Am dritten Tag vor Romamelia. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 8. Juli 2013. Sich nie mitfreuen wollen.

11.30 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Sitze noch in den Sportklamotten hier; um halb sieben war ich meine Stunde schwimmen, danach zum Krafttraining im Friedrichshainer Volkspark, und flugs waren, als ich wieder an den Schreibtisch kam, drei ganze Stunden herum. Hm, frißt wirklich Zeit. Aber ich glaube tatsächlich, daß das Geheimnis eines erfüllten, gesunden Lebens in der Verausgabung besteht und daß nichts, wirklich gar nichts so gefährlich ist, wie der Gedanke an und der Wunsch nach „Muße“. Es geht um Intensität, und zwar möglichst ständige; daß es der Ruhephasen bedarf, ist freilich klar – doch auch sie sind dann rauschhaft. Wie gestern in der Sauna, acht Gänge insgesamt, davon vier Aufgüsse und zwischendrin zweimal je eine Stunde strammes Schwimmen in der Schwimmhalle; den fünften Aufguß beim neunten Gang hielt ich aber nicht mehr durch, da brach ich ab, hing aber schon vorher wie ein benebelter Otter im Tauchbecken am Rand, hing da, wirklich, und spürte dem Blut nach, das tatsächlich spürbar durch mich hindurchlief. Ein hinreißendes Gefühl, schlaff wie ein klitschnasser Waschlappen, absolut grandios.
Während es mich draußen, auf den Liegen, nie lange hielt. Immerhin besann ich da meinen deutlich abschwellenden Fuß – und entdeckte die offenbare Ursache: da war ein kleiner Pieks, ein Einstich, genau an der Stelle zu sehen, wo die Schwellung am stärksten gewesen. Also hatte sie ihren Grund anscheinend nicht, wie ich gedacht hatte, in der zu festen Kniebandage, sondern irgend ein fieses Insekt scheint mich im Park als Nahrungsdeponie betrachtet zu haben, und entweder ich habe allergisch auf den Stich reagiert, was für mich untypisch wäre, oder aber das in mich gespritzte Antigerinnungsmittel war heftig; es kann ebenso sein, daß es sich schlichtweg um den Stich einer Biene oder Wespe gehandelt hat – ich weiß das deshalb nicht, weil ich, je älter ich werde, desto weniger noch Schmerzen ernstnehme; mein Kopf blendet sie einfach aus, nimmt sie kurz wahr und schüttelt dann die Wahrnehmung ab – so, wie ich das in Neapel mit dem Zahnschmerz gemacht habe, den ich da sogar als ein positives Erleben integriert hab. Daß sowas geht, ist großartig; für mich eine ganz neue Lebenserfahrung, die ich nicht mehr missen will. Der Vertretungszahnarzt dann: „Sie sind nicht so der Typ für Spritzen, oder?“ Die Zahnnervbehandlung dann halt ohne – nicht wirklich angenehm, nein, aber angenehm, daß man da ohne weiteres durchkommt.
Was aber Unfug von mir war, war, ein Buch und das Neapel-Typoskript mit in die Sauna zu nehmen. Selbstverständlich hab ich nicht eine einzige Seite gelesen – genau so wenig, wie mir der Sinn aufs Rauchen stand. Wobei ja schon früh meine Mutter der Meinung war, daß ich überhaupt rauchte, sei ein Bewegungsersatz. In der Tat rauche ich nicht, wenn ich mich bewegen kann, sondern nahezu immer nur am Schreibtisch oder in der Bar, also immer dann, wenn meine Physis ruhiggestellt ist, dann aber genau so intensiv, wie wenn ich körperlich trainiere. Möglichst immer an die Grenze kommen, sie überhaupt erst erfahren, die einem zu erreichen möglich ist, nichts aufsparen, sondern ausleben – . Mir scheint es, zum „vollendeten Leben“, sehr viel erstrebenswerter zu sein, eines Tages aus Überforderung umzufallen und dann eben tot zu sein, als sich einem Prozeß langsamen und kränkelnden Dahinscheidens aussetzen zu müssen. Ja, eine Krankheit kann auch mich erwischen, selbstverständlich, aber wenn es nur irgendwie geht, werde ich sie abzukürzen versuchen. Ich bin des festen Glaubens, daß wir ein langes Siechtum viel mehr durch Bequemlichkeit und Muße riskieren als dadurch, daß wir die physischen und psychischen Möglichkeiten, die wir jeweils haben, bis auf die Neige ausschöpfen. Ist das geschehen, kann man sterben ohne Bedauern. Eben erfüllt. M e i n Credo. Niemand muß es teilen.

Neapel: Also heute das Typoskript der Rohfassung auf Papier lesen und korrigieren – aber schon gestern fiel mir ein Motiv ein, das ich dummerweise völlig vergessen hatte: die tot vom Himmel stürzenden Vögel, von denen Vergil berichtet und deren Legende, erzählt >>>> Dieter Richter, noch in den 80ern in Neapel kursierte. Ich will sie im Hörstück Fakt werden lassen. Deshalb muß ich den Anfang des Stücks noch ergänzen, bzw. umschreiben. Dennoch erst mal die jetzige Rohfassung lesen; eventuell sind Redundanzen drin, die das Paste ’n Copy-Verfahren aus meinen Notaten verschuldet hat. Übermorgen vormittag will ich beim Deutschlandfunk abgeben; die genauen O-Töne setze ich erst in Amelia hinzu; vielleicht bereite ich sie da auch schon vor, also schneide und montiere – an meinem Laptop geht das mit Kopfhörern recht gut.
Im übrigen finde ich es bezeichnend, daß bei Leistungen jedesmal >>>> genölt oder einem sogar falsche Auskunft, wenn nicht Prahlerei unterstellt wird, anstatt daß sich die Leute mitfreuen. Aber meine Erfahrung sagt, daß „die“ Menschen es g a r nicht lieben, wenn jemand etwas allein aus der Kraft seines Willens erreicht; sie mögen einen starken Willen nur dann, wenn er offiziell und allgemein anerkannt ist, ja ihre Sympathie zieht ausgesprochen jene vor, deren Gaben ihnen „geschenkt“ worden sind; vielleicht, weil sie das nicht so in ihrem Selbstbild gefährdet, denn ein Geschenk, ob nun Erbe oder Talent, muß man nicht als konkurrent verstehen; es ist eben ein Geschenk, das der eine bekommt, der andere nicht – letztlich ein „Glück“. Was hingegen erstritten wird, steht in schlechtem Ruf – so, wie wenn sich jemand etwas anmaßt, das ihm gar nicht zusteht. Die moralische Frage, was denn etwas Zustehendes als ein jemandem Zustehendes sei, stellt sich nicht, und wer denn bestimme, was zustehend sei und was nicht. Da wirkt immer noch die Gottergebenheit des Mittelalters, das bekanntlich, heißt es im >>>> Wolpertinger, ewig ist.

13.46 Uhr:
So, die erste Lektüre mit den ersten Korrekturen erledigt. Bevor ich das übertrage und dann an die Neufassung gehe, Mittagsschlaf. Um mal wieder in die Routine zu kommen. (Wahrscheinlich werde ich gegen den späten Nachmittag weiteres aus dem Skript auf die Hauptsite Der Dschungel stellen.)

22.22 Uhr:
Die erste Fassung steht; jetzt wird das Neapelstück rund. Aber einen weiteren Auszug stelle ich erst morgen früh ein; hab jetzt keine Lust mehr auf Formatiererei. Sondern schließe den Arbeitstag jetzt. Haben Sie eine gute Nacht.

Sah nach den Zeichen genau, die sie gäben, wohin sie zur Atzung
Flögen von hier. Doch schwangen so weit nur jene sich vorwärts,
Dass die Verfolgenden leicht sie im Auge zu halten vermöchten.
Als des avernischen Sees pesthauchende Kluft sie erreichten,
Hoben sie rasch sich empor, und, die flüchtigen Lüfte durchgleitend,
Wählten zum Sitz sie den Wipfel des doppelgestaltigen Baumes,
Wo durch die Zweige das Gold abstach mit schimmerndem Glänze.

Vergil, Aeneas in der Unterwelt.

7 thoughts on “Am dritten Tag vor Romamelia. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 8. Juli 2013. Sich nie mitfreuen wollen.

  1. In der Tat, das aus und mit eigenem Willen Erstrittene wird einem oft madig zu machen versucht, weil man dafür, so meinen manche, nicht vorgesehen, nicht prädestiniert war und auch immer noch nicht ist. Zum einen kann man so die Unterstützung des eigene Milieus verlieren („der hält sich jetzt für was Besseres“), zum anderen kommt man aus Sicht der „Dazubestimmten“ nie wirklich im Zenit an mit seinem Tun, denn ist es nicht eine Anmaßung sondergleichen, etwa professionell klassische Musik zu machen, obwohl man aus einer Arbeiterfamilie kommt!? Tatsache ist, man muß die Welt zur Anerkennung zwingen, ohne dies zu seinem eigenen Nachteil werden zu lassen. Beispiele gibt es zum Glück genug, der „Welt“ zum Trotz!
    ( Ich jedenfalls habe schon sehr früh damit begonnen, mich anmaßend zu benehmen: http://nwschlinkert.de/2013/05/09/anmassung-die-erste/ )

    1. @Schlinkert zum SichFürBesserHalten. Ich weiß sehr wohl, daß Sie zu diesem Nexus einiges mit sehr viel Recht zu sagen haben, und achte sehr Ihre ungebeugte und unbeugsame Konsequenz.

      (Nun muß ich aber wirklich an mein Hörstück).

  2. Aliis si licet, tibi non licet Wenn es den anderen erlaubt ist, so doch nicht dir.

    Meinetwegen aber können und sollten Sie so viel Aufhebens um Ihre Leistungen machen, wie es Ihrer jeweiligen Stimmung entspricht – ich weiß schon lange, dass Sie – um ein altes Wort mal wieder zu gebrauchen – nichts lieber sind als inbrünstig. Das, was Sie „intensiv“ nennen.
    Und dass das nicht immer gelingt – es gibt ja auch Tage, und Phasen, da fühlt sich die gleiche Menge geleisteter Arbeit überhaupt nicht so triumphal an; von diesen schreiben Sie ja ebenfalls sehr offen. Und, stimmt, in solch verzagten Phasen können wahrscheinlich mehr Leser:innen etwas mit Ihnen anfangen, Ihnen entgegen kommen, denn das Verzagtsein, das kennen viele, wohingegen Ihr lustvolles Auftrumpfen, die Besessenheit, der Suchtcharakter nicht so ganz in die „Bundesgartenschau der Mäßigung“ passt, wie ich es vor ein paar Tagen mal auf TT nannte.
    Der Kampf um Anerkennung… der Glaube daran, dass sich die eigene Qualität durchsetzt, dass andere absehen können von persönlichen Sympathien oder Antipathien, vom „standing“ des Autors im Etablierten, von privaten „Schwächen“ oder „Stärken“ des Künstlers, der Künstlerin, dass es ihnen gelänge, einfach auf die Leistungen zu schauen … diese unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen: dass das ein Recht sei, das vom Künstler eingefordert werden könnte, bezweifle ich. Eine berechtigte Erwartung sollte es aber sein.
    Bleiben Sie, wie Sie sind. Mir fällt gerade noch ein nicht mehr oft verwendetes, aber schönes Wort für Sie ein: KARACHO!

    Herzlich,
    Madame TT

    1. „daß es ein Recht sei“. Na ja, prinzipiell stimmt das. Aber wenn es ein „Recht auf Arbeit“ gibt, wenn wir das anerkennen, muß auch das andere ein Recht genannt sein. (Prinzipiell gibt es ja auch kein Menschenrecht, sondern Menschenrechte sind formulierte Postulate – um die wir dennoch wie als um Rechte ringen, und zwar – ecco – mit recht. Auch die Menschenrechte, übrigens – mir scheint es wichtig, das hinzuzufügen -, sind durchaus nicht von Mehrheiten, sondern von Einzelnen formuliert worden.)

      Ihr, lachend,
      Karacho

    2. Nachtrag zum „Recht“. Als Heinrich Böll 1969 das „Ende der Bescheidenheit“ ausrief, war auch das ein Postulat, das Rechte einforderte, von denen man nicht sagen kann, sie seien gegeben. Nichtsdestoweniger – oder gerade deshalb – ist daraus etwas entstanden, das uns allen (Künstlern) das Leben sehr viel leichter gemacht hat, manchen vielleicht überhaupt erst möglich: nämlich die Künstlersozialkasse. Es ist ungemein wichtig, daß ein Berufsstand – auch der des Künstlers ist einer – nicht darauf verzichtet, Rechte zu postulieren, egal, ob er auf Mehrheiten bereits zählen kann. Gerade in unserer heutigen Zeit, die so sehr auf Quote getrimmt ist, daß der Künstler in den Status eines feudalen Lakaien zurückfällt, will ich darauf beharren. Denn auch, wenn der heutige Souverän das Volk ist, so wird der Geschmack des Volkes doch von Kräften geformt, die je bestimmte, höchst ökonomische Einzelinteressen verfolgen.

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