W Ä N D E oder INNAMELIAS ERSTER TAG: sowie Vergil. Im Reisejournal des Donnerstags, dem 11. Juli 2013.

Es sind die Wände, die den Augen in Italien guttun – jene vielen Wände, die ihre Spuren behalten, weil man sie ihnen läßt, sei’s aus Ergebenheit, sei’s aus Mangel an Mitteln; Wände, auf denen, i n denen unsere Augen spazierengehen können, auch Türen aus Holz, nahe einem Zustand zugeneigter Verrottung, voll der Risse und Fugen wie die Wände auch, die so dem Leben Nistplatz sind, ob von Insekten, ob von Vögeln oder, oben, pipistrelle Einflugluke; Fugen, die alleine ihr Bröckeln und, gewebt wie von Alter, ein Spinnenflor, und nur drittlig, verschleiert, Humus zugleich für dürres Gezweig, das aber grün da herauswächst. Die Witterungshärten, scharfe, trocknende Sonne im Sommer, der lang ist, und in zweidrei Monaten untenwegte Güsse dann – nirgends erlebe man, schreibt schon Goethe, die Kälte so sehr wie im Süden – , die Klammheit des inneren Rückzugs, Schatten wie heimliche Bäche, die auch i n den Häusern die Wände überfeuchten – diesen Witterungshärten, die sich ihnen, den Wänden, nicht einbeißen, sondern mit langen, geduldigen – wie unentwegten – Fingern darüberstreichen, bis frühjahrs wieder der Löwe seine Krallen zeigt – IL SOLLEONE – und ihre Hitze an den weichgewordenen Fugen schärft, setzt der Mensch niemals sofort seinen renovierenden, spurenlöschenden Widerstand entgegen, sondern er läßt:

An einer amerinische Hauswand, Juli 2013
Es ist eine Toleranz gegenüber den Dingen und Läuften, als hätten sie eine Seele, die zu achten sei, und erst eine wirkliche Notwendigkeit läßt ihn, den Menschen, eingreifen, prägt seine Handschrift ihnen auf: wenn der Zuwachs der Familie, zum Beispiel, neuen Raum benötigt; erst dann wird der lange leere, halb bereits zusammensackende Schuppen oder die Kammer neu ausgebaut, erweitert, befestigt, verschönt, oder aufs Dach wird, ohne „zu fragen“, ein kleiner Aufbau aufgesetzt. Da ist nicht Planung im langen voraus, die die Möglichkeiten beschränkt und alles auf eine Zukunft hin einebnet, die seelisch schon vorzementiert ist, sondern Raum fürs Begeben. In Kleinstädten wie Amelia – aber oft noch auch in den Metropolen – sind die Wände gleichsam von Natur aus >>>> Schumachers Bilder:
„Jeden Tag sieht jede Wand anders aus“, sagt der Freund, als ich ihm nach meiner späten Morgenbetrachtung im Cortile

von den Wänden erzähle. Ich war erst spät aufgestanden, nachdem ich gestern nacht bis halb vier mit dem Freund geredet und, als er zu Bett gegangen, noch Herlings >>>> Die Insel ausgelesen hatte; gelesen vom Beginn des Fluges bis zu unsrer Ankunft, fast da durchgekommen durch die ruhige mythische Prosa. Es war halb elf, als ich aufstand. Da hatte der Freund schon gearbeitet. „Guten Morgen, du“, sagte er, „Frühaufsteher“ und freute sich an seinem Spott ganz wie ich selbst.
Es sind die Wände Italiens, die uns diesem Land so vertraut machen, so nah, näher als in irgend einem anderen Land, das ich kenne, näher als jedem anderen des Südens; es ist eben die vom Norden „Nachlässigkeit“ geziehene italienische Disposition, die auch von Bloch so genannte, aber selbstverständlich eher dem Mangel als einer Absicht zuzuschlagende Neigung zur Improvisation. Woraus wir eine Tugend des Mangels nicht nur erkennen, sondern zu erfühlen, fast körperlich zu ertasten lernen können, der freilich nur so lange gilt, wie er nicht Elend ist, zu Elend verkommen, ins Elend gepreßt, sondern ein Mangel bleibt, der Raum für den Genuß läßt und für die Freude. Nicht daß es Luxus gibt, für wenige und für die meisten nicht, ist der Skandal, sondern daß der Luxus, ist er auf kapitalistische Ökonomie – eine der, mit Marx gesprochen, Akkumulation – gegründet, den Mangel zu Elend machen w i l l und macht. Wir können im Mangel flanieren, er läßt uns empfindsam werden; am Elend aber werden wir stumpf.
Wände. Jetzt werden sie wieder naß. Denn es hat

13.35 Uhr:
zu regnen begonnen, plötzlich, mit einem Gewitterschlag, und regnet nun noch immer. Wir waren aber schon, durch die Sonne spazierend, beim Alimentari verde, einem ums Eck sein Bio-Lädchen betreibenden, fast noch jungen Öko-Pflanzer, und haben kleine Zucchini mit Blüten und haben Gurken, Knoblauch und Kartoffeln eingekauft und geschwätzt; man geht hier über zwei Gassen und hat bereits mit drei Leuten geplaudert.

Herlings Insel also. Sowie Brochs „Der Tod des Vergil“ – den ich nunmehr endlich einmal am Stück lesen will; meine früheren Lektüren dieses entscheidenen Romans der deutschspachigen Moderne sind immer wieder unterbrochen gewesen von, vor allem, meinen eigenen Projekten, waren nur Stückwerks Rezeption:

Als ich gestern überlegte, welches Buch ich für Italien mitnehmen wolle, kam mir ganz plötzlich diese allein schon wegen >>>> meines Neapel-Hörstücks so naheliegende Idee; und parallel werde ich Vossens Übersetzung, auf dem Kindle, von Vergils Aeneis lesen

,
aus der ich im Hörstück ja zitiere: Das Leitmotiv der tot vom Himmel fallenden Vögel stammt daher.
Das nämliche läßt sich von aller großen Kunst behaupten: sie ist letztlich immer religiös, aber sie befindet sich auch immer auf der Gottsuche; der Mensch, welcher Gott bereits gefunden hat, braucht sich zu ihm nicht mehr zu äußern (…).
Broch in den Nachbemerkungen zu
>>>> „Der Tod des Vergil“
Und nun hat es zu regnen aufgehört, aber nicht aufgehört hat das Tröpfeln, noch nicht aufgehört hat das Glucksen in den Wänden und das Grummeln des davonziehenden Gewitters. Ich will gleich noch einzwei Passagen aus Herlings Insel abtippen und einstellen, dann die Erste Fassung des Neapel-Hörstücks an meine Redakteurin vom DLF schicken und danach zu lesen beginnen; das Stück selbst will ich einzwei Tage liegen lassen, bevor ich mich mit den Musikmontagen beschäftigen werde.
Am Abend werden wir, >>>> Schulze und ich, Letzte Hand an unseren Giacomo Joyce legen:



Sechs Tage werden wir hier in Amelia verbringen, bevor wir >>>> auf die Insel weiterreisen.

19.35 Uhr:
[Jarrett, Sapporo 1976: >>>> Parallalies Musik, um den Feierabend einzuklingen;
nunmehr darf sich am Wein gutgetan werden.
Die Jungs haben jeder eine Riesenscheibe Cocomero gefuttert.]

Zuhausesein bedeutet für mich immer: einen Ort zu haben, an dem ich kochen kann. Es gibt, für die Jungs, Penne al Ragù und, für die Väter, Penne al Nero di Sepia (die Tinte wird erst beigefügt, wenn die Kopffüßler mürbe sind). Als Beilagen gedünstete Zucchini und grüne Paprika, getrennt zubereitet. Dazu den hiesigen formidablen Winzerwein.
Lange in Brindisi gewesen, bzw. in Brundisium: die „Ahnung um ein seltsames Eigenleben seiner Hände“ – ein mir selbst eigenes, in Argo, sehr bekanntes Motiv. Und seltsam die Ruhe, die mich überkommt und ausfüllt, wenn ich diese islamischen Kappe trage; keine „gläubige“ Ruhe, sondern eine irdisch-innere.

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