Krawatten. Eine Jubelrede im Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 23. Mai 2013.

9.18 Uhr:
[Arbeitswohnung. Brahms, Haydn-Variationen (Argerich, Lugano 2012).]
Lugano – einer der Orte, die man sich für wiederkehrende Festivals aussucht, weil es so schön dort ist. Es ist auch andernwärts sehr schön, aber ein Zufall hat einen nun gerade in diese Gegend gespült, und an ihr hält man fest. Es entwickelt sich so etwas wie ein Heimatgefühl, das den Umstand müßig werden läßt, auch anderswo sei es einzigartig oder schön. Wir entscheiden uns, oft aus einer Art lustvollem Trotz, und halten an den Entscheidungen fest. Seltsam, daß mich heute früh „Lugano“ so ins Meditieren bringt.
Zuvor, plötzlich im Nu, >>>> das Distichon, das ganz sicher mit den Überlegungen (und dem Aufruhr) von >>>> gestern und >>>> vorgestern zusammenhängt. („Lugano“ verdanke ich UF). Ich hätt’s ja auch „einfach“ sagen können, aber nein, ich wollte dazu wieder eine Form ausprobieren, bzw. perfektionieren. Indirekt führt formales Konzentrieren dazu, daß man das Gesagte-selbst überdenkt, schon, weil die Suche nach rhythmisch passenden Wörtern ständig neue Variationen, semantische also, hervorbringt.
Aber ich wollte, anschließend an die Auseinandersetzungen um Lesungsablehnungen, über Krawatten schreiben, die ich schon sehr früh, etwa ab fünfzehn, getragen habe – in einer Zeit, da die Jeans und Parkas ihren Siegeszug durch die Jugendszenen begannen und weltweit auf die Gipfel trugen, da „langes Haar zu haben“ Ausdruck von Emanzipation und politischem Widerstand war und in den Zuhauses zu ganzen Serien von Krach, Zerwürfnissen, Auszügen usw. führte; ich trug, als Jugendlicher, die Krawatten – und Anzüge – damals sozusagen weiter, die von den Studenten gerade abgelegt worden waren; man erinnere sich: Studenten vor 68 siezten sich oft noch. Ganze Verhaltensmuster gerieten ins Rutschen. Daß ich damals für mich die Anzüge entdeckte, machte mich zu einer teils verlachten, teils gemiedenen Sondererscheinung, zumal ich auch noch die E-Musik für mich entdeckt hatte und meinerseits alles ablehnte, was „populär“ war – weniges, doch immerhin, ausgenommen, Johnny Cash etwa, ich war sogar in Daliah Lavi vernarrt, was aber mehr als mit ihrer Musik damit zu tun hatte, daß ich mir so „die Frau“ vorstellte, die Frau, sozusagen, „an sich“:

Im übrigen ging ich in die Oper und ins Konzert, für zweites am Abo meiner Mutter schmarotzend, fürs erste verdingte ich mich der Braunschweiger Statisterie. Weiter, als es damals der Fall war, konnte ein Kontakt zu Gleichaltrigen nicht auseinanderklaffen. Entsprechend bestand mein nahster Umgang beinah nur aus Eigenbrötlern wie mir selbst. Wenn ich zurückblicke, denke ich, daß ich damals in der Ideenwelt einen Vater suchte; es gab ja faktisch keinen für mich. Faktisch gab es in meiner Jugend nicht einmal Männer (meine Mutter hielt sie sich, die sie zugleich für Dienste lockte, weit vom Leib), an denen ich mich hätte orientieren können. Zwar versuchte ich, anderer Väter zu adoptieren, aber das funktionierte selbstverständlich nicht. Also habe ich, psychodynamisch, nicht als bewußten Prozeß, versucht, mich selbst zu meinem eigenen Vater zu machen: so zu werden, heißt das, wie ich mir dieses Ding Vater vorstellte, bzw. erhoffte. Dabei ging es auch um Form, um Erscheinung und Haltung. Ich muß entsetzlich frühreif gewirkt haben, mir selbst zum Schaudern, wenn ich mir das heute vorstelle.
So betrat ich den Literaturbetrieb. Da war ich achtzehn/neunzehn.
Unterdessen gibt es ja auch in ihm schöne, bzw. elegante Menschen, auch wenn immer noch nur sehr wenige, vergleicht man das Erscheinungsbild mit dem in anderen Kunstszenen, etwa in der Bildenden Kunst und dem Film. In Literaturkreisen saßen fast nur nachlässig bis ungepflegt gekleidete Leute herum, eine Ansammlung, ob Weibchen oder Männchen, grauer Mäuse und sonstiger Wühl- und Nagetiere, die unablässig einen schalen Geruch von schlechtem Gewissen, Verklemmtheit und Lebensunlust absonderten. Für die Literaturszenen anderer Länder, besonders romanischer, eine Undenkbarkeit. Hier knabberten die Leute noch als Erwachsene an den Nägeln der davon längst schon wunden Finger, und das Zerbißne wurde als Beleg für Wahrheit vorgehalten. Ich denke heute, daß auch dies eine Folge der Hitlerzeit war, ein – unbewußt – sich auferlegtes Büßen. Und da nun trat ich – damals ein wirklich schöner Junge, egal, wie gemieden ich war – mit meinen Anzügen und Krawatten auf. „Eitel“, hieß es aber auch sofort. Man dachte, ich glaube: wirklich, daß jemand, der auf sein Erscheinungsbild achtet, nichts anderes wolle, als Hohlheit zu verbergen. Man war – ebenfalls unbewußt – davon überzeugt, daß nur das Häßliche wahr sei, und der Wahrheit hatte man sich verpflichtet. Christlich, ja puritanisch gesprochen, hatte man das Jammertal zur wahren Mode des Geistes gemacht. Ich formulierte damals – und veröffentlichte es -, daß man, um in Deutschland als Autor zu gelten, seine Finger in Blumentöpfe stecken mußte, bevor man das Haus verließ. Keine Akzeptanz ohne Trauerrändern unter den Nägeln.
In den Achtzigern dann, da war ich um die dreißig, ging die Rede von mir als einem Dandy um; die Männer Vogue kürte mich sogar zum bestangezogenen Schriftsteller Deutschlands, was noch immer in keiner Weise dazu geeignet war, meine literarische Akzeptanz zu erhöhen. Im Gegenteil, es gab mir zusätzlich den Ruch des Halbseidenen. Zu allem kam nach wie vor meine Abkunft, die ich als schlimmen Makel mit mir herumtrug – anders als die Verwandtschaft in der sogenannten Freien Wirtschaft; denen ist unser Name immer Steigbügel gewesen, und er ist es dort geblieben. Das konnte ich in meiner Zeit an der Börse ganz hautnah erleben. Wo ich übrigens – aus Protest gegen uniforme Kleiderordnungen – die Anzüge ablegte und zum ersten Mal in meinem Leben Jeans trug; ich hatte vorher gar keine besessen. Der Ärger darüber ging bis nach New York City und wurde da tatsächlich in einer Konferenz besprochen. Einer meiner besten Kunden wendete meine Kündigung ab, weil er meinem Office Manager klarmachte, wie leicht es sei, sein Geld aus dem Unternehmen wieder abzuziehen; die Deutsche Bank sei ja gleich nebenan. Egal. Daß ich aber überhaupt an die Börse gegangen war – aus Notwehr, übrigens; ich hatte etwas gegen die bei mir ein- und ausgehenden Gerichtsvollzieher unternehmen müssen -, schädigte meinen Ruf im Literaturbetrieb noch mehr. Da spielte es gar keine Rolle, ob ich in dem Job selbst umstritten war. Etwa legte ich fast zwei Jahre lang jeden Morgen den Kollegen ein Gedicht ins Eingangsfach, keine eigene Lyrik, nein, sondern meist klassische Texte oder Gedichte der Moderne, viel Benn, einigen Pound, Hölderlin, Rilke, Eichendorff, auch Gedichte von Hesse. Jeden Morgen ein neues. Auch darüber gab es, erinner ich mich, eine Konferenz.
Ich war – und bin – eine für den Betrieb ungewohnte Erscheinung; „keinen Stallgeruch zu haben“ wird nach wie vor als lästig und vielleicht sogar als gefährdend empfunden. Ich machte keine Mode mit, orientierte mich immer allein an dem, was mir wahr zu sein schien und wichtig, daß man’s befördre. Ich akzeptierte und akzeptiere keine Autorität-als-Position; ich bat und bitte nie, also im Sinn von Bettelei; ich beuge mein Knie nicht vor Macht. Mit andrer kultureller Ausrichtung wäre ich für meine Generation ein Musterexemplar gewesen: rebellisch, unangepaßt an Konventionen, ja Konventionen feindlich gesonnen, zudem lustbetont und vor allem: hell. Doch es gab keine Näherung, konnte keine geben, und in den Neunzigern wurde dieses Unangepaßte und Rebellische überdies unmodern; nach dem Fall der Mauer konvertierte die Linke in Scharen in die USA; man hatte unterdessen ja auch selbst Position und liebte die Lehraufträge in Berkeley. Was ich, als ich’s registrierte, publizistisch sogleich mit aufs Korn nahm. Ich wurde nicht milde. Aber selbst, wäre ich es geworden, hätte es mir niemand geglaubt; die Fronten hatten längst Wurzeln, tiefe.
Ich erzähle dies im Nachgang zu gestern und vorgestern, weil ich klarstellen will, daß das wenigste an der Ablehnung von ANH tatsächlich auf literarisch Sachlichem fußt, sondern es geht hier vorwiegend um persönliche Differenzen. So habe ich das vorgestern, unter anderem, auch gemeint, auf das Moritz >>>> so, sagen wir, sauer reagierte (im Link um 16.32 Uhr erzählt). Und es wird wieder nicht für mich sprechen, d a ß ich solch Tacheles rede, sondern ist ein weiterer Stein, über den man mich stolpern sehen möchte.
Aber bitte!: Dies ist keine Klage. Meine Haltungen haben mir auch sehr viele Vorteile eingebracht, etwa und vor allem bei Frauen; seit ich sechsundzwanzig war, bin ich sehr und viel geliebt worden, sowohl körperlich wie seelisch. Das ist bis heute so. Ich habe außerdem, nicht zuletzt, überhaupt nicht zuletzt, innige Freunde, ohne die mir meine Konsequenz gar nicht möglich gewesen wäre; oft sprang mir jemand bei, von dem ich vorher allenfalls den Namen wußte. Das konnten – und waren es – auch plötzliche finanzielle Zuwendungen sein, die mir aus ziemlich unguten Lagen halfen, ganz unversehens, plötzlich. Das auch waren oft seelische Beistände, Zuschriften etwa mir unbekannter Personen, die mir dankten, einfach dafür dankten, daß ich war, wie ich war. Und heute, so langsam denn doch etwas reifer werdend, merke ich an den jungen Autoren, daß ich einen Ruf habe, der durchaus nicht nur schlecht ist. Daß ich in der Literatur – ob man sie offiziell wahrnimmt oder verschweigt – für etwas stehe, für das zu stehen es sich lohnt. Das ist toll. Das gibt enorme Kraft, auch wenn ich hie und da mal wieder ausflippe und so reagiere, daß mich mein Profi-Freund seine „Dramaqueen“ nennt. Ich habe mir mein BerührtWerdenKönnen erhalten, meine Geschichte hat es mir erhalten. Und, eines der wichtigsten Umstände eines so in den Körper vernarrten Menschen wie mich, ich bin fast schon skandalös gesund, habe keine Zipperlein, keinen schlimmen Rücken, keine Nackenschmerzen, kenne Kopfschmerzen nicht, keine besonderen Übelkeiten, muß mich nicht hinter dicken Brillengläsern verkriechen, meine Blase und Harnröhre funktionieren einwandfrei, und ich bin nicht lipom auseinandergequollen, kurz: ich bin privilegiert. Aber das schon, fürchte ich, reicht, mich einen Ausgesonderten bleiben zu lassen, einen Paria aber, der da ist und verdammt gerne lebt: als Literat und als Mann und, das ist ganz ganz vorne zu nennen, als Vater.

Haben auch Sie einen herrlichen Tag!
Ihr:



16 Uhr:
[Mozart, Klavierkonzert Nr. 25 (Argerich).]
Irgendwie komme ich heute zu nichts und, wie ich der Löwin morgens am Telefon sagte, werd ab morgen wohl wieder den Wecker stellen müssen. Der Körper will, egal, wann ich aufstehe, seinen Mittagsschlaf haben, so daß ich ihn nicht einfach streichen kann. Zumal ich in einer Stunde das Lauftraining wiederaufnehmen will; diesmal macht mein Sohn mit. 17 Uhr Tartanbahn an Max Schmeling.
Wenigstens die Savano-Exzerpte zuende abtippen jetzt. Und abends auf die dämlichen Filme verzichten. Besser lesen, was zu lesen ist. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, wie Heller meinte.
Ran jetzt!

(Sehr schöner Text, abermals >>>> bei Sophia Mandelbaum. Mit dem meisten dessen, was heute so von jungen Menschen als Buch veröffentlicht wird, aber auch von älteren, hält das geradezu lässig mit.)

18.20 Uhr:
Nach dem gemeinsamen Laufen:



(Ja, so können Melonen schmecken.)

Mein Sohn bleibt heute wieder hier über Nacht. Später gibt es Lasagne.

7 thoughts on “Krawatten. Eine Jubelrede im Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 23. Mai 2013.

  1. Ja, ich weiß noch (sie saßen trinkend und rauchend wie die Vitalität selbst an unserer Seite), wie obszön fröhlich sie lachten, als ich mich in Ihrer geschätzten Gegenwart mit einer auch Ihnen lieben Freundin über unsere Zipperlein unterhielt. Dieses Lachen schallte weit in die Prenzlauer Berge hinein.

    1. (Laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaacht). Danke Ihnen, lieber Schlinkert. (Eigentlich hatte ich zu den Krawatten hier noch etwas Einschränkendes schreiben wollen, aber das werd ich nun später tun.)

  2. grüsst ebenfalls stärkstens lächelnd.-Fast alle treuen Unbeugsamen beisammen,fehlen nur Melusine Barbie und DiadarmIn für vollste Kraftzehrung.Danke, reicht schon.

    1. @Glitschi Wörmland. Das sind dann aber wenige Unbeugsame, oder? Nicht mal ein kleines gallisches Dorf und dieses nur mit dem Zaubertrank der Poesie, allenfalls, bewaffnet gegen Rom.

      (Mir gefällt es immer sehr, solch kleine Steilvorlagen geboten zu bekommen. Dank Ihnen.)

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