Unterwegs. Beim Betrachten alter Fotos. Das 67. PP: Nach dem Paradies, das in Thüringen liegt.

(7.11 Uhr.)

Dann steh da mal in Göschwitz, wenn der schmale Zug zehn Minuten später kam, und die Anschlußeisenbahn, nein, keine österreichische, hat zwar ebenfalls Verspätung und du erreichst sie auch, nicht aber mehr den ICE in Weimar. Da zieht die Fahrt sich denn hin. Eine junge Dame, blond, mit dem Lächeln eines Pumas, dir gegenüber, und sie erzählt frank und frei, freilich in ihr Mobilchen, daß sie sich bis Brüssel durchschlagen müsse; das nächste Mal nehme sie, versichert sie, den Flieger. Aber über uns scheint die Sonne und scheint zu uns herein. Ich lese, oder versuche es, denn habe in der Nacht vorher Bekanntschaft mit Goldkrone gemacht, meinen Kjærstad weiter: fünfzig Seiten noch, die ich aber nicht schaffe. Denn Goldkrone, ich sage nur Goldkrone, aber mit Ausrufezeichen, !, war ein DDR-Brandt, ist es noch, aber heruntertemperiert auf 28 Volumenprozente, damit man die Fläschken auch als Likör verkaufen kann. Das schließt durchaus nicht aus, daß vordem das Getränk liebevoller zum Kopf war.
Bis weit übern Mittag hinaus hatte ich die Gliedmaßenkonsistenz eines Gummitigers, doch war guter Laune, schon, weil es sehr komisch ist, in dieser Kondition ins Paradies zu schauen. Da saß ich nämlich noch, aber am Rand, und kein Michael war zu sehen, geschweige flammenden Schwertes, der mir hätte den Eingang versperrt, wenn ich ihn denn gesucht hätte. Er wußte gewiß, daß s o viel Zeit denn nicht blieb, weil ich von den Verspätungen noch gar nichts ahnte. Doch sowieso hatte Goldkrone mich genügsam gemacht, auch bescheiden, Sie werden‘s nicht glauben. Mein Cigarillo genügte mir, auf der Bank in der Sonne, vollauf und daß ich den Ruckssack abschnallen konnte, der sich mit Gummigliedern, zu denen im Goldkronefall auch Nacken und Rücken gehören, nicht ganz so sicher tragen läßt, wie wenn man hätte nur Wasser getrunken oder, horribile dictu!, mir geht das Wort nur schwer von den Fingerspitzen, Bionade. Der, immer noch, glauben Sie‘s mir, ist Goldkrone sehr vorzuziehen, schon aus gesundheitlichen Gründen.
Als ich noch klein war, lehrte Vater mich das chinesische Zeichen für „Krise“. Es setzt sich aus zwei kleineren Zeichen zusammen: „Gefahr“ und „neue Möglichkeiten“.
Kjærstad, >>>> Ich bin die Walker Brüder.

Dann versunken in Bilder der Vergangenheit, denen schon die Gegenwart sich ansehen läßt, wenn man gut hinschaut. Es sieht dann immer so aus, als wäre, was kam, notwendig. „Hätte ich mich anders entschieden, wäre ich heute nicht die, die ich bin.“ „Nun ja“, antwortete ich, „aber das ist eine Nullaussage. Denn es gilt in jedem Fall. Hätten Sie sich damals anders entschieden, antworteten Sie mir heute dasselbe. Wir sind, was wir sind, nicht ungern, da ist kein wahres Bedauern und wäre es auch dann nicht gewesen. Wir hätten vielleicht andere Menschen geliebt als heute, aber eben auch das hätten wir richtig gefunden.“ Bilder von Mädchen mit Zöpfen, in Dirndls ohne, logisch, Decolletées, weiße Kniestrümpfe, Krägen, auf deren Schicklichkeit die Ordensschwestern achten; dann der Aufbruch, die Stirn heruntergenommen: komme, was da will! Junge, energiegeladene Frau, die den Bizeps spielen läßt. Ein wirklich geniales Skizzenbuchdann, proppevoll mit Ideen, an denen bereits besticht, daß sie das sind: Idee. Die gesamte Kraft der Möglichkeiten. Der Wille, die Welt auf die Hörner zu nehmen. Unkorrumpierbar. Und deshalb eben die Entscheidung. Sich nicht „hochschlafen“ wollen, sondern alles, alles aus Eigenem schaffen, nicht sich beugen, aber vielleicht die Gerte sein, die tanzt und sich biegt vor dem Wind, der drüber hingeht, und dann schnellt sie in ihre stolze aufrechte Kurve zurück.
Respekt.
Dazu die Mütter, alle immer irgendwie Mütter, auch die Väter Mütter, die Onkel Mütter, ebenfalls man selbst eine Mutter, der Schwester und den Freunden. Die Welpen und Hunde, die Segelboote, die Wanderungen durch den Schwarzwald, immer wieder die Holzterrasse, Ballett sogar, im Tütü, möcht man denken (so ist es aber nicht); das Klavier, die Gitarre. Alles vergangen. Vergangen. Und doch noch immer in einem drin und in einer. Konstellationen in Chamois. Der alte gestorbene aufgebahrte Mann mit dem von einer sich zunehmend straffenden Haut überzogenen Totenschädel. Wie der nichts mehr erzählt. Jena am Paradies, in das er nun hineinging, ohne sich zu bewegen.
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Also Sizilien >>>> heute abend, nachher, in Braunschweig. Die Löwin wird vor mir da sein, sie will mich am Bahnhof abholen. Wir werden durch diese Stadt meiner Kindheit gehen, und meiner Jugend, und meiner ersten großen nie vergessenen Liebe. Meiner Saufzeit, ich soff furchtbar damals, mit vierzehn/fünfzehn, und ich schrieb wie besessen. Ging morgens zur Schule, aber nicht in den Klassenraum, sondern ins Redaktionszimmer der Schülerzeitung. Dort packte ich meine Reiseschreibmaschine aus und schrieb. Mein erster Roman, 500 einzeilige, vermittels Kohle- und Durchschlagpapiers verdreifachte Seiten, viertels politische Widerstandsgeschichte, viertels Mafiaroman, viertels der Roman einer großen Liebe, viertels der Roman eines Geigenvirtuosen; alles immer ein bißchen Jean Marais‘ Fantomas, alles ein bißchen Sherlock Holmes, alles ein bißchen Tschaikowski. Schellte die Klingel zum Schulschluß, packte ich meine Sachen zusammen, stahl mich aus dem Raum und kehrte nach Hause zurück, wie wenn ich ein braver Schüler wär. Nachmittags setzte ich mich dort dann an die Schreibmaschine und arbeitete weiter an dem Buch, trank schon dazu, und schrieb, bis ich blau war und die Tasten nicht mehr fand. Dazu in Konzertsaalslautstärke meine Musik: Tschaikowski rauf, Tschaikoski runter. Gab es Ärger mit meiner gleich nebenan arbeitenden Mutter, packte ich mein Zeug zusammen, vor allem das Handmanuskriptbuch, und zog damit in die Theaterkantine des Staatstheater, wo ich eine dunkelhaarige Sängerin liebte, jedenfalls in meinem Kopf, oder in den Schloßpark, wo die Wermutflasche kreiste. Und wann immer es ging, machte ich mir Notizen.
Später einmal mehr davon. Vielleicht. Wenn Sie brav zu mir sind, dann schon morgen.
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Thüringen erinnert mich an meine Braunschweiger Kindheit. Das wurde mir gestern bewußt. Daher die Nähe. Es erinnert mich an meine Braunschweiger Jugendzeit; Rebellion und Phantastik. Und meine permanente obsessive Verliebtheit. Der erste Kuß, der zweite, und wie das Geschlecht sich dann hob: fordernd, aber so scheu.

2 thoughts on “Unterwegs. Beim Betrachten alter Fotos. Das 67. PP: Nach dem Paradies, das in Thüringen liegt.

  1. “Mit dem Lächeln eines Pumas” Oder: “erzählte frank und frei, freilich in ihr Mobilchen”, oder: “hatte ich die Gliedmaßenkonsistenz eines Gummitigers”. Einfach eine Freude, das zu lesen, das so zu lesen, wie Sie es schreiben können. Und wieder geschenkt, danke dafür. Wäre nicht eine Art Intranet eine Möglichkeit, für die, die Die Dschungel gerne lesen und auch bereit sind, für ein Abo zu bezahlen?

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