PP129, 19. März 2014: Mittwoch. Zehnter Tag vor der Großen Fahrt.

(6.15 Uhr.
Bartók, Violakonzert [Kopaschinskaya].)

Der erste Tag seit, scheint ihm, sehr langem, den er wieder ohne Druck und mit Musik beginnen kann. Noch aber kein Sport wieder, sondern: ausschlafen. Bis ein Viertel vor sechs, dann den Traum sanft vom Vulkanlager geschüttelt, den um ihn geschlungenen Löwinnenarm von der Brust genommen und ebenfalls sanft zur Seite gelegt, die Geliebte mit seiner eigenen Decke zusätzlich abgedeckt und ihr sein Hemd, längsgelegt, über die Augen getan, damit sie das gleich angehende Licht nicht am Weiterschlafen stört: Er will sich ja seinen ersten Latte macchiato bereiten, und die Küchentür läßt sich nicht schließen; das liegt an einer eigenartigen Verkabelung: fast aller Strom wird aus der Küche bezogen.

Gestern abend erreichte ihn eine Email seiner Redakteurin: Sie entschuldige sich, aber schaffe es nicht, >>>> das Hörstück vor „morgen“, also heute abend aus Gründen zu hören, die sie mit erklärt. Insofern muß er sowieso warten. Auch die Lektoratsarbeit, soweit ihm neuer Text vorlag, ist geschafft; ebenfalls heute wird ihn der Rest erreichen. In Hinsicht auf das Hörstück ist er aber insgesamt ruhig, denn auch die Löwin gab ihr Okay. Es wird ganz sicher nur noch um Feinheiten gehen und schließlich um die endgültige Abmischung und darum, daß alles auf USB-Stick und CDs rechtzeitig beim Sender eintrifft; „rechtzeitig“ heißt: bevor er zu der Großen Reise fliegen wird. Das wird in genau zehn Tagen sein, die ihm nun noch für die letzten Vorbereitungen bleiben.
Zu denen gehört für ihn, den Kontolosen, der Umtausch von Valuten. Er probierte ihn schon gestern, aber lief gegen, sozusagen, amtliche Wände. Keine Bank tauscht mehr Währungen, ohne daß man ein Konto hat. Es wird sehr offenbar, worum es letztlich geht – nämlich, insgesamt das Bargeld abzuschaffen. Werden sämtliche Finanzbelange über Konten, noch letztlicher: übers Netz abgewickelt, wird jeder Vorgang immer nachvollziehbar sein. In seiner Anderswelt-Trilogie schrieb es Herbst voraus: Eines Tages werden von jeder Zahlung die Steuerbeträge automatisch abgezogen und ebenso automatisch an die jweiligen Ämter überwiesen werden; ebenso werden stets alle Gläubiger, und auch vermeintliche Gläubiger, die Einblicke haben. Die gesamte Sozialwelt wird nach Art von Computerprogrammen ablaufen. Zum Beispiel wird man immer wissen, ob sich noch jemand, trotz der Rauchverbotes Tabak kauft.
Immerhin bekam er, das war aber nicht schwer, heraus, daß die Reisebank Valuten bar tauscht, weshalb er heute zur Friedrichstraße radeln muß. Um einen vermeintlich zu hohen oder nur-hohen Tauschpreis macht er sich keine Gedanken, weil er den – das wiederum ist ein Vorteil derart durchnormierter Prozesse – später gegen die Steuer verrechnen kann, als Betriebsausgabe, denn er unternimmt die Reise ja nicht für Urlaub, sondern sie ist, wird sein, Arbeit, auch wenn ich mir vorstellen kann, daß er speziell diese mindestens dann überaus genießen wird, wenn er auf dem oberen Deck seinen Sundowner nimmt und eine Pfeife dazu raucht. Heute morgen hörte er sogar schon Szenen des neuen Hörstücks, vernahm die Stimme des „Erzählers“, und Otto Mellies fiel ihm ein. Den, wieder, ließe er gerne dieses sprechen. Es ist ja auch ein alter Herr der Erzähler des Sterberomans: ist es, nicht „wird es sein“. Dieser Text, das Traumschiff, ist doch längst schon in die Realität getreten. Herbst sprach es gestern zur Löwin: Seit fast zwei Jahren habe er davon geredet, ihn immer wieder angekündigt und auch schon einige Seiten verfaßt, und nun sei er, der neue Roman, fast plötzlich mitten da.

Dennoch, das Lektorat ist nicht beendet; heute werden die letzten Seiten kommen, die durchzuarbeiten sind. Aber, versprochen, noch in dieser Woche wird alles fertig sein, und er, ANH, wird auch an die Gedichte zurückkönnen, und vielleicht schafft er auch noch, vor der Abreise, ein oder zwei weitere >>>> Kammermusiken von Joyce. Er hat sogar, ich spreche immer noch von Herbst, das Brumm-Problem seines kleinen Musikstudios in den Griff bekommen, dank eines Hinweises im Netz auf >>>> Behringers HD400, den er sich gestern sofort kaufte und gerade eben, sagen wir: vorhin, auch angeschlossen hat. Tatsächlich, das Brummen ist weg, ein Induktionsphänomen offenbar tatsächlich.
S e h r beruhigend, fast etwas erfüllend. Ich muß es zugeben, daß Herbst derart einfach gelöste Probleme ausgesprochen m a g. Zumal er das Glück hatte, daß dieses kleine Gerätchen sofort verfügbar war, um 35 Euro. Wobei wir zugeben müssen, daß die Kosten dieses Monats insgesamt seine Kalkultation denn doch ein bißchen überschreiten. Da wird er sich in der nächsten Woche, der Gute, ein bißchen am Riemen reißen müssen. Ah/aber wie es g u ttut, wieder M u s i k zu hören! Außerdem spricht nicht dagegen, mehrere Wohnsitze zu haben; wenn man bescheiden lebt, das heißt, mit nur milden Ansprüchen an Luxus, ist das durchaus drin, sagen wir, so fürs erste: Neapel, Paris und Berlin. Ja nicht zuletzt auf diese Weise würde man wirklich Europäer. Was uns so vorschwebt schon seit langem, ihm und ihnen, mir & Deters, mir. Dann noch Freunde, die überwelt verstreut sind. Er gibt sich noch vier Jahre: bis sein Sohn volljährig sein wird:: nimmt es damit völlig ernst. (Probiert sich, merken Sie‘s?, an wiederneuem Stil.)

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„Darf ich da mal reinschauen?“ – Die Löwin hatte Die Liebe in den Zeiten des Internets entdeckt, das fett in dem blauen Hefter seit Jahren auf dem Projekttisch liegt, nicht also völlig vergessen, aber doch auf unbestimmte Zeit zur Seite gelegt, seit damals Random House getobt und nach der Sitzung der befreundete Lektor an- und ausgerufen hat: „Was machen deine Texte mit den Menschen? Ich habe meine Kollegen nie zuvor derart aggressiv erlebt!“ – Die Zeit war noch nicht reif: seltsame Wendung – als gäbe es auch für sie eine Volljährigkeit und sogenannte Beste Jahre und schließlich, was wir daraus folgern müssen, Hinfälligkeit. Daß die Zeit stirbt, sterben kann, ist ein eigenartiger Gedanke. Ich hatte ihn niemals zuvor. (Vor u n s e r e letzte Fahrt taten die Alten nicht ein Meer, aber doch einen Fluß. Wasser. – Das Traumschiff sammelt Sätze.)

(Bartók, Zweites Violinkonzert.
6.56 Uhr.)

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