migrationshintergrund in der zweiten, bzw,. dritten Generation legen besonderen Wert darauf, als Deutsche vollkommen akzeptiert zu sein. Und eben das schwingt in der Diskussion der Buchveränderungen ständig mit. Wieso soll dann der eine „volle“ Deutsche mehr verantwortlich sein als der andere? Das ließe sich nur durch Erbfolge begründen, abgesehen davon, daß sehr viele junge auch in der Erbfolge stehenden Deutschen zur deutschen Kultur einen sehr viel geringeren Zugang haben als zur US-amerikanischen, mit der sie sozialisiert wurden. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, wird er in der Tat gefährlich, kulturell gesehen, weil er letztlich auf Auslöschung der deutschen Kultur hinausläuft, damit damit auch auf Auslöschung großer Teile der Aufklärung.
      Es ist nicht einzusehen, daß, wenn so etwas denn sein soll, es nicht auch Folge der im Namen anderer Kulturen verübten Pogrome gelten soll. Auch hier proklamieren Sie abermals einen Sonderstatus der Deutschen, ja des Deutschen. Und damit hat dann abermals >>>> Keuschnig recht. Ich schrieb in dem Zusammenhang einmal von der negativen Selbstheroisierung der Deutschen. Genau sie steht einer tatsächlich Verarbeitung der Vergangenheit entgegen und meißelt die Schuld als einen W e r t fest.

    16. @ANH zu Mischland (und zu Ögyr) ANH schrieb: Zum Beispiel ist eine deutsche Kultur, schon gar eine des deutschen Kulturraums, ohne den jüdischen Anteil schlichtweg nicht vorstellbar, und tatsächlich haben sich sehr viele jüdische Bürger mit diesem Kulturraum identifiziert, von Kafka über Kraus, der ein erbitterter Fürredner der Assimilation war, bis Benjamin und lange nachher nachfolgende. Wohl wahr – und wohl noch ein besseres Argument gegen mein Beharren auf der Allgemeinschuld „der Deutschen“ (wer die seien, steht in der Tat in Frage) als alles andere Hahnebüchene, das hier zuweilen von anderen Diskutanten dagegen geäußert wurde. Allerdings: Auch Sie begeben sich hier auf das sehr dünne Eis der Behauptung, dass die Juden auch ein bisschen selbst Schuld seien an ihrem Holocaust. Ich weiß, Sie meinen das überhaupt nicht so, aber es gibt in solchen Debatten seit dem „Historikerstreit“ welche, die das als Material für ihren nur schwach verhehlten Antisemitismus verwenden. Sie könnten also Beifall von ganz falscher Seite erhalten.

      Und – aside: Das war ja auch mein Ansinnen, in der nur vermeintlich vom „eigentlichen Thema“, nämlich der nachträglichen „Bereinigung“ von Begriffen, die nicht „political correct“ sind, abweichenden Diskussion auf die Metaebene zu verweisen. Nämlich im Sinne eines „cui bono – wem nützt es?“ Ihre durchaus berechtigte Klage gegen die (unhistorischen) Begriffstilgungen hebt an mit einer Klage über einen schon erwarteten Rassismusvorwurf (den indes niemand Ihnen gemacht hat, zumindet nicht in dieser Debatte hier – vielleicht hätten Sie ihn gerne, um sich bestätigt zu fühlen?). Das ist ein Modus, den wir seit Walser und Grass kennen: Man provoziert, damit man hinterher beleidigt sein kann, dass die „politisch Korrekten“ einem das Wort verbieten und man dann greinen kann, dass man „sowas doch auch mal sagen dürfen muss“. Auch Grass nahm ja den Vorwurf gegen sein Gedicht schon gleich darin vorweg. Nicht minder tun Sie es, wenn sie so einleiten: Es wird so weit kommen, daß man mich einen Rassisten nennen wird, egal, ob ich es in meinem Verhalten oder meinen Handlungen gegenüber anderen Hautfarben, Kulturen, Religionen bin. Eben diese sich schon vorab als „Opfer“ der Gegensprecher gerierende Larmoyanz hat mein Argument gegen die Entschuldung und für die Geamtschuld aller Deutschen provoziert. Hätten Sie die – in der Tat geradezu putzigen – Umschreibungsversuche mit weniger larmoyantem und selbstgefälligem (wobei ich in meiner Argumentation vielleicht auch der Selbstgefälligkeit anheim falle) Pathos kritisiert, wäre ich durchaus d’accord gewesen. So aber musste ich „Dahinterstehendes“, den üblichen Entschuldungsversuch, vermuten.

      ANH: Nie bestritten habe ich eine Verantwortung, im Gegenteil, ich habe sie sogar herausgehoben, aber als eine nicht wegen einer Schuld, die ich zu verantworten hätte, das habe ich in der Tat nicht, sondern als Aufgabe, die eben meine Kultur mir stellt. Ich kann sie annehmen oder auch nicht. Genau: „oder auch nicht“. Ich wollte indes genau diese Wahlfreiheit in Frage stellen angesichts der Schuld, die nicht zu tilgen ist und daher auch nicht durch so einen – oder manch anderen – Relativismus erlischt. Nocheinmal – gerade zu den Einwendungen, auch andere Nationen, Kulturen oder wie auch immer hätten Schuld auf sich geladen: Sicher richtig, gleichwohl stellt die deutsche Schuld am Holocaust eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte dar. Und die kann man auch nicht dadurch wegreden – wollen Sie ja auch gar nicht, andere, die Ihnen beipflichten, schon –, dass dies eben auch wieder ein Rekurs auf die deutsche Sonderrolle sei und damit „sehr deutsch“, wie ich ja selbst schon einlenkte. Es ist nun mal so, dass der Holocaust die schlimmste Verirrung, das schlimmste Verbrechen ist, das es bislang gegeben hat – gerade in seiner minutiös von „deutschen“ (sogar Sekundär-) Tugenden ausgeführten Art (wie berits Adorno und Horkheimer feststellten). Es ist infam, wenn auch schon vor bald 30 Jahren im „Historikerstreit“ geäußert, die Verbrechen Stalins oder anderer Völkermörder damit zu vergleichen. Bei aller ebenfalls Grausamkeit und Menschenverachtung haben sie einfach nicht solche Dimension. Wie gesagt, das dichte ich nicht Ihrer Argumentation an, aber Sie werden bemerkt haben, dass genau solche Argumentationsstränge in der hiesigen Diskussion auftauchten. Gegen manche haben Sie opponiert, das halte ich Ihnen zugute, manchen haben Sie aber auch zugestimmt wie hier: Es ist nicht einzusehen, daß, wenn so etwas denn sein soll, es nicht auch Folge der im Namen anderer Kulturen verübten Pogrome gelten soll.

    17. @oegyr; zur passiven rolle. wer, lieber oegyr, beruft sich denn hier auf die (ich will nicht sagen opfer- aber zumindest:) passive rolle? in Ihrer letzten erwiderung auf anh geben Sie an, Ihre these von der „erbschuld“ ‚der‘ deutschen sei von einer vorgängigen larmoyanz anhs ausgelöst worden. versuche Sie also, nun Ihrerseits die passive rolle zu reklamieren?

      abgesehen davon: die steilste these, eben jene von der „erbschuld“, scheint mir in diesem strang von Ihnen zu kommen. eine genaue begründung dieser würde mich interessieren bzw. wie Sie eine solche vermitteln würden. im moment scheint mir Ihre argumentation noch sehr ‚theologisch‘ zu sein in dem sinne, dass Sie eine „mosaische unterscheidung“ treffen: wer den einen gott (oder hier: die eine historische wahrheit) erkannt hat, kann sehr elegant alle, die nicht diesen gott (oder: an diese historische wahrheit) glauben, als ungläubige (oder eben: geschichtsblinde, revisionisten, populisten [darauf zielt ja wohl Ihr „beifall von der falschen seite“?] und dgl.) denunzieren. götter und menschheitsverbrechen vergleicht man nicht. punkt. und damit hebeln Sie bibelkritik wie auch geschichtswissenschaft an einem wichtigen punkt aus.

      wollen Sie das wirklich?

      und wie, ohne diese unterscheidung, begründen Sie Ihre these von der „erbschuld“?

      A.

    18. @Georg. Was ist denn das für eine Schwachsinnsfrage? Pardon, aber diese Art Rhetorik lösche ich nur deshalb nicht, weil schon viele Ihren Kommentar gelesen haben werden und auf so etwas dann entgegnet gehört. Gerade in Der Dschungel wird überhaupt nichts geleugnet, was war, weder die Ermordung von Millionen Juden, noch die Ermordung der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der politisch Andersmeinenden und Widerstandskämpfer, der behinderten Menschen, der zahllosen Intellektuellen. Im Gegenteil, dies ist immer wieder deutlich im Blickfeld Der Dschungel und bleibt in der Erinnerung.

    19. @oegyr (ff): Vorweggenommener Vorwurf & Vergleiche. So aber musste ich „Dahinterstehendes“, den üblichen Entschuldungsversuch, vermuten.Nein, sondern Sie wollten vermuten; Sie hätten ja auch, in der Tat, mir zugutehalten können, daß solch ein Vorwurf anderwo geäußert wurde. Eben das taten Sie aber nicht. Vermuten müssen taten Sie gar nichts. Meine in der Tat rhetorische Überschrift bezog sich auf die insgesamt so geführte Debatte, daß, wer für den Verbleib der diskutierten Begriffe streitet, „den Rassismus fortschreiben“ wolle, i.e. selbst ein Rassist s e i. Dieser Gedanke ist falsch. Hannah Arendt, etwa, schrieb 1957 zur, wörtlich, „Negerfrage“ (zit.n. >>> linksnet: Sie plädiert dort entschieden für die Aufhebung der rechtlich-politischen Diskriminierung, spricht sich aber gleichzeitig für das „unabdingbare gesellschaftliche Recht… (auf) Diskriminierung “ aus; denn: „Eine Massengesellschaft, in der die Unterscheidungslinien verwischt und die Gruppenunterschiede eingeebnet werden, ist eine Gefahr für die Gesellschaft an sich und weniger eine Gefahr für die Integrität des einzelnen, denn persönliche Identität speist sich aus einer Quelle, die jenseits des Bereichs der Gesellschaft entspringt.)

      Was die Vergleichbarkeit angeht, lassen sich sehr wohl sämtliche Völkerverbrechen vergleichen, was nicht heißt, daß sie einander „gleichwertig“ seien – schlichtweg deshalb nicht, weil sich kein Unrecht gegen ein anderes aufrechnen läßt. Ich halte es aber für gefährlich, weil schwarzreligiös (im Sinn von Schwarzer Pärdagogik), ein Unrecht gegenüber anderem für absolut zu setzen. Die im Nationalsozialismus geschehenen Verbrechen sind ungeheuerlich, aber sie machen die Verbrechen anderer Nationen und Menschen nicht weniger bedeutend. Das liegt daran, daß nicht etwa „ein Volk“ leidet, schon das ist Religion, sondern leiden tut immer nur die und der Einzelne, leiden tut das Subjekt. Und für das ist es gänzlich gleichgültig, ob sechs Millionen oder „nur“ eine Million oder nur zwanzig einzelne Menschen leiden. Leid ist, immer, allein.

      Und selbstverständlich m u ß kein heute in Deutschland Geborener sich die Schuld auf die Schultern laden lassen, und weder Sie noch sonst jemand hat das Recht, es zu tun. Denn heute Geborene und auch schon vor fünfzig Jahren Geborene haben de facto keine Schuld, nicht die Spur einer Schuld; sie müssen sie also auch nicht tilgen. Ich kann nach wie vor nicht sehen, woher eine solche Schuld sich denn begründen solle: daraus, daß sie n i c h t gemordet haben, dadurch, daß es vielleicht soziale, aufopferungsbereite, freundliche, liebenswerte Menschen sind, die sich vielleicht auch für Gerechtigkeit engagieren, und zwar nicht, weil sie etwas wiedergutzumachen hätten, sondern weil sie einfach Menschlichkeit für einen hohen Wert halten? Es ist eine geradezu Ungeheuerlichkeit, neuen Menschen die Schuld für das – ja, riesige – Unrecht der Vorhergegangenen aufzubürden; nebenbei bemerkt, macht es die Menschen auch kaputt, seelisch kaputt. Ich habe, meines Herkunftsnamens wegen, mich jahrelang mit „meiner Schuld“ herumgeschlagen, lesen Sie einfach mal meine frühen Romane. Es hat mich Kraft gekostet, dieses: „Nein, ich bin nicht schuld“ und heute lehne ich es entschieden ab, jemandem, der sie de facto nicht hat, allein nur zuzumuten; zuzumuten ist Verantwortung, ja, aber die muß man annehmen wollen; eine Verpflichtung gibt es dafür jenseits einer auch in allen anderen Bereichen geltenden Ethik nicht. Wir haben als Deutsche auch keine besondere Verantwortung, sondern genau die Verantwortung, die sich von jedem anderen Bürger irgend eines Staates erwarten läßt. Beharrt man wie Sie auf dem größten aller denkbaren Verbrechen – seien Sie sicher, daß sich die Menschheit darin immer wieder, auch in Zukunft, noch überbieten wird -, dann wird das Verbrechen zum Geschichts-Telos. Das Schlimmste ist dann schon erreicht, das Negative Paradies, und die Geschichte setzt sich still.
      Tut sie natürlich nicht, sondern sie geht weiter.

      Aber auch psychodynamisch riskiert Ihre Haltung, daß sie, die neuen, nächsten Menschen, einfach, weil sie gesundbleiben möchten, wozu sie auch ein Recht haben, alles abwehren, was auch nur entfernt mit der Schuld der Vorderen zu tun hat. So daß Ihre Haltung schließlich genau das Vergessen bewirkt, gegen das Sie zu streiten vorgeben. Aus der Haltung mancher Jugendlichen einer der meinen nachgefolgten Generation weiß ich, wie angeödet sie von der noch- und noch- und nochmaligen Wiederholung des Holocaust-Themas in der Schule waren. Sie wollten schlichtweg nichts mehr wissen davon. Und das ist nachvollziehbar. Denn tatsächlich läßt sich ein solches Verbrechen nicht „bewältigen“, von keines Menschen Seele.

  2. Vergewaltigungen Mich wundert es immer wieder wie Kapitalismus in allen seinen Formen und Produkten vor keinen Vergewaltigungen in der geistigen Sphäre schreckt um eine Legitimation zu finden, aber das Geld darf man nicht in Frage stellen. Man wird nicht gegenüber Schwarzen gerecht gerecht werden und ihnen Reparation in Geld anbieten für Jahrhunderte langes Versklaven, aber man bietet Ihnen die Gleichheit in den Kinderbüchern. Das ist so was von Dreck, dass es nicht mehr lohnt, darüber zu diskutieren.

    1. @Lessenditsch: Ja! Sie haben vollkommen recht. Und ich nehme Gift darauf, daß, würden die Bejaher des Umschreibens von Büchern, darauf verpflichtet, monatlich, sagen wir, 100 Euro an solchen Reparationskosten zu zahlen – das wären immerhin bei 40 Millionen Zahlungsfähiger weit über 10 Milliarden Euro monatlich -, sie sich ganz schleunigst etwas einfallen ließen, solche Schuld n i c h t zu begleichen.

    2. @Herbst Und noch dazu:
      Nennen Sie mich einen Marxist, der in jedem gesellschaftlichen Spiel kapitalistische Finger sieht, aber ich finde, dass solche Themen nur dem Kapit (und wenn ich sage Kapital, denke auch die Politik im Dienste von Kapit) von Nutzen sind und zwar dreifach:
      1. man befriedigt die Eitelkeit der Schwarzen oder einer anderen Minorität, um sie in die Gesellschaft leichter zu integrieren. Aber die Intergration selbst ist nur oberflächlich bzw. nur in der Arbeitswelt. Man unterjocht sie und gibt ihnen den Anschein, dass sie als sie akzeptiert werden. Ist der dunklehäutige Mensch nur dunkelhäutig oder etwas mehr und darüber? Sie werden aber angenommen wie früher und sogar noch schlimmer. In diesem Sinne betrachte ich auch Feminismus.
      2. man befriedigt das Gewissen der Weissen oder einer Majorität, indem man ihnen die Gelegenheit gibt, sich durch etwas Geistiges, also im kapitalistischen Sinne ohen Geldwert, entschuldigen zu können
      3. man befriedigt die Intelektuellen, indem sie ihre (erotische) Energie entladen können. Tatsächlich bewirken sie mit dieser Entladung nichts. Das ist eine Art ihrer Pazifikation.
      Alles in allem, ein (für uns) nutzloser Spiel.
      Beweiss:
      Warum hat man nicht groß darüber diskutiert, wenn die UCK (albanisch-kosovarische Armee) von einer terroristischen drogenhandelnden Organisation in die Freiheitskämpfer umbennant wurde? Oder wenn bei Talibani umgekehr passierte? Neulich bei Ghadafi auch.
      Und nehmen wir jetzt an, dass diese Kinderbücher umbenannt werden. Glaubt jemand wirklich, dass die Politik (im Dienste von Kapital), wenn es für sie notwendig wird, das nicht wieder umgekehrt macht? Aber dann werden sie nicht die gesellschaftliche Diskussion erlauben, sondern einfach tun, wie es im oben genannten Fällen passiert ist.
      Ich bin kein Deutscher und ich habe, als ich die Titelseite der ZEIT gesehen hatte, zuerst gedacht: Mensch, diese Deutschen, sie haben keine tatsächlichen Probleme, sie diskutieren über Blödsinn, aber ich muss mich bei Ihnen bedanken, Herr Herbst, dass ich durch Ihre Beiträge dieses Thema ernst genommen habe.

    3. @Lessenditsch: Deutsch sein. Ich halte die Frage, ob jemand deutsch sei, für eine in diesem Zusammhang ganz nebensächliche, weil es nichts als eine administrative Bestimmung der Zugehörigkeit zu einem Rechts- und Sozialsystem beschreibt; gerade in diesem Land hat es ein wirkliches Nationalbewußtsein, das eben die Künste mit einschließt, nie gegeben; es war quasi immer ein Ein- und Zuwanderungsland und deutsche Kultur nicht an Nationalgrenzen gebunden. So ist Franz Kafka kein tschechischer, sondern ein deutscher Dichter gewesen, und Immanuel Kant war deutscher, nicht polnischer Philosoph. Umgekehrt gehört zwar der frühe Teil des Werkes Nabokovs zur russischen, der spätere aber zur US-amerikanischen Kultur, auch wenn er auf russischen Traditionen fußt, besonders „Ada or Ador“. Nicht wenig russische Literatur ist in Paris geschrieben worden, wo die Autor:innen als Emigranten lebten usw. Sondern die grundsätzliche Frage, die diese Diskussion aufwirft, betrifft auch ganz andere Nationen als die deutsche, betrifft etwa Frankreich, auch England, besonders auch Spanien und deren Literaturen. Wie geht man dort mit den kolonialen Lasten um, die auch in deren Kinder- und anderen Büchern stecken, wenn man die Schuld denn „loswerden“ will? Oder denken Sie an Japan, an China. Die Geschichten des Unrechts gehen quer durch die Völker, aber auch, auf dem afrikanischen Kontinent zum Beispiel, durch die Stämme – in dort zwar kleinerem (als seinerzeit im Dritten Reich), aber nicht minder grausamem Umfang. Nicht zuletzt genau deshalb sind so viele Verfolgte in dieses Land gekommen, und auch wegen seiner speziellen Geschichte bin ich mehr als nur dafür, daß sie kamen und weiterkommen. So, vielleicht, läßt sich ein bißchen von der Schuld abtragen. Aber prinzipiell geht es in dieser Diskussion um eine Menschheits- und Menschlichkeitsfrage: Was zumutbar ist und was nicht und warum. Und wie wir, ob in anderen Ländern oder hier, mit unseren Geschichten umgehen.

    4. @oegyer Oh weh, mit Schuld ist das so eine Sache. Dann haben die Russen bis heute Schuld, daß ihre Massenmörder Lenin und Stalin insgesamt mehr Leute umgebracht haben als Hitler (bei denen bestimmte das Sein sehr das Bewußtsein…)? Und sie haben dann sicher auch Putin zu verantworten, der gerade ein neues Sowjetregime errichtet und dafür von einem etwas aus dem Leim gegangenen französischen Schauspieler sehr belobigt wird?

      Ja, die Franzosen: Hat die Vichy-Regierung nicht Hand in Hand mit den Nazis gearbeitet, hat nicht die Kundt-Kommission die KZs, in denen die deutschen Antifaschisten saßen, abgeklappert, um sich die Leute rauszupicken, die man gerne im deutschen Reich selber erschlagen wollte? Hilferding ist nur EIN Beispiel.

      Wie schuldig sind die Briten, weil sie das Münchner Abkommen nicht verhinderten (sondern darüber jubelten), mit dessen Hitler dann die Tschechoslowakei platt machte?

      Wie schuldig sind die Amerikaner, weil Roosevelts Appeasement-Politik wirkungsvoll sich aus jeder Machterweiterung Hitlers raushielt. Von Korea oder Vietnam wollen wir schweigen – das taucht in solchen Diskussionen komischerweise nie auf.

      Wie schuldig sind die Polen (sie diskutieren es grade), die die Nazis willfährig unterstützt haben? Die Esten? Die Letten?

      Nein, akklamatorische Schuldzuweisung (und dann gern auch immer gleich ALLE Deutschen, ALLE Franzosen usw…) bringt nicht weiter. Sie ist im Gegenteil sehr verschwistert mit einer bestimmten Art von Sippenhaft…

    5. neudeutsch Im Verhaeltnis zu vergleichbaren Nationen ist Deutschland ja die Muellhalde der Geschichte. Aber die Art und Weise damit umzugehen hat sich deutlich veraendert.

    6. was bitte sind „vergleichbare Nationen“? Und Müllhalde bedeutet, daß man extra etwas angelegt hat, damit jemand dort seinen Müll entsorgen kann. Gefährlich schiefe Bilder, Tom…

    7. Frankreich, Italien, England, Benelux, ganz Nordwesteuropa eben. Desweiteren… Ich habe da ein Bild des Philosophen Karl Marx verwendet und habe es nicht extra erwähnt, weil ich es für allgemein bekannt hielt.
      Müllhalden sind Orte, wo landet, was keiner mehr gebrauchen kann und nicht mehr funktioniert. Dass in Deutschland immer erst etwas in Schwung kommt, wenn es andernortes schon vorbei ist, hat sich bis heute komischerweise nicht geändert.
      Ich hätte, weil hier der Völkermord in Rede steht, allerdings mit Fug und Recht statt „verändert“ auch „verbessert“ schreiben können, obwohl die Deutschen nach wie vor ein Scheißvolk sind.

    8. soso es gibt also „Scheißvölker“. Nach dieser Logik gäbe es dann wohl auch Untermenschen. Oder Übermenschen. Nee, lassen Sie mal stecken: DAS Muster ist bekannt. Auf DER Ebene ist nicht zu dikutieren.

    9. Gefährlich@Leser sind die Bilder, ja. Aber nicht notwendigerweise schief. Es kommt drauf an, wie Tom meint, was er schrieb. So, wie er es formuliert hat, verstehe ich es auch nicht ganz, vermute aber, daß die immer wieder diskutierte Meinung dahintersteht, Hitler sei ein aus machtpolitischen Gründen von anderen Nationen gewolltes Phänomen gewesen, das schließlich furchtbar aus dem Ruder lief – eine bei „Spielen“ mit dem Teufel eigentlich bekannte Dynamik. Tatsache ist, daß er dem Siegeszug des Kapitalismus letztlich die Hindernisse aus dem Weg geräumt hat, indem er Werte desavouiert hat, die ihm hinderlich waren und sind. Ebenfalls Tatsache ist, daß die USA erst dann in den Krieg eingegriffen haben, als er für die Nationalsozialisten schon nicht mehr zu gewinnen war, ebenso wie der furchtbare Versuch, ein ganzes Volk zu vernichten, bereits lange vorher bekannt gewesen ist.
      „Daß man etwas angelegt hat“, läßt sich ebenfalls sagen, weil für Deutschlands furchtbare Entwicklung der Vertrag von Versailles eine so große Rolle gespielt hat. Seine Diskussion ist bekannt, ich will das hier nicht referieren. Außerdem interessiert es auch mich, was Tom tatsächlich meint, ohne daß ich spekulativ interpretieren muß.

      Allerdings sehe ich nicht genau, was die Diskussion Hitlerdeutschlands mit dem eigentlichen Thema zu tun haben soll; wenn schon, dann ginge es um eine Zeit bis etwa Ende des Ersten, nicht des Zweiten Weltkriegs, also um das Unternehmen des damals noch monarchischen Deutschen Reiches, sich mit an die Seiten der großen Kolonialismusstaaten zu stellen.

      Selbstverständlich sind Nationen vergleichbar, man muß aber sagen, in Hinsicht worauf. Daß jederlei Müll auf Deutschland geworfen werde, also moralisch, läßt sich moralisch ganz sich n i c ht sagen. Daß allerdings die Verbrechen anderer Nationen weniger schwer in der Anklage stehen, das freilich schon.

    10. Höhere Ebene Ein aus der Literatur genommenes Bonmot des deutschen Dichters B. Brecht. Brecht schrieb es in dem in der Emigration verfassten „Arbeitsjournal“(Die Deutschen sind ein Scheißvolk. Alles, was an mir deutsch ist, ist schlecht.)
      Ich verwende es als polemische Übertreibung in Richtung Wahrheit.

    11. Dennoch@tom. Ist es wenig sinnvoll, sich hinter vorgeblichen Bonmots zu verschanzen, die, wie verständlich aus der historischen und persönlichen Situation auch immer, so wirklich gute Bonmots nicht recht sind. Wendet man Brechts Satz, der schon damals nicht gestimmt hat – immerhin gab es Widerstandskämpfer -, ohne weiteres auf heute an, wäre sogar dann, wenn man ihm zustimmte, zu fragen, ob denn die neuen Deutschen, also jene mit Migrationshintergrund, nun ebenfalls Scheißvolk seien. Das habe ich >>>> schon dort argumentiert. Ich finde auch nicht, daß meine Feunde und meine Kinder Scheißvolk sind – inwiefern sollen sie das denn sein? -, ebenso wenig, wie ich so etwas von „den“ heutigen Franzosen, US-Amerikanern, Israeli, Japanern, Palästinernsern, Kulumbianern, Arabern sagen kann noch will noch würde.
      Das Problem bei Einlassungen wie den Ihren i s t genau die Polemik. Sie scheut eine tatsächliche Stellungnahme, nämlich die Folgen, die aus ihr erwachsen könnten, kommentiert also, ohne sich eigentlich einzulassen. Mithin ist sie billig.

    12. Lösung Dann verlasse ich eben die Ebene der Polemik und kehre zur Wirklichkeit zurück.
      Es ist ja Sonntag. Da sollte ich meinen Kindern, deren ich habe vier (5, 14, 18, 22), etwas bieten. Das ist so ein kleines zusammengewürfeltes Völkchen, das gerade vor dem Hause den Schnee zusammenfegt. Den Kleinen ausgenommen. Der Kleine wirft sich darin herum.

    13. Die Merkmaleinheit V o l k ist auch nicht identisch mit der der Bevölkerung.
      Da haben die Konservativen ein heißes Eisen im Feuer.

    14. Was also@tom ist gemeint, wenn Sie Volk schreiben? Ihrerseits ein Ideologem? Wozu? Sie stellen offenbar auf einen Nationalcharacter ab, ohne daß mir klar wäre, wer denn dann Träger dieses Characters sein soll. Offenbar ein paar bestimmte Leute, die dann den „deutschen Character“ repräsentierrten, während ihn andere, die zu deutschen Bevölkerung zählen, nicht repräsentieren. Dann wären einige deutsch, andere nicht. Was ist also, Ihrer Meinung nach, deutsch? Wer ist es? Goethe? Himmler? Brecht? Arendt? Beethoven? Zender? Theweleit? Friedrich II – ich meine beide, den Staufer wie den Preußen -? Irgend ein spezieller Nachbar? Oder gibt es diesen Deutschen gar nicht? Ist er vielleicht nichts als eine rhetorische (ideologische) Figur, um damit agitative Politik zu machen?

    15. Schon klar. Aber es sind keine „Volks“-Mentaltiäten, vor allem nicht bei einer derart gemischten Nation wie der deutschen. Es gibt sicherlich kulturelle Tendenzen, die in einzelnen Characteren sichtbar werden, aber zum Beispiel habe ich „den“ Deutschen nie auch nur annähernd so autoritätsfixiert erlebt wie, in Behörden, Italiener: und was die Gehorsamsbereitschaft anbelangt, werden viele von uns bei weitem von vielen US-Amerikaner übertroffen. Der Rassismus wiederum, auch in seiner antisemitischen Ausprägung, ist beileibe kein deutsches Phänomen. Was also ist gemeint? Möglicherweise etwas, das mit der Sprache zu tun hat, ihrem Hang zur Genauigkeit und Konsequenz. Denke ich gerade. Aber auch das ist innerhalb dieser Nation von Lebensraum zu Lebensraum sehr verschieden, denken Sie an die Rhein-Dialekte und halten dagegen bayerische oder gar das Plattdeutsch.
      Die Herkunft jedenfalls einer vorgeblichen deutschen Mentalität kann nur pluralistisch sein bei einem solchen Mischvolk. „Wir“ sind serbisch, sorbisch, slawisch, semitisch, romanisch, germanisch, gotisch usw. von unseren Stämmen her; das hat sich richtig munter durcheinandergevögelt. Und nun, seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kamen das Türkische, viel Italienisches, einiges Arabisches, Schwarzafrikanisches, vor allem auch Asiatisches und Indisches von Süd bis Nord hinzu, und auch das vögelt sich wieder munter durcheinander und ist richtig fruchtbar; spätestens in der zweiten und dritten Generation. Wenn es so etwas wie einen deutschen Volkscharacter je gegeben haben sollte, was ich bezweifle, dann ist es spätestens nun damit vorbei.

    16. Die Deutschen waren immer schon Europas Mischvolk nummer eins. Die Vorstellung vom arischen Deutschen schon alleine deshalb falsch.
      Jetzt hat sich die Schwundstufe natürlich noch verstärkt. Aber die Schwundstufe von w a s? Vielleicht haben Sie auch recht mit Ihrem Zweifel an einem je dagewesenen genuinen deutschen Volkscharakter.

    17. Es gibt auch verhältnissmässig wenig Volksmusik, die Eingang in Kompositionen deutscher Tonsetzer gefunden hätte. Anders als z. B. bei den Russen. Aber das könnnen Sie besser beurteilen.

    18. Nicht nur falsch. Sondern völlig irre, auch und gerade in pathologischem Sinn, der dann furchtbarerweise Politik wurde. Ich denke, daß Ernst Bloch recht hatte, die Dynamik mit der verspäteten und eben nicht von der Bevölkerung erfolgreich erstrittenen, sondern von administrativ dekretierte Nationalbildung zu erklären. Wenn da dann so ein Gefühl sein soll – Nationalgefühl, nennen Sie es, wie Sie wollen -, kommt etwas um so Irratonaleres dabei heraus, als ihm gar kein wirklich vorhandenes Sein entspricht. Das Deutsche, wenn es das überhaupt gibt, ist letztlich allein Kultur und reicht weit über Staatengrenzen hinaus, – etwas, das sich das falsche Nationalgefühl dann politisch dienstbar gemacht hat. Deshalb sind die Neonazis so zugleich entsetzlich wie lächerlich: zu dem, was deutsch genannt werden könnte, haben gerade sie absolut keinen Kontakt. Bizarrerweise kann man sagen, daß gerade der deutschen Kultur so etwas wie Rassismus vollkommen fremd hätte sein müssen und sein muß, weil ihre Grundlage die Mischung ist, die sich allein in der Sprache, sei’s der Dichtung, sei’s der Musik, identifiziert und damit sich und anderen kenntlich macht. Nur so läßt sich von einem deutschen Volk sprechen, alles andere ist rein administrativ, also eine verwaltungstechnische Bestimmung.

    19. Volksmusik. Doch. Das gab es auch hier häufig. Denken Sie an Schubert und Gustav Mahler, den ich zur deutschen Kultur zähle, von dem ich aber nicht sagen würde, daß er zur deutschen Nation gehört. Johannes Brahms, immer wieder, Robert Schumann. Logisch, weil ja gerade in der Romantik nach einer deutschen Identität gesucht worden ist. Es wurden auch Volkslieder „erfunden“, die wie nach alten klangen. Das läuft dann alles auf 1848 zu, mit bekanntem Ergebnis.
      Hübsch auch, in diesem Zusammenhang, Othmar Schoecks, eines Schweizer Komponisten, Hohelied auf die deutsche Sprache. Und noch Daniela Danz, die junge Lyrikerin, sagt, sie sei dankbar, in der Sprache Hölderlins schreiben zu dürfen.

    20. Warum nimmt man eigentlich nicht sofort die Bevölkerung aufs Korrn?
      Da gibt es schon einige Unterschiede zwischen den Bevölkerungen verschiedener Länder. Hierzulande existiert nämlich, anders als in Ländern wie den USA, Frankreich, England oder Spanien, kein Establishment mehr, wie der große Soziologe Norbert Elias in seinem Buch über die Deutschen unnachahmlich und brillant gezeigt hat. Das Reaktionäre kann nicht einmal mehr signifikant auftrumpfen, die Zeichen „sitzen“ einfach nicht. Der Rest der Bevölkerung bringt sich so recht und schlecht, jeder auf seine Weise, durch die allgemein in den Industrieländern gegebenen Verhältnisse. Dazwischen wimmelt es von intellektullem Gesindel, das sich in politischen oder kulturellen Zirkeln selbstreverenziell die Taschen füllt. Na, wenn das nicht stinkt.

    21. „Intellektuelles Gesindel“. Also Pardon, aber gerade, wenn Sie Norbert Elias erwähnen, scheint mit die von Ihnen verwendete Begrifflichkeit nicht nur heikel, sondern de facto faschistoid zu sein. Und was meinen Sie mit „sich selbstreferentiell die Taschen füllen“? Abstrakte Anklagen ohne Beweis- zumindest Belegführung gehören in den dunklen Bereich der Denunziation, womit wir in der deutschen Geschichte die allerschlimmste Erfahrung haben. Eine Einlassung wie die Ihre kann nicht unwidersprochen stehen bleiben, und es muß scharf widersprochen werden, auch dann, wenn Sie in einzelnen,. dann aber aufzuzeigenden Fällen, recht haben. Hinzu kommt der Klang einer prinzipiellen Intellektuellenfeindlichkeit, der ebenfalls eine dunkle Tradition hat, wenn auch nicht nur hierzulande.

    22. Antiintellektuell nur, wenn es sich um eine Gruppe handelte, auf die ein ephatischer Intellekteullenbegriff passte. Das intellektuelle Gesindel hier ist nicht einmal mit Antonio Gramscis funktionalistischem Ansatz zu fassen, am ehesten noch vergleichbar mit den Bolchewisten im petersburger Untergrund, aber diese haben wenigstens noch vom Standpunkt der Erlösung agiert. Den heutigen ist das abhanden gekommen, die sind eher dem Phänotyp des anständigen Schwiegersohnes. Schauen Sie doch mal rein in die Parteien und Redaktionen.

    23. @david (ff). Schauen Sie doch mal rein in die Parteien und Redaktionen.Darum geht es nicht, und das Phänomen der Seilschaften ist auch keineswegs ein neues, sondern reicht bis in die Anfänge der Zivilisationen, und zwar in jeder Kultur. Anstelle aber präzise zu beschreiben, was Sie meinen, ziehen Sie sich auf das Abstraktum „der Intellektuellen“ zurück und sehen nicht einmal nach, ob diese von Ihnen wahrscheinlich gemeinten Intellektuelle solche eigentlich sind. Zumal befindet sich der Ausdruck Ihrer Haltung in extrem schlechter, oft zugleich schwer rassistischer Gesellschaft, was nicht verwundert, weil Gruppen-Denunziation sowohl bei Geistesständen wie Völkern trefflich funktioniert. Das demagogische Muster ist uralt und trifft immer auf eine breite Gemeinschaft derer, die vermeinen, nicht dazuzugehören oder auch de facto nicht dazugehören, zum Beispiel, weil es an Bildung fehlt und weil vielleicht an Bildung auch gar kein Interesse besteht. Was selbstverständlich seinerseits Gründe hat. Nach solchen zu fragen, aber, vermeidet Ihre Rhetorik bewußt.
      .

    24. Der ökonomisch einträgliche Stumpfsinn der Massen ist für die Menschheit unüberwindbar. Jene Gruppen, von denen ich gesprochen, bedienen diesen Stumpfsinn in einem System kurzgeschlossener Alphabetisierung (Popp).
      Denunziation ist das nicht. Zur Denunziation müsst ich Namen und Adressen nennen. Es gibt gar keine Denunziation von namenlosen Gruppen.

  3. „…daß sehr viele junge auch in der Erbfolge stehenden Deutschen zur deutschen Kultur einen sehr viel geringeren Zugang haben als zur US-amerikanischen, mit der sie sozialisiert wurden.“
    .
    Wie wahr. Und in Film & Musik: meist toll.
    Und da wir immer noch jede Mode und leider auch jeden Unsinn aus den US of A übernehmen, haben wir – nein, haben einige Kurzsichtige – auch diese p.c.-Worte“verbesserung“ von dort übernommen.
    Nicht nur Robert Gernhardt hat das schon vor einigen Jahrzehnten aufs Korn genommen, auch Robert Hughes („Culture of Complaint“).
    … Anscheinend in D. ohne Erfolg. Oder… vielleicht lesen diese „Verbesserer“ überhaupt nicht?
    .
    Mark Twain hat diese Zensur an seinem „Neger“ Jim vor 100 Jahren zwei Mal erlebt: Einmal war er der Zensur zu „nett“ geschildert“, beim zweiten Mal „nicht nett genug“. Das sagt doch alles: eine temporäre Mode. Wir sollten der nicht auf den Leim gehen.

  4. Ich finde die sog. deutsche Schuldfrage, wie sie Ögyr versucht aufzuwerfen, ja immer wieder niedlich: was mache ich da, dessen eine Familienhälfte die andere bombadiert hat, was macht mein holländisches Selbst? Darf es die andere Hälfte, die von einem deutschen U-Boot-Belüftungs-Ingeneur abstammt (abstampft), richten?
    Bin ich, der ich von einer holländischen Mutter die deutsche Muttersprache gelehrt bekommen habe, mit all den üblichen grammatikalischen Fehlern, die sich meine Mutter nie abgewöhnen konnte, bin ich also von Hölderlins Zunge? (Ich schriebe lieber Mandarin oder Hindi, vielleicht würden sich meine Bücher endlich angemessen verkaufen).
    Bin ich Preuße, bin ich Flame? Romantischer Künstler, barocker?
    Nein, ich bin Weltbürger, mich trifft nur die Schuld der Menschheit.

    Und von den „Negerprinzessinnen“ gesprochen: wäre es nicht ein gangbarer Weg, seine privaten Ausgaben zu zensieren, die verletzenden Worte einfach zu überkleben? Bei Kinderbüchern – und mir persönlich geht es nur um diese – machte es keine sehr große Arbeit.
    Vielleicht wären auch doppelte Ausgaben angebracht? Eine Konsumausgabe, eine für die Bibliotheken…

    1. Ein Kosmopolit mag man sein. Aber muss ich deshalb die Schuld der ganzen Menschheit tragen? Was ist das ueberhaupt!
      Da muesste ich ja den Kopf für jede Schandperson hinhalten.

  5. Zur Nichtsühnbarkeit. Wie zur Dynamik dieser Diskussion und einem ihrer Gründe habe ich eben >>>> im heutigen Arbeitsjournal geschrieben. Ich halte es für von entscheidender Bedeutung, sich über diese Prozesse klarzuwerden, wenn wir frei entscheiden können wollen; es ist ein Gebot der Emanzipation, nicht nur der politischen, sondern auch der jeweils ganz zutiefst persönlichen.
    Fast unabhängig davon steht nach wie vor die Frage im Raum, ob das Umschreiben von Büchern, also von Geschichte, tatsächlich geeignet ist, Gerechtigkeit und Freiheit werden zu lassen, oder ob es im Gegenteil Gerechtigkeit und Freiheit hochgradig relativiert.

  6. Benjamin Stein & ANH.

    (Von >>>> dort hierher kopiert, weil m.E. in diesen Kommentarbaum gehördend:
    HED, 23.1.2013):
    Benjamin Stein (Gast) meinte am 2013/01/23 10:04:PC im Bett
    Ich rege mich über diesen PC-Blödsinn auch auf und finde es unerhört, bspw. an Twain herumzumachen. Sehr interessant ist das im Lichte der gerade von den Verlagen so heiß geführten Copyright-Debatte. Ein wesentlicher Teil des Rechtes des Künstlers besteht doch darin, nicht verfälscht zu werden. Aber Twains Copyright ist ja abgelaufen. Da sieht man die Beliebigkeit der Diskussion.

    PC hat in der Literatur genauso wenig verloren wie im Bett. (Nun spekuliere man mal, wie ich dieses „wenig“ bemesse, lach!)

    ANH antwortete am 2013/01/23 10:31:PC im Bett (nicht der Computer oder?)
    ist nur unerotisch, stört also „nur“ die je eigene sinnliche Erregung. Forderungen nach PC-überall ist aber schaurig – aus Gründen, die hier teils schon genannt wurden und auch anderwärts immer wieder genannt werden.
    Nein, ein westentlicher Bestandteil des Rechtes ist, daß bis siebzig Jahre nach Tod des Künstlers der Rechteinhaber entscheidet, ob verändert wird oder nicht. Die Brecht-Erben etwa können an seinem Werk umschreiben, was sie nur wollen. Wir kennen solche Fälle gut, um nur an Elisabeth Förster-Nietzsche zu denken. Es ist später eine irre philologische Arbeit, die „Urtexte“ wiederherzustellen; in der Musik kenne ich das am Fall Bruckners ganz, der sich ja ständig in seine Kompositionen hat hineinreden lassen. In heutigen Aufführungen kehrt man zu seinen eigentlichen kompositorischen Verfahren zurück. Beethoven wollte man die Dissonanzen aus der Dritten streichen; er hatte aber mehr Querkopf als Bruckner.
    Im übrigen, à la Urheberrecht, sind Übersetzungen betroffen, bei denen die Übersetzer:innen zustimmen müssen; siehe Pippi Langstrumpf. Es wäre interessant herauszubekommen, ob auch in Schweden an den Originalen verändert wird, oder ob da der alter Sprachgebrauch stehengeblieben ist und wie er denn, das schwedische Wort für „Neger“, seinerzeit konnotiert gewesen ist. Und was Preußler anbelangt, so habe er ja, dem Vernehmen nach, „nach jahrelangem Zögern“ zugestimmt. Nun ist er 93, und ich kann mir vorstellen, wie müde er schließlich klein beigab, vielleicht allein auf das Argument hin, man werde ansonsten seine Bücher nicht mehr ausliefern. Ein so alter Mann wird sich kaum noch auf die Suche nach einem neuen Verlag begeben wollen, allein schon der großen Müdigkeit halber, die Menschen gegen Ende ihres Lebens oft erfaßt.
    1. Preußler ist 89, nicht 93. Der Abänderung einiger Begriffe in seinem Werk stimmte die Verwalterin der Rechte an seinem Werk zu – seine Tochter. Man bemühe sich doch bitte auch um die Vorstellung, wie sie ihrem Vater auf der Brust kniete, um ihn endlich kleinzubekommen.

      Ihre Position, Herr Herbst, lässt sich handlich zusammenfassen: einmal herausgegebenes Werk sei unveränderlich; das Gestaltungs(Urheber)recht habe dahinter zurückzutreten. Über die Auflösung des damit geschaffenen Interessenkonflikts haben Sie allerdings noch keine Silbe ausgesagt.

      Ich möchte auch hier mein Bedauern darüber ausdrücken, Zeit und Mühe in einer, wie sich zeigt, unfruchtbaren Auseinandersetzung vergeudet zu haben.

    2. @Hans Zusl. Preußler wurde 1923 geboren, also bitte ich um Pardon; der junge Mann wird mithin erst 90.

      Ich finde Ihre Art der Einlassung ziemlich unerträglich. Zu den Argumenten selbst haben Sie nichts anderes gesagt, als immer wieder auf das eingehaltene Urheberrecht hinzuweisen – ein Argument, das schon bei Astrid Lindgren, daß sie selbst nämlich zugestimmt habe, versagt. Sie gehen vor allem an den Hintergründen und/oder möglichen Hintergründen sehr naiv vorbei, auch solchen von gesellschaftlichen Korrektheitsvorstellungen, ihrer Relativität nämlich, die wir über die Jahrhunderte beobachten können, und dies durchaus nicht immer im Sinn der Aufklärung.

      Von welchem Interessenskonflikt sprechen Sie? Kafka hat gewollt, daß viele seiner Schriften vernichtet werden. Sollen wir das jetzt nachholen, weil es sein Gestaltungswille war? Anthony Burgess hat sich von „Clockwork Orange“ losgesprochen – sollen wir dieses prägende Buch also aus dem Verkehr ziehen? Die Erben von Richard Strauss und von Bert Brecht sprechen bis heute in die künstlerische Gestaltung hinein, rechtens, ja, qua jure nämlich, aber ästhetisch mitnichten.

      Wenn Sie meinen, Ihre Zeit vergeudet zu haben mit etwas, das im Moment in der scharfen Diskussion steht, ist das ganz Ihre Sache. Sie können selbstverständlich ein bißchen Fernseh gucken oder Fußball spielen gehen. Sie dürfen sich auch in der Schuld suhlen, wenn Ihnen eine einfällt, die Sie haben könnten. Tun Sie das, und amüsieren Sie sich gut. Ihre Art persönlicher fast schon Diffamierung meiner nun bereits Tage währenden Argumentationsarbeit finde ich, euphemistisch gesagt, unangemessen.

      Daß ich das Urheberrecht, so, wie es derzeit gehandhabt wird, für ausgesprochen heikel halte, darüber gibt es in Der Dschungel und auch anderswo genügend Stellungnahmen von mir; es steht Ihnen ebenfalls frei, sich darüber kundig zu machen.

  7. Verschoben: Iris‘ Blütenblätter an ANH. Und seine Antwort.

    Iris (Gast) meinte am 2013/01/24 12:29:

    Ich frage mich nun doch (und weiß nicht recht, ob mein Kommentar unter diesen oder eher einen der anderen Artikel gehört, aber er fiel mir eben hierzu ein), ob sich das nicht vereinbahren ließe: Das Ändern und das Bewahren. Denn das Bewahren ist ja nichts Statisches, sondern auch etwas Lebendiges und Teil des weiteren Gestaltens von Geschichte. Auch die derzeitige Diskussion und die irgendwann aus ihr resultierenden Ergebnisse gehören bewahrt. Ich kann Ihre Sorge bzgl. eines Dammbruchs mit nicht zu ahnenden Folgen nicht nachvollziehen. Es soll doch nichts heimlich getilgt werden, der ganze Prozess liegt offen, muss er auch!, möglichst noch offener, damit er in die Geschichte eingehen kann. Warum sollte nicht auch etwas Weiches wie beispielsweise Nachgiebigkeit gegenüber einer Gruppe, auch nur einer kleinen, oder sogar nur einer einzelnen Person, die den Gebrauch z.B. des Wortes „Neger“ in nach wie vor gebräuchlicher Literatur nicht mehr erträgt, warum solte nicht auch eine solche Haltung und Handlung in die Geschichte eingehen dürfen oder können. Ich sehe auch die „Gefahr“ des Präzedenzfalls, aber dass damit alle Schleusen geöffnet seien, kann ich nicht erkennen. Dass es zu mehr Klagen kommen wird, ja, was zu bewältigen große Anstrengung fordern wird. Warum auch nicht? Warum sollte nicht in die Geschichte eingehen dürfen, dass einer Gesellschaft das Wohlbefinden einer Gruppe, eines einzelnen Menschen soviel wert war, dass man damit das mögliche Auslösen einer Lawine in Kauf nahm. Warum muss Geschichte vor allem von Stärke, Unnachgiebigkeit und Unterkontrollebringen/-halten geprägt sein.

    Ich muss hier leider abbrechen, weil der Herd ruft und danach der Buchladen. Ich würde aber sowieso kein Ende finden, da ich noch keine endgültige Meinung in dieser Sache gefasst habe, sondern noch sammle, bei mir und anderen.
    ANH @Iris.Danke erst einmal für Ihren unaufgeregten, nicht anklagenden und herzenswarmen Text. Ich möchte Ihnen ebenso antworten, und weil das Gespräch so wichtig ist, werde ich Deters bitten, es, wie bereits in einem anderen Fall,>>>> noch dort zu kopieren:

    Auch die derzeitige Diskussion und die irgendwann aus ihr resultierenden Ergebnisse gehören bewahrt.Das wird ganz sicher geschehen; allein schon unsere Weblogs sorgen dafür, ebenso wie die Reflexe, die sie in neuer Literatur haben werden. Ebenso wird die Sensibilität gegenüber dem Gebrauch bestimmter Begriffe auch dann noch weiter ausgebildet werden, wenn man sie nach wie vor gebraucht oder wenn sie von anderen nach wie vor weitergebraucht werden.Ich kann Ihre Sorge bzgl. eines Dammbruchs mit nicht zu ahnenden Folgen nicht nachvollziehen. Es soll doch nichts heimlich getilgt werden, der ganze Prozess liegt offen, muss er auch!, möglichst noch offener, damit er in die Geschichte eingehen kann.Wir haben die Fälle verbotener Bücher in den letzten Jahren gehabt. Ich selbst war davon, mit einem meiner besten Romane, betroffen. Die Angelegenheit hat sich, aber hat mich fast meine Existenz gekostet – eine großen Verlag, der mich auch mitfinanzieren kann, habe ich seither nach wie vor nicht mehr- , schließlich befriedigend lösen lassen; ich selbst konnte das Problem nicht, obwohl ich wollte, vorher lösen, weil der Verlag es nicht wollte. Das ist es aber auch nicht,. worum es mir hier geht, sondern prinzipiell ist auch hier ein Damm gebrochen worden. Nahezu alle Romane, die heute veröffentlicht werden und einen autobiografischen Character zu haben scheinen, gehen unterdessen zuerst an die juristischen Abteilungen. Bücher zu schreiben wie „Montauk“ oder auch den Werther, ist unterbunden, weder Il fuoco noch gar Dantes Göttliche Komödie wären heute mehr möglich. Dazu kommen die verstärkt exekutierten Urheberrechtsbestimmungen; Wolf Vostell könnte heute einen Großteil seines kritischen Werks nicht mehr schaffen, schon, weil ihm die Verwendung des Mercecessterns, als ein bestimmtes und bestimmbares Zeichen, untersagt würde.
    Ich sehe Zustände wie in den USA auf uns zukommen, wo der an Darwin orientierte Bioloogieuntertricht den Glauben mancher Sekten stört – schon sie Sekten zu nennen, wäre eine Verletzung -, und es können deshalb Kinder von der Teilnahme am Biologieunterricht „befreit“ werden.
    Ich halte hiergegen, daß es auch ein Recht auf geschehenes Unrecht geben muß, nämlich seine Darstellung und Nennung, und zwar besonders die unbewußte, und daß nachträgliche Schönung Prozesse der Reifung und des Umgangs mit der eigenen Geschichte letztlich verhindert. Die Menschen werden auf den Zustand von Kindern reduziert, auf die man ständig Rücksicht nehmen müsse, nämlich auch in der Darstellung von Geschehenem.Warum sollte nicht auch etwas Weiches wie beispielsweise Nachgiebigkeit gegenüber einer Gruppe, auch nur einer kleinen, oder sogar nur einer einzelnen Person, die den Gebrauch z.B. des Wortes „Neger“ in nach wie vor gebräuchlicher Literatur nicht mehr erträgt, warum solte nicht auch eine solche Haltung und Handlung in die Geschichte eingehen dürfen oder können.Sicher dürfte das eingehen, es gibt ja auch ganze große Gruppen solcher Nachgebigkeiten. Ich halte das aber einer wirklichen Emanzipation, wirklichen inneren eigenen Befreiung nicht für förderlich, sondern diese wird, ganz im Gegenteil, verhindert. Wer mit dem, was einmal gewesen, auch mit dem Leid, das man erfahren oder von dem man auch nur gehört hat, nichts mehr zu tun haben will, indem er sein Erscheinen sogar in einzelnen Wörtern, die früher einmal geschrieben wurden, nicht mehr erträgt, erträgt seine eigene Geschichte nicht. Das ist genau das Gegenteil von Befreiung, sondern zeigt einen inneren Zustand von Unterdrücktheit an. Die eben ist doch aufzuheben. Auch ich muß die Darstellung des Deutschen als eines schlimmen, ja widerlichen Geschöpfs immer wieder, vor allem in US-amerikanischen Filmen, ertragen. Sie finden den Deutschenhaß und entsprechende Karikaturen quer durch die Literatur, gerade auch bei mir sehr lieben Autoren wie Dostojewski. Damit kann ich aber leben. Wenn ich nicht verstanden habe, weshalb das schon zu seinen Zeiten, lange vor Auschwitz, so war, habe ich mich drum gekümmert. Und wenn ich es verstanden habe, war es in Ordnung. Dieses Verstehen von Zusammenhängen und Verwendungen – im Falle Hannah Arendt war „Neger“ absolut nicht diskriminierend gemeint – kann ich auch anderen Menschen zumuten, ob sie schwarz, braun, grün oder gelb und rosa von Hautfarbe sind. Das Leben selbst mutet zu, ständig; wir leben nicht in einer Glocke der Freundlichkeiten und werden das auch nie, schlichtweg deshalb, weil wir dem Naturprinzip unterstehen und uns ernähren müssen.und Ich sehe auch die „Gefahr“ des Präzedenzfalls, aber dass damit alle Schleusen geöffnet seien, kann ich nicht erkennen. Dass es zu mehr Klagen kommen wird, ja, was zu bewältigen große Anstrengung fordern wird. Warum auch nicht?Weil wir vor Correctheitsklagen nicht mehr werden geradeausgucken können, weil unser gesamtes Leben ein Gehen auf Zehenspitzen sein wird, und weil auf diese Weise heruntergedrückte Aggressionen sich anderwärts Platz schaffen werden, und zwar an Orten, wo wir sie nicht vermuten und ihre Gründe auch gar nicht mehr erkennen oder nur nach langwierigen therapeutischen Prozessen. Weil Aggressionen schlichtweg zum Leben gehören und wir auch ohne sie längst nicht mehr lebendig wären.Warum sollte nicht in die Geschichte eingehen dürfen, dass einer Gesellschaft das Wohlbefinden einer Gruppe, eines einzelnen Menschen soviel wert war, dass man damit das mögliche Auslösen einer Lawine in Kauf nahm.Weil die Lawine ein Leben nach ihr unerträglich machen wird. Es wird einen Kontrollstaat geben, nicht von einer Diktatur geprägt, sondern von Kommissionen des Guten Meinens, auch von Kirchen und Sekten und jederlei Minder- und Mehrheit. Ihnen wird bekannt sein, daß Martin Mosebach bereits nach einer Wiedereinführung eines Blasphemie-Paragraphen gerufen hat, der den gläubigen Christen nicht weiter diskriminieren lassen will; damit fielen dann viele Werke Voltaires, überhaupt der Aufklärung usw., der komplette französische Surrealismus und die gesamte kommunistisch geprägte Literatur den Reinigern anheim, wahrscheinlich auch Karl Marx. Was aber, das stimmt, für einen Schwarzen wegen seiner Herkunft und Herkunftsgeschichte ihm nicht mehr zugemutet werden kann, kann dann auch keinem gläubigen Christen mehr zugemutet werden. Ganze Bilder werden aus den Bildbänden verschwinden, denken Sie an Max Ernsts Mutter Gottes, die das Jesuskind züchtigt. Und wenn wir es mit der Integration ernst nehmen, muß, was für gläubige Christen gilt, auch für gläubige Moslems gelten. Usw.Warum muss Geschichte vor allem von Stärke, Unnachgiebigkeit und Unterkontrollebringen/-halten geprägt sein.Das wird sich nicht ändern, wenn wir Begriffe in den Büchern austauschen, sondern so hat Welt und hat Natur immer funktioniert. Es hat wenig Sinn,. dem Zahnschmerz zu verbieten, daß er sei; Karies bleibt Karies auch dann. Was wir aber ändern können, und sollten, ist, gegenüber einmal absichtlich oder unabsichtlich benutzten Wörtern in Zukunft sensibel zu sein und sie eben nicht mehr weiterzubenutzen. Das, in der Tat, geht in die Geschichte. Wenn wir da sorgfältig sind – so weit wir es vermögen und so weit uns die Problemfelder bereits bewußt sein können. Zum Beispiel habe ich selbst das Wort „Neger“ überhaupt vorher noch nie, sondern zum ersten Mal geschrieben, als ich zum Widerstand gegen das Reinigen von Büchern anschrieb. Da war es, in der Tat, nötig, hat aber überhaupt keinen Schwarzen gemeint. Auch also aus politischen Gründen sollten Wörter zuhanden bleiben.
    Mrr geht es tatsächlich nicht um Preußler, ich bin mit ihm gar nicht sozialisiert, in meiner Kindheit standen in den Büchern noch viel heiklere Begriffe. Dennoch ist meine Generation und die davor eine gewesen, die widerständig war und sich für Emanzipation auf die Straßen begab; man wird nicht notwendig Rassist, wenn man in seiner Kindheit mit solchen Wörtern umging, und man wird auch nicht traumatisiert, wenn man in Büchern abwertend dargestellt wird. Sondern es kommt darauf an, sich selbst dagegen zu positionieren. Das genau ist ein Teil von Reifung und eigener Emanzipation, vor allem dann, wenn das geschehene Unglück im Fall der Bücher allenfalls noch Reflex eines einmal geschehenen ist und gar nicht mehr fortgesetzt wird, sondern im Gegenteil haben die Schwarzen (ich weiß wirklich nicht, ob ich auch dieses Wort noch schreiben darf), die sich jetzt diskriminiert fühlen, in diesem Land Aufnahme und neue Heimat gefunden, was doch wirklich deutlich zeigt, wie anders längst gedacht wird. In den USA ist das nach wie vor nicht so: da werden Menschen, die einwandern wollen, an der Grenze zu Mexiko abgeschossen wie Hasen. So entsetzlich bigott ist das, so abgrundtief furchtbar, daß wir ausgerechnet von dort Vorschriften und die Selbstzensur der allgemeinen Correctness übernehmen.

    Und noch eines, zum Schluß, das mir persönlich, als auch politischem Künstler des Wortes, wichtig ist: Wir verändern die Zustände nicht, indem wir die Wörter verändern, sondern wir verschleiern sie damit, vor allem dann, wenn wir die Veränderungen nachträglich vornehmen. Der Schmerz darüber, daß bestimmte Wörter verwendet wurden, muß erhalten bleiben, damit wir wissen, worum es geht und was wir nicht mehr wollen.

    (Auf Herbsts Wunsch >>>> von dort hierher kopiert.
    HED, 24,1.)
    1. Zunächst einmal herzlichen Dank für die ausführliche Antwort!
      Mein Problem: Ich kann Ihre Gedanken sehr gut nachvollziehen, auch die Befürchtungen. Nur teile ich sie nicht in dem Ausmaß.
      Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich nicht auf die Details eingehe. Ich möchte zum einen noch ein wenig in Ruhe darüber nachdenken. Zum anderen sträubt sich etwas in mir, mich in dieser ausgeweiteten Form an der Diskussion zu beteiligen. Für mich geht es immer noch um den Einzelfall der kleinen Hexe, und jedes weitere wäre ebenfalls als Einzelfall zu behandeln. Es ist mir wichtig, da sehr genau hinzusehen, zu trennen und nicht zu verallgemeinern.
      Auf einen Kommentar von Melusine bei mir (den zweiten, in dem sie sich auf Tinius bezieht) möchte ich deshalb hinweisen, denn in ihrer Argumentation sehe ich meine Sicht vollkommen wiedergegeben. Hier der Link: http://iris-bluetenblaetter.blogspot.de/2013/01/naive-kleine-hexe.html?showComment=1359058270016#c2787415856227018840

    2. Doch noch kurz zum letzten Absatz Ihrer Antwort:
      Für mich bedeutet es einen Unterschied, ob man nachträglich aus einer Einsicht heraus etwas verändet, das dann in künftigen Ausgaben erneuert erscheint, oder ob man rückwirkend versucht, sich reinzuwaschen. Letzteres ginge dann tatsächlich mit Verschleierung einher. Aber ersteres, wenn es offen geschieht, verdeutlicht doch einen Lernprozess. Es bleiben ja auch die bereits erschienenen Ausgaben erhalten und werden nicht eingezogen und vernichtet, der ganze Vorgang kann dokumentiert und z.B. auf den Deutsch Lehrplan gesetzt werden. Kann der Schmerz darüber, dass bestimmte Wörter verwendet wurden, denn ein ehrlicher sein, wenn diese Wörter wieder und wieder neu aufgelegt werden? Muss er nicht vielmehr dazu führen, sie nicht mehr zu verwenden, und zwar nicht nur in neuen Büchern, sondern auch in alten, neu aufgelegten? (Auch hier gilt natürlich die Einzelfallprüfung, denn in einigen Büchern müssen die Wörter bleiben, weil sonst der Kontext verfälscht wird, s. Melusines Kommentar.)

    3. @Iris. Einzel“prüfung“. Allein, daß Bücher geprüft werden, bereitet mir Unbehagen. Wer prüft? Wer bestimmt? Auch die Prüfung von Büchern hat eine böse Geschichte. Was das sich Reinwaschen anbelangt, so geht das sowieso nicht: Man kann keine Schuld verlieren, die man nicht hat.
      Es geht auch nicht um den Einzelfall, wie Sie schreiben, der Kleinen Hexe. Bereits betroffen war Pippi Langstrumpf. Die umlaufende Liste weiterer Bücher, die „geprüft“ werden sollen, habe ich bereits an anderen Stellen mehrfach zur Kenntnis gebracht; da ist durchaus beabsichtigt, mit dem Willen zur Umschreibung eine Welle zu erzeugen, von der ich meine, sie sei dann nicht mehr aufzuhalten. Wir schätzen die Situation tatsächlich sehr verschieden ein. Da die sogenannte poliical correctnesse allüberall um sich gegriffen hat, scheint es mir höchst unwahrscheinlich zu sein, sie begnüge sich hier mit dem einen und oder anderen Einzelfall. Im Gegenteil, sie türmt sich auf und wird uns, soweit wir freie Menschen sind, auf rechtsstaatliche Weise zertrümmern.
      Es werden auch nicht die Wörter wieder neu aufgelegt, sondern Bücher, in die sie aus historischen Gründen einmal hineingeschrieben wurden. Dazu kommt die Frage, wer denn entscheiden solle (und könne), ob ein Wort zu seinem Zusammenhang, in dem es geschrieben wurde, marginal sei? Das unterschätzt, ja nimmt nicht einmal wahr, daß Kunstwerke mitnichten aus dem Plot bestehen; der Plot ist sogar fast egal. Aus dem Plot besteht allein der Mainstream, und der kann mal wohlmeinend, mal nach Mob-Art brutal sein, und immer gilt das als moralisch. Und: Etwas könne „auf den Lehrplan“ gesetzt werden, Pardon, nichts ist für das Verständnis von Dichtung je so schlimm gewesen wie die Schule, was einfach an ihrer gegebenen Struktur liegt, an den (nötigen) Formalien usw. Nirgends wurde einem Kafka derart gründlich ausgetrieben, übrigens auch die hierüber mitdiskutierte Schuldfrage. Was auf den Lehrplan kommt, hat verloren, so, wie die Unis durch ihre Verschulung längst verloren haben. Was uns prägt, das lesen wir, und zwar mit Recht, heimlich: das, wovon andere sagen, es sei noch nichts für uns. Das haben wir uns früher aus den zweiten Reihen der Bücherschränke geholt, und heute holen es sich die Jungen aus dem Internet. Womit sie, egal welchen Alters, vom Porno bis zur urheberrechtsfeindlichen Schwarzkopie, absolut recht haben. Was das Prädikat „Besonders wertvoll“ bekommt, hat von vornherein verloren, besonders bei Jugendlichen. Ich selbst ertappe mich jetzt dabei, mir originale Kleine Hexen besorgen zu wollen, allein, um den Ursprung zu bewahren, auch des Ambivalenten, das wir in der Kindheit lernen müssen, weil wir sonst nie einen Umgang damit finden werden. Dabei ist mir die Kleine Hexe ganz ebenso egal wie astefanowitsch. Für mich hat Preußler nie eine Rolle gespielt, ich las auch kaum Kinderbücher als Junge; das tat ich erst als Erwachsener. Als Junge las ich, was angeblich nichts für mich war. – Und ja, Martin Luther war ein furchtbarer Antisemit, das nimmt aber seiner Übersetzungsleistung nichts. Genau das zu fühlen, gilt es zu lernen. Gesäuberte Bücher sind dafür das ungeeignetste Mittel, einmal abgesehen davon, daß das Verbotene, Ungesäuberte, einen riesigen Reiz hat. Wobei sich der Schmerz, von dem Sie schreiben, doch leicht vermeiden läßt, indem man so ein Buch einfach nicht mehr liest oder es nciht mehr weiterliest, wenn der Begriff auftaucht. Es soll aber bestimmt werden, was andere lesen dürfen und was nicht, und diese Bestimmer sind, wie man es dreht und wendet, Sittenwächter. Exakt dagegen wehre ich mich: gegen die Akzeptanz von Sittenwächterei. Es wäre akzeptabel, wenn sich die Bewegung der Sprachäuberer dafür einsetzte, solche Bücher aus dem Schulunterricht herauszunehmen, da dieser tatsächlich eine öffentliche Aufgabe ist – noch jedenfalls -, nicht aber, daß sie auf bereits geschriebene Literaturen zufassen. Es ist wirklich ganz leicht, wenn man einem Kind die Kleine Hexe oder eines der anderen Bücher vorliest, zu erklären, wie hier „Neger“ gemeint war und daß das Wort heute aus den und den Gründen nicht mehr benutzt wird oder benutzt werden sollte. Man kann sogar, wenn man vorliest, so ein Wort einfach weglassen und durch ein anderes ersetzen; auf diese Weise habe ich selbst das mit meinem Jungen, als er noch ganz klein war, bisweilen gehalten, denn bei Wörtern wie „Eingeborener“, etwa bei Jules Verne, war auch mir nicht gut. Später habe ich dann erklärt, weil mir auch mit der Auslassung nicht gut war. Von diesem, daß einem nicht gut ist, genau davon, darf niemand losgesprochen werden durch „verhütende“ Akte, sondern das gehört zur Reife.
      Was die zu schreibenden Vorworte und Zuatzerklärungen anbelangt, so steht uns da ein im Wortsinn unheimlicher Bürokratismus bevor, der allein schon in der Vorstellung schlimm kafkaesk ist. Am schlimmnsten aber ist die Aussicht, daß andere Leute entscheiden werden, was meine Kinder zu lesen haben und was nicht, was sie lesen „dürfen“. Seien Sie sicher, daß ich gegen sowas, daß über meinen Kopf hinweg entschieden wird, immer anrennen werde, und das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß ich rassistische oder sonstig unmenschliche Neigungen hätte. Ich weigere mich auch, von „Studierenden“ zu sprechen, weil die Semantik dieses Wortes grundfalsch ist, wendet man den Begriff in jeder Situation an. Wer in der Kneipe sitzt, ist kein Studierender, kann aber sehr wohl Studentin und Student sein.
      Vor denen, die da alles Prüfende sein werden, ist mir jetzt schon schlecht. Wir haben in der Geschichte der Menschheit genügend Erfahrungen gesammelt, auf die man zurückgreifen kann udn die einem einen Schauer nach dem andren über den Rücken jagen. Es gibt keinen Anlaß anzunehmen, daß sich die Mentalität solcher Prüfer jemals ändert. Sie unterschätzen, Iris, die menschliche Gemeinheit, die sich gerade auch im Tun eines vermeintlich Guten immer wieder hervorgetan hat. Allein, daß jetzt Listen im Umlauf sind, müßte jeden alarmieren, der und dem Freiheit ein Wert ist.

    4. @ANH Ich schrieb Einzelfallprüfung, nicht Einzelprüfung. Das ist ein Missverständnis. Nicht, dass nun alle Bücher einzeln geprüft werden sollen, meinte ich, sondern dass jeder Fall einer Forderung nach Umschreibung im Einzelnen geprüft werden muss. Denn für die grundsätzliche Tilgung bestimmter Wörter an allen Stellen bin auch ich nicht. Ich dachte, das sei deutlich geworden.
      Ich finde meine Position gerade wieder in den Kommentaren von @tgr, der sie viel besser zu formulieren versteht als ich.
      Ihre Meinung zu Schule und Deutschunterricht teile ich großenteils, wenn auch sowohl ich als auch meine Kinder einzelne wirklich hervorragende und inspirierende Lehrer erlebt haben. Ich habe z.B. Max Frisch in der Schule kennen und lieben gelernt und ganz allgemein eine Förderung meines ohnehin vorhandenen Faibles für Literatur erfahren. Mit guten, engagierten Lehrern stelle ich mir die Bearbeitung des Themas „nachträgliche Textveränderung“ durchaus fruchtbar vor.
      (Im Übrigen ist das ganze verkorkste Schulsystem ein eigenes Thema, für meine Kinder nun zum Glück abgeschlossen, aber längst nicht ver- und gegessen.)

      „Seien Sie sicher, daß ich gegen sowas, daß über meinen Kopf hinweg entschieden wird, immer anrennen werde, und das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß ich rassistische oder sonstig unmenschliche Neigungen hätte.“
      Wunderbar! Genau das tue ich auch. Auch mir ist Freiheit das höchste Gut.Auch ich wehre mich gegen Fremdbestimmung, selbst in leisester Form. Da „durfte“ ich vor Jahren Erfahrungen sammeln, die mich für alle Zeit sensibilisiert haben gegenüber den geringsten Anzeichen von Manipulation und Vereinnahmung.
      Das mag für Sie nun im Widerspruch stehen dazu, dass ich dann einen so schwerwiegenden Eingriff wie den der nachträglichen Veränderung eines Textes befürworte. Es ist aber kein Widerspruch, wenn ich dieses Recht auf Freiheit von Fremdbestimmung jeder und jedem einräume, z.B. auch das Recht, selbst zu bestimmen, was zu tragen man bereit ist und wo und in welcher Form man aus Gründen der Selbstachtung bestimmte Forderungen laut macht. (Welche im Einzelfall zu diskutieren [das ist besser als prüfen] sind). Freiheit ist meines Erachtens nicht losgelöst von Respekt zu erlangen. Und letzteren spreche ich Ihnen nicht ab, im Gegenteil!, ich finde Ihre bisherigen Einlassungen zum Thema alle sehr respektvoll. Ich teile eben nur nicht Ihre Befürchtungen und bin auch nicht so streng der Meinung, dass Text dringend unverändert bleiben, also quasi konserviert werden muss. Gut, wenn Urfassungen, Überarbeitungen, Neufassungen aufbewahrt werden als Dokumente ihrer Zeit und gut, wenn darüberhinaus der Prozess, der zur Überarbeitung führte, ebenfalls aufbewahrt wird.
      Aber ich wiederhole mich nur noch, statt neue Argumente vorbringen zu können, und klinke mich deshalb an dieser Stelle aus der Diskussion aus und verfolge erst einmal schweigend weiter.
      Mit herzlichem Dank für das sehr detaillierte Eingehen auf meine Einlassungen!

  8. Und das ist wirklich alles… Eine schöne, mit viel Verve vorgetragene Apologie gegen die Re-Edition einiger Kinderbücher. Aber als Nicht-Schriftsteller frage ich mich manchmal – ist es die digitale Tinte denn wert?
    Mal ketzerisch gedacht: warum sollte man Begrifflichkeiten, die Gedankengut (hier rassistisches) aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert transportieren, das aber heute zum Glück überwunden scheint, nicht einfach aus der Alltagssprache aussterben lassen. Auch, indem sie in den neuen Auflagen von Kinderbüchern ersetzt werden. Würde es sich um amerikanische Klassiker wie „Onkel Toms Hütte“ oder „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ handeln, würde ich das wahrscheinlich anders sehen. Aber bei den genannten Werken sehe ich nicht, inwiefern es den Plot verändert – und die Historie sowieso nicht. Geschichte selbst wird nicht über den singulären Gebrauch von Begrifflichkeiten transportiert, es ist für mich ein Kausalitätsgeflecht, dass von der Steinzeit bis in unsere Zeit reicht, mit Denk- und Traditionslinien, die sich in ihrer Komplexität vor allem im aufmerksamen Beobachten der heutigen Welt enthüllen. In diesem Sinne wird der Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts durch die Vermeidung des Begriffs „Neger“ nicht negiert, er hat seine Spuren längst in etwas, was man gerne etwas pathetisch als kollektives Gedächtnis bezeichnet, hinterlassen. Mal abgesehen davon, dass mit der Re-Edition der Kinderbücher die bereits herausgegebenen Schriftstücke vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht morgen im Orwellschen Sinne redigiert werden, sondern als solche als Zeitzeugen bestehen bleiben.

    Daher wollte ich einmal – bewusst provokant – nachfragen: Steckt hinter der großen Empörungswelle, die sich gerade in der „schreibenden Zunft“ (und ein wenig auch in diesem Blog) breit macht, nicht vielleicht lediglich eine sublime Angst des Schriftstellers selbst. Die Angst nämlich, das eigene Werk ist kein monolithisches, unwandelbares Eines für die Ewigkeit. Die Angst, dass in 20, 30, vielleicht 40 Jahren einer daherkommt und ein paar der wohlfeil gesetzten, lange reflektierten Worte für die Nachwelt ändern könnte, weil sich die Gesellschaft geändert hat und neue Zeiten neue Begrifflichkeiten und Denkmuster erfordern. Schlicht also die Angst, selbst keine Werke von unwandelbarem normativem Charakter geschaffen zu haben wie Shakespeares Hamlet oder Goethes Faust, sondern veraltete, nur noch unter historischen-kritischen Gesichtspunkten interessante wie Shakespeares Kaufmann von Venedig.

    1. @tgr. Ihr Einwand ist sehr nachvollziehbar, auch wenn Sie selbst ein wenig vorm Eingreifen in den Huck Finn zurückzucken.
      Viele meiner Einwände habe ich bereits vorgetragen und möchte sie nicht wiederholen; sie lassen sich ja nachlesen. Tatsächlich fürchte ich etwas Orwell’sches, nunmehr aus dem Guten Meinen heraus, das auch am Anfang aller kommunistischen Umerziehungsversuche der Menschheit ganz zweifelsfrei gestanden hat. Die Französische Revolution hat versucht, die Macht der Religionen mit einer „Göttin der Vernunft“ einzudämmen usw. Das heißt, der ideologische Anteil aller solcher Unternehmen ist hoch, so auch jetzt. Ich glaube, Lässigkeit wäre im Umgang mit den Begriffen angeraten; wo aber ganze Auflagen revidiert werden und sich auch schon die Suchenden aufmachen, nach weiteren Büchern zu fahnden, kann von einer Lässigkeit nicht gesprochen werden.
      Das andere Argument, ob wir vielleicht befürchteten, nicht selbst „monolithische Werke“ zu schaffen oder geschaffen zu haben… nun, keiner von uns weiß, ob sie oder er hat oder nicht. Das werden wir auch niemals erfahren, nicht einmal, ob uns überhaupt Kunst gelungen ist. Mit diesem Wissen gehen Künstler seit jeder um und werden es für jehin tun. In der Tat aber legen Sie den Finger auf einen Punkt, nämlich damit: weil sich die Gesellschaft geändert hat und neue Zeiten neue Begrifflichkeiten und Denkmuster erfordernDieses war auch im sogenannten Dritten Reich so und war in den Diktaturen des Stalinismus so. In der Tat sähe ich mich ungern in Richtung auf solche und andere Dogmen umgeschrieben. Verhindern werd ich es nicht, aber doch dazu beitragen können, daß die Schwelle hoch liegt. Übrigens sehe ich nicht, inwieweit der Hamlet oder Faust weniger „unwandelbar“ seien als der Kaufmann von Venedig, dessen eigentliche Kraft – eine ganz jenseits des mittransportierten Antisemitismus‘ – Sie, glaube ich, völlig übersehen. Es handelt sich nach wie vor um ein großes Stück; der Antisemitismus tut dem überhaupt keinen Abbruch, vielleicht um so weniger, als er uns allen daran zu schaffen macht.
      Und ich frage noch einma da, wo es allen, den Vertreter:innen des Umschreibens, aber auch mir, sehr weh tut: Wollen wir in der Tat auch Hannah Arendt umschreiben und >>>> ihren Titel durch einen politisch heute einwandfreien ersetzen oder wollen wir den Lesern selbst ihre Schlüsse über Frau Arendts Überzeugungen zutrauen?
      Aber selbstverständlich reagieren wir Autoren, weil es um unser eigenes Medium geht, in dieser Frage empfindlicher als sagen wir ein Mediziner, der bei ganz anderen vorgeblichen Verbesserungen hochgehen, zumindest protestieren würde oder ein Maler, dem plötzlich das Kirchenlila untersagt wird, weil Kirche selbst – ganz sicher nicht ohne guten moralischen Grund – unter heikle Betrachtung geriete.

    2. Ich weiiß nicht was da überwunden ist, wenn ein Mensch wegen einer anderen Hautfarbe immer noch zu Tode gehetzt wird, wenn er in Gefängnissen verbrennt, nur weil es die Polizisten angeblich nicht merken. Fragen Sie doch Afrikaner, wenn es Ihnen möglich ist inwieweit der Rassismus nachgelassen hat.
      Klar, wenn ich aus dem Fenster sehe, sehe ich eine feine Landschaft, mit Ponys die tatsächlich keinen Rassismus kennen..

    3. @Bert. Völlig klar, der Rassismus ist nicht überwunden, noch lange nicht, weder bei uns noch gar in den USA, noch in China, auf dem afrikanischen Kontinent Schwarzer gegen Schwarzer, in Indien, Südamerika, wo Sie auch hinsehen. Nur bin ich nicht der Meinung, daß ihm eine Veränderung der Begriffe auch nur von ungefähr den Boden nimmt. Das einzige, was wir damit erreichen, allenfalls, ist, daß wir selbst uns gut fühlen, indem wir uns selbst unsere richtige Haltung bestätigen und Betroffenen im Wort entgegenkommen. Das ist nicht ohne Sentimentales. Sowie es de facto an Eigenes geht, wird in aller Regel scheu zurückgewichen, weil man den eigenen Besitzstand nun doch schon bewahren will.

      (Wo leben Sie, daß Sie Ponys sehen, wenn Sie hinausblicken? Ich sehe Fenster, Hunderte Fenster, hinter denen Menschen leben aus ganz verschiedenen Kulturen.)

    4. Der Rassismus scheint überwunden – er ist es nicht… @Bert.
      Und doch – wenn Sie 100 Menschen wahllos auf der Strasse fragen, dann bekennen sich die wenigsten dazu ein Rassist zu sein. Rassistische Statements werden gerne mit der Eröffnung „Ich bin ja kein Rassist, aber…“ eröffnet. Teilweise werden verdrehte Sprach- und Formulierungsebenen gewählt, um den eigenen Rassismus butterweich zu transportieren. Daher meine Formulierung, dass der Rassismus überwunden scheint…

      Das er es nicht ist, dafür haben sie ja genug Beispiele geliefert. Manchmal könnte man annehmen, dass dieses Verhalten zumindest gesellschaftlich geächtet ist, dann zeigen aktuelle Umfragen aber wieder das Gegenteil. Ich bin mir sicher – in unserer Gesellschaft wie in unseren Köpfen gibt es noch viel zu tun.

      Zu den Ponys, und dass konnte ich mir jetzt nicht verkneifen – ironischerweise müsste es eigentlich so sein, dass Ponys Rassismus kennen, Menschen aber nicht – immerhin gibt es unter den Ponys Rassen im biologischen Wortsinn, während bei den Menschen Unterarten (oder Subpopulationen, darüber kann man lange streiten) existieren.

    5. @albannikolaiherbst Vielen Dank für die Antwort – und die Offenheit.
      Ich verstehe schon Ihre Motive, die Befürchtungen, dass alles könnte nur der Auftakt , die Proberunde für ein großes Umschreiben und Zensieren sein, sollte doch einmal (was Gott verhüten möge) ein neues totalitäres System heraufdämmern. Diese Befürchtung kennt wahrscheinlich jeder, der sich einen Funken Empathie und Humanität erhalten hat. Die aktuellen Fälle scheinen geringfügig, müssen Ihnen und anderen Kulturschaffenden aber wie ein Dammbruch vorkommen (schätze ich das richtig ein?).

      Meine Position dazu bleibt eine andere – das „Dammbruch-„Argument habe ich will ich nicht in meine Denkmuster integrieren, ich neige eher zu einer Einzelfallbetrachtung. Ich sehe gerne die Gesellschaft in einer Art Tippelschritten voranschreiten und wieder zurückweichen, sorgsam prüfend, aber nicht statisch verharrend. Von meinen Kindern hoffe ich, dass sie aufwachsen, ohne Wörter wie „Neger“ in Ihren Sprachschatz zu integrieren, bevor sie sich rational mit den Folgen den Rassismus auseinandersetzen können, ebenso wie ich z.B. den Terminus „Erbfeind“ erst kennenlernte, als ich mich rational mit der Historie des frühen 20. Jahrhunderts auseinander gesetzt habe. Und damit verbinde ich auch die Hoffnung, dass meine Kinder aufmerksam, zuversichtlich und optimistisch in die Zukunft blicken, so wie ich versuche, es zu tun.

  9. Martin Luther King – ein weiterer Rassist? Zunächst ein Dankeschön für den Diskurs. Bin auf Ihren informativen Blog gestoßen, auf der Suche nach einer Antwort auf eine Frage, welche ich mir seit der Eröffnung der „Negerkönig“-Debatte stelle: Matin Luther King spricht alleine in seiner „I have a dream“-Rede in Washington 15 mal vom „Negro“, nicht von „black people“ und nicht von „African Americans“. Was macht der deutsche Caucasian Englisch-Lehrer dann zukünftig korrekt in seinem Unterricht?
    Etwa U-tube-Filme (http://www.youtube.com/watch?v=smEqnnklfYs) mit Beeps versehen, Textblätter anpassen? Oder Entlastung a la: “ MLK konnte nicht wissen, dass negro rassistisch ist … . „
    Chris

    1. Sehen Sie Herr Herbst, den meisten gehts gar nicht um Literatur, die wollen Ihren Neger behalten, die schauen sich alte Videos an und zählen wie oft ein Martin Luther King Neger sagt. Das Millionen andere unter dieser Bezeichnung getreten worden sind, möchte er sehr wahrscheinlich nicht wahrhaben oder findet es am Ende gut.

    2. Noch etwas, ich habe sehr viele afrikanische Autoren gelesen und fand dort, als selbstbezeichnung, nicht ein einziges Mal das Wort Neger, was ja auch seltsam wäre, natürlich die Herrenmenschen aus England, Frankreich, Italien, Deutschland und Amerika, ach Portugal hab ich vergessen, gibt es eigentlich ein Land dass sich nicht in Afrika besudelt hat, die jedenfalls sagen natürlich Neger, weil es ihre Art ist mit Menschen zu reden, aber das kann doch keine Art von Menschen sein, die sich mit Kunst befassen oder?

    3. Zählen, ja… …aber nur nachdem ich mein eigenes Arbeitsblatt mal schnell geöffnet und durchgesehen hab. Ich zeige dieses bewegende Video seit ‚zig Jahren, um die Botschaft MLKs den Kids rüberzubringen . Millionen wurden (unter dem Begriff „Nigger“) versklavt und getreten, wie sie zutreffend festgestellt haben. Faszinierend aber, wie schnell Sie in Ihrem letzten Halbsatz zu einem Urteil über mich gelangen und mich noch als Beleg dafür anführen, es ginge in der Debatte nicht um Literatur (resp. Sprache).
      Chris

    4. Aber so machen es doch alle, aber immerhin entschuldige ich mich dafür und schenke ihnen, diese Zeilen von Okot P`Bitek…aus dem wunderbaren Streitgesang

      Lawinos Lied- Ocols Lied

      „Meine Gatte überschüttet
      Schwarze nur mit Spott,
      er handelt wie eine Henne,
      die ihre eigenen Eier frißt.
      ein solches tier gehört in einen Korb gesperrt“

    5. @Bert. weil es ihre Art ist mit Menschen zu reden, aber das kann doch keine Art von Menschen sein, die sich mit Kunst befassenWo habe ich das denn getan? Ich bin vollkommen der Ansicht, daß heutzutage einige Begriffe nicht mehr verwendet werden sollten; aber ich bin nicht der Ansicht, daß Dokumente, die sie einmal verwendet haben, nachträglich gesäubert und einem in der Tat nichtdiskriminierenden Sprachgebrauch angepaßt werden dürfen. Wobei auch überhaupt keine Notwendigkeit besteht, solche Bücher noch zu kaufen; ob man dies tut, ist jedem selbst überlassen. Es gibt sehr viele andere Bücher, gerade auch Kinderbücher, die keinen Anlaß zum Sirnrunzeln bieten oder gar dazu, sich verletzt zu fühlen.
      Ich bin nicht bereit, irgend einem Dogmatismus die Hand zu reichen, auch nicht einem der Redlichkeit, denn ich hole mir andernfalls Gremien ins Haus, die an meiner Stelle bestimmen, für und über mich. Als gesellschaftliche Entwicklung halte ich so etwas für in jedem Fall fatal.

    6. Ich mag darüber schon gar nix mehr schreiben, außer vielleicht eines, ich habe Sie damit nicht gemeint, ich beobachte das schon eine ganze Weile, dass wo immer von diesen Veränderung die Rede ist, einem das Gefühl zuwider ist, dass es hier welche gibt, die ihren eigenen Neger retten wollen, den eigenen dummen Neger, der nie existiert hat.

    7. „Eigene Neger“@Bert. Diese Bemerkung finde ich völlig unangebracht. Sie unterstellt den Befürwortern des Umschreibens von Büchern, bzw. Ersetzens heikler Begriffe eine persönliche Unlauterkeit. Oder habe ich Ihren Kommentar falsch verstanden? Hier rate diesmal ich zur politischen Korrektheit, weil „jemandes eigenen Neger“ gegenwärtiger Sprachgebrauch ist; was Sie wahrscheinlich ausdrücken wollen, läßt sich auch unrhetorisch sagen: einfach klar in der Benennung.

      Was ich, um meinem ersten Lesegefühl zu folgen, definitiv sagen zu könenn meine, das ist, daß ich von einigen Befürworter:innen der Eingriffe in Bücher einen sehr seriösen Eindruck habe; manche von ihnen kenne ich persönlich und bin von der empfundenen Dringlichkeit ihres Anliegens völlig überzeugt, auch, wenn ich meinerseits überzeugt bin, daß sie einen falschen, in meiner politischen Sicht hochgefährlichen Weg einschlagen.

    8. @tom. Das dachte ich zuerst auch, wurde aber unsicher, weil es Barts anderen Einlassungen diametral entgegenstünde.

      (Andererseits werden hier immer wieder, aus subversiven Gründen, nicht registrierte Anonyme von ganz anderen als den Leuten benutzt, die sich mit ihm eigentlich eingebracht haben.)

  10. Diese Seite existiert noch? Ich dachte, sie wäre im Rahmen der neuesten Sexismusdebatte bereits aus dem Netz verschwunden…

    1. witzlos Sog. einfache Menschen haben in den Lagern besonders brutal reingetreten. Adorno hat deshalb jegliche Verklärung auch der Landbevölkerung strengster Krtitik unterzogen.

    2. Das Einfache Ich vermute, dass Isaac Newton nicht im Verdacht steht, als einer der engeren Bezugspersonen in Ihrem Wissenshorizont zu stehen, aber diesem durchaus nicht dummen Menschen wird das Zitat zugesprochen, dass man Wahrheit, wenn überhaupt, dann nur in der Einfachheit findet.

    3. @UNECA. Einfach ist so schwierig nicht Wenn Sie jetzt die Ebene wechseln und auf epistemologische Fragen abheben, verkomplizieren Sie ohne es zu wollen. Übrigens hat auch Leibniz das gleichschenklige Dreieck für das vollkommenere Dreieck gehalten – ganz einfach.

    4. Schwierig geht auch einfach In diesem Zusammenhang: Warum verwenden Sie nicht die durchaus elaborierte deutsche Sprache und ersetzen die vermutlich den wenigsten Lesern geläufige Begrifflichkeit der „Epistemologie“ durch die sich selbst erklärende Berifflichkeit der „Erkenntnistheorie“?

    5. Ihre Antwort… …deute ich als unabdingbare Konsequenz Ihrer Weltanschauung. Insofern steht sie im Einklang mit der Wahrheit – Ihrer Wahrheit.

    6. Weltanschauung@UNECA. Welche, meinen Sie, habe ich denn? Uund wie definieren Sie Wahrheit, bzw. was bedeutet der Wahheitsbegriff – mehr noch: das, was er meine – für Sie? Über ein „einfaches“, dem Glauben nahestehendes Überzeugtsein sollte er hinausgehen.

    7. Wahrheit Zunächst: Die Erkenntnis eines der großen Denker der Menschheitsgeschichte mit einem Federstrich einfach so als Irrtum abzutun spricht für sich. Chapeau, zumindest in dieser Hinsicht gibt es für Sie offensichtlich nicht mehr viel zu lernen und erfahren auf dieser Welt. Wobei ich einschränkend konstatieren muss, dass man bei diesen überlieferten Zitaten nicht wirklich weiss, ob die Zuordnung stimmt. Und man kennt natürlich auch nicht den Kontext, aus dem der Gedanke entsprungen ist.

      Zur Wahrheit, wie Newton sie versteht oder wie ich zumindest glaube zu wissen, wie Newton sie verstanden haben will: Wahres ist wahr, weil es nicht erklärt werden muss, um als Wahrheit zu bestehen. Wasser ist nass, Feuer ist heiss und die Erde dreht sich. Natürlich kann man erklären, warum die Erde sich dreht. Aber das macht es nicht wahrer. Nicht im Geringsten. Je tiefer wir uns in Erklärungsmuster verstricken, um vermeintlich Wahres zu berichten, desto weiter entfernen wir uns von der Wahrheit. Insofern verhält es sich, zumindest nach meiner Sicht der Dinge, genau nicht so, wie Sie schreiben. Nicht das Einfache sollte uns verdächtig sein, sondern das Komplexe und Komplizierte – weil es wenig und eher häufiger als seltener überhaupt nichts mit der Wahrheit zu tun hat.

      Ihre Wahrheit – Sie schreiben hin und wieder darüber, dass Ihnen Ihr Hang zur Wahrheitsliebe beruflich zum Nachteil gereicht – scheint mir recht erklärungsbedürftig zu sein. Wie Sie überhaupt Wert auf Erklärungen und Begründungen legen, auch wenn es (lediglich) um Fragen des persönlichen Geschmacks oder des ästhetischen Empfindens geht. Insofern meine Mutmassung hinsichtlich Ihrer Weltanschauung, die Sie bitte nicht als unangemessenen Übergriff erachten sollten.

    8. klassisch Leider (oder Gott sei Dank) ist es wiederum mit der Wahrheit so einfach nicht. Sie sagen ja, oder Sie meinen, Newton hätte im 17. Jahrhundert gesagt, die Wahrheit sei einfach nur das, was auf der Hand liegt. Eigentlich nichts anderes als das, was uns als sinnliche Gewissheit gegeben ist: nämlich das ontos on (das dieses da). Das ist ein rein empiristischer Wahrheitsbegriff. Es kann nach meiner Einschätzung aber nur Unkenntnis oder Ignoranz gegenüber jenen Erklärungsmodellen von Wahrheit sein, wie sie in der klassischen deutschen Philosophie – und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem Empirismus – entwickelt wurden,- was zu einer solch flachen Vorstellung von Wahrheit führt.
      Hegel: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich R e s u l t a t, dass es erst am E n d e das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“
      Die gesamte Vorrede zur „Phänomenologie“ widmet sich übrigens der Exposition des Wahrheitsproblems. Auch kann man schon bei Leibniz – der ja auf der gleichen Zeitebene wie Newton liegt – lernen, dass es keine willkürlich abbrechende, also letztlich auf einen dezisionistischen Glaubensakt beruhende Wahrheitsbegründung (und damit Begründung von Wissenschaft) geben kann, sondern dass es eines Rekurses auf die Totalität der Bedingungen, d. i. das Weltganze, bedarf.

    9. Es gibt, wie schon erwähnt, recht respektable intellektuelle Ahnen. Friedrich Wilhelm Hegel, um hier mein Lieblingsbeispiel zu zitieren, fand es angemessen, folgendes zu behaupten:

      „Bei den Negern nämlich ist das Charakteristische gerade, dass ihr Bewusstsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei welchen der Mensch mit seinem Willen wäre und darin die Anschauung seines Wesens hätte.“
      Und er fährt fort:
      „Zu dieser Unterscheidung seiner als des Einzelnen und seiner wesentlichen Allgemeinheit ist der Afrikaner in seiner unterschiedslosen, gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch das Wissen von einem absoluten Wesen, das ein anderes, höheres gegen das Selbst wäre, ganz fehlt.“

      Es ist unsinnig, auch nur einen einzigen Augenblick darauf zu verschwenden, die banale Unwahrheit dieser Behauptungen zu widerlegen. Ich begnüge mich damit, eine Erkenntnis daraus abzuleiten die- selbst heute noch- von all jenen übersehen wird, die behaupten, die Fähigkeit, die eigene Universalität in Richtung eines Über-Anderen hin zu projizieren, sei der absolute Zielpunkt allen menschlichen wissensdurstes. Es gibt aber, glaube ich, eine sehr gesunde Ideenlehre, die sich dem nicht nur gedanklich entgegenstellt, sondern die auch wirkungsvoll strukturierte Gesellschaften hervorgebracht hat, die unabhängig sind von dieser verführerischen, ja sogar inspirierenden, doch reichlich extravaganten Fabel.“

      (Wole Soyinka Nobelpreisrede. Diese Vergangenheit muss sich ihrer Gegenwart stellen…bei Ammann…)

    10. @UNECA und zu tom. tom >>>> sagt ausführlicher, was ich – sogar in Ihrem Sinn – „einfacher“ gesagt habe. Dabei ist er genau, bei mir war es ein Paralipomenon, das notwendigerweise verkürzt ist. Was ich außerdem meine, ist, daß hinter Ihrem Wahrheitsbegriff der Kitsch lauert, einer, der sich mit einem Fuß auf den Augenschein stützt, mit dem anderen ihn aber wegtritt. Newton richtete sich gegen die komplizierten Engeltanzereien des ptolemäischen, bzw. die durch das Christentum veranstalteten „Beweise“. die die Erde im Zentrum des Weltalls, eben als Schöpfung Gottes, behalten wollten. Nun ist die newtonsche Mechanik so einfach aber eben nicht mehr, wenn die Gravitation selbst einer Untersuchung unterzogen wird – mit den bekannten Ergebnissen von Einstein bis Heisenberg und dem Umstand, daß sogar die Zeit eine relative Bestimmung ist. Und zwar sind die Grundoperationen der Computertechnologie, wie sie heute tagtäglich angewendet wird, extrem simpel, nicht aber ist es mehr ihre Summierung. Angeblich einfache Prozesse stellen sich, je genauer man hinblickt, als um so komplizierter – nämlich komplexer – heraus.
      Wobei Sie in meinem Fall Wahrheitsbegriffe durcheinanderwerfen; meine Äußerung, daß mir „die Wahrheit“ im täglichen Leben Probleme bereite, bezieht sich auf den Umstand, daß ich über Belange öffentlich spreche, von denen der gute Ton oder der glatte Ablauf wollen, daß sie unter der Hand geschehen. Allerdings bin ich mir sicher, daß Sie das auch ganz genau so schon wissen.
      Wogegen ich mich, erkenntnistheoretisch sozusagen, richte, ist dieser leidige Satz: Das Gute sei einfach, bezogen auf Literatur. Da ist das Einfache schlichtweg nur simpel und für simple Gemüter, die sich in ihrer und als Menge selbstverständlich besser als Konsumenten eignen als der einzelne Gebildete und von daher auch Anspruchsvolle. Eine marktglatte Idolisierung des schlichten Bewußtseins und Bedürfnisses mache ich aber schon aus politischen Gründen nicht mit.

      Im übrigen ist Ihr Angriff auf meine Glaubwürdigkeit ein nicht ungeschickter Schachzug, >>>> meine eigentlichen Einlassung auszuhebeln, ohne auch meine Argumentation überhaupt einzugehen. Insofern bitte ich doch, da das nun durchschaut ist, zum eigentlichen Thema zurückzukehren.

    11. @Ulmen. Es geht nicht darum, daß jemand weitergenannt wird, wie er nicht genannt werden will. Es geht darum, daß jemand genannt worden i s t und daß sich das nicht dadurch aus der Welt schaffen läßt, daß man es leugnet. Sondern er ist ein gutes, lebbares Verhältnis zur Vergangenheit, und zwar je persönlich, zu entwickeln, ganz gleich, welche Herkünfte wir haben, aber eben nicht unter Absehung von diesen Herkünften. Sie sind ein Teil jeweils unserer Kulturen, ohne daß sie selbst gar nicht verstanden werden können. Darum, unter anderem, geht es mir: immer um Unterschiede und um ihre Wahrung. Manche Unterschiede sind sofort sichtbar, andere sind es nicht. Auch dort, wo sie es nicht sind, lege ich Wert auf sie und schätze sie. Unterschieden zu sein, ist Reichtum, sowohl persönlicher, wie gesellschaftlicher. Die Unterschiede zu leugnen, läßt uns verarmen.

    12. Herr Herbst, es ging mir im eigentlichen Sinne nur um Ihre – ja, sicherlich aus dem Kontext genommene – Einlassung, dass das Einfache, im Gegensatz zum Komplexen und Komplizierten, zu verdächtigen sei. Wir können beide nicht wissen, was Newton tatsächlich umtrieben hat, als er sich zur Wahrheit und zum Einfachen geäußert hat. Allerdings scheinen wir beide zu unterschiedlichen Erklärungen zu kommen. Im übrigen, mit Hegel kann man alles und jedes erklären. Ich weiss nicht mehr, ob es für Heidegger oder doch für Hegel gilt: Jeder hat ihn gelesen, keiner hat’s verstanden.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .