Erinnerungslosigkeit, aber die Sprache seiner Seele
lebte und hatte Bestand in der singenden Klarheit
ihrer Form.
Broch, Der Tod des Vergil, S. 188.
Es ist die letzte Nacht Vergils und sein letztes Erwachen. So naheliegend es Ihnen auch erscheinen mag, so überrascht war ich doch, als mir während der Lektüre mit einem Male, das anfangs ganz latent war, die Gedanken zum „Traumschiff“ stiegen, dem Sterbebuch, das vor mir liegt; Gedanken, die ich absichern muß, zu denen ich mit einem Freund sprechen muß, weil der, setz ich sie um, betroffen wäre – eingebunden, mit eingebunden: auf eine seltsame Weise halte ich mich i m m e r an Vergils, bzw, seines es‚ Todes-Postulat, daß es Erde sein müsse, was der Dichter sich durch die Finger lasse – d u r c h den und vorher i n den Geist -, bevor er mit Recht zu schreiben beginne; alles andere sei Verrat: der genannte Eidbruch eben: „… wer einen Vers als solchen lobt, ohne sich um die vom Vers gemeinte Wirklichkeit zu kümmern, der verwechselt das Erzeugende mit dem Erzeugten, der macht sich, ob bewußt, ob unbewußt, des wirklichkeitsleugnenden, wirklichkeitsvernichtenden Eidbruchs schuldig, wird zum Komplizen aller Eidbrüchigen.“ Fast bin ich darüber erstaunt, wie sehr ich auf einen Moralisten höre.
Dafür ließ ich die Moral meiner Arbeit nicht nur gestern abend sausen, als wir, der Freund und ich, noch nachts einen Gang durch die Stadt machten, die älter sei, viel älter, als Rom. Ich dachte über Lysanias nach, weil ich begriffen hatte, daß er, der Knabe, für Vergil ein ebensolcher >>>> Psychopompos war wie Tacio bei Thomas Mann für Aschenbach; daß es ein Knabe ist in beiden Fällen, mag Manns Begeisterung für Brochs Roman miterklären; Vergil allerdings, wiewohl durch eine pädophile Gesellschaft geprägt, wehrt die Vereinigung ab, die der Knabe ihm ganz offensichtlich und in aller, soweit man das sagen kann, Unschuld anbietet. Was für Thomas Mann längst Gegenstand der Verdrängung sein mußte, wäre für Vergil Gemeinsinn gewesen – eine allgemeine Lust & Nähe. Aber er formuliert bereits, bei Broch, eine Liebe als Demut und Ergebenheit im Erwarten. Schon streicht sich jeder Anspruch durch und will sich vergessen –
14.06 Uhr:
[Amelia, Eßtisch in der Sala cardinale.]
So las ich von sieben Uhr morgens bis gegen zehn. Dann mochte ich mich pflegen, hatte meinem Sohn vorher noch seinen Latte macchiato ans Bett gebracht, den er aber in meinem Beisein, derweil sein Freund noch schlief, auf den drei Stufen zur Wohnung am Cortile trinken wollte. Wir plauderten fast so dabei, wie gestern nacht Freund H. und ich bei Walda, unten im Ort, wo wir zwei Grappe nahmen. „Ich weiß schon, weshalb ich hierbin“, sagte der Freund, als wir wieder über >>>> Wände sprachen, und über Straßenbelag, und über halb zerfallene Türen, mithin über die geheimnisvollen Landschaften, die einem jede Ecke hier ist, jeder Eingang, jedes Fenster, jeder Dachsparren, jede Treppe, ja jeder Stein am Weg. Daß nicht immer gleich gerodet wird, was einfach von sich aus wächst, was keinem Plan, der der Mensch entworfen, folgt, sondern sich selbst setzt und behauptet und gelassen wird. Stärker, o so stark mein Verlangen, ebenfalls in den Süden zu ziehen, „aber es ist, seltsam, in Italien stärker als anderswo, und stärker, je tiefer im Süden; in Spanien habe ich das nicht, nicht derart empfunden, auch nicht in Nordafrika, auch in Indien nicht. Ich weiß, was sich einwenden läßt: daß ich einer Tradition folge, einer sehr deutschen. Aber nun je: gehör ich da nicht auch hin? Und ich folge nicht, sondern fühle es ja; die vermeintlichen Vorbilder las ich erst später.“ Was nicht ganz stimmt. Ich denke an Albano (daß er so hieß!, Jahre später erst realisierte ich das – ein bis dahin Vergessenes)… Albano also, auf den Borromeischen Inseln. Als er dem Vater begegnet, der in Starre verfallen.
Ich las und las. Und um elf ging es ins Kloster hinunter, in dessen Kreuzgang ein kleiner Wochenmarkt für Lebensmittel; dort kauften wir ein; ich vorher noch weißes grobporiges Brot, das ich liebe, in der Panetteria fuorilemure. Ein Buffet ward aufgebaut; die Verkäufer:innen boten frei ihre Erzeugnisse für ihre Kundschaft an: Prosciutto und Pane, Oliven, verschiedene Salate, Couscous aus Hirse und mit Hirtenkäse, eingelegte getrocknete Tomaten, verschiedene Stücke Pizze, geschälte riesige Feigen, Wein und Wasser und ein hinreißender, der beste, den ich je nahm, Limoncello mit Bergamotte. Dazu spielte ein junger Mann, der in seiner Freizeit Geigen baut, Geige.
Jetzt will ich, in der Sonne, weiterlesen; heute abend aber – es wird Spanferkel geben, dazu Rosmarinkartoffeln – müssen wir endlich an den Giacomo Joyce: Liebe meinen Regenschirm. Und aber
Broch, Der Tod des Vergil, S. 234.
Sie wecken … … mir die Sehnsucht, den Broch wieder zu lesen. Na, mal sehen …
Selten ist, lieber PHG, eine Sehnsucht leichter erfüllbar, als wenn die Erfüllung im Eigenen liegt.