Wieder der Indische Ozean: g a n z. Am zwölften auf den dreizehnten Tag der Großen Fahrt. PP148, 13. April 2014.

(Sonntag, 7.34 Uhr.
26º00‘ S/44º54‘ O.
Kurs 332º NW.)


So hat das Meer uns wieder. Wir fuhren „unter“ Madagaskar durch, aber sahen nichts von dem Land; auch Seebewohner haben sich keine gezeigt. Nur das ewige Spiel der Wellen im Rhythmus des Windes und den bisweiligen Umbrüchen von harter Sonne in Regen: abends stand ich vorn am Bug, im weißen Smoking, eine „Paris-Gala“ war in der Astor Lounge angesagt, aber ich war noch etwas früh und sinnierte. Mit einem Mal fielen Tropfen in der Größe von Wachteleiern vom Himmel, mehr mehr und mehr, und ich kam grad noch nur halbnaß davon, schon schüttete es aus Eimern und Feuerwehrschläuchen. Die See selbst blieb dabei ruhig, verhältnismäßig.
Die Tage ver-, im Wortsinn, streichen wieder; ohne täglichen Sport, in der Tat, geht es nicht. Zwei Tage, der Maskarenen wegen, ausgesetzt, schon ein Kilo mehr auf den Seiten; aber es genügt eine Trainingseinheit mit übern Daumen 1000 kCal Verbrauch und daß man zwei Mahlzeiten ausfällen läßt, schon ist das wieder ausgeglichen. Wehe aber, man läßt sich selbst verstreichen.
Andererseits, ich komme dem Roman wieder näher, denke ständig vor mich hin, und auch mein Personal wächst. Allmorgendlich, wenn ich für den ersten Kaffee aufs Achterdeck schlendre und am Captain‘s Club vorbeikomm, spielt dort ein alter Herr am Klavier vor sich hin: tastend mehr, als daß er wirklich spielte, eine morgendliche probende Fingermeditation:


Morgen will ich etwas früher hinaus, um davon etwas für das Hörstück mitzuschneiden, wobei – an die dreizehn Stunden O-Töne habe ich bereits; ich werde später sehr genau auswählen müssen und sollte wirklich damit anfangen, sie zu protokollieren, also die fili di suoni durchzuhören und nach Sekunden „abzuschreiben“, ansonsten die Arbeit in Berlin unübersehbar würde.
Anderthalb, fast zwei Stunden in der prallen Sonne gelegen, über Mittag, dann nachmittags noch mal, nach dem Training, in ihrem Fluten gesessen und gelesen; dazu Aufzeichnungen: bei der Serenade etwa – ich hatte grad die Neigung, „Seerenade“ zu schreiben, aber es wäre ein nur leeres Wortspiel; trotzdem merken, man kann es ja füllen – also beim Konzert im Captain‘s Club, wie da die alte Dame unvermittelt, ohne hinzusehen, nach der rechten Hand ihres Gatten greift und er nun um die ihre die seine herumlegt, und wie er da lächelt! So sitzen sie da und hören zu, zwei der wenigen, die nicht quasseln. Kataryna und Tatiana spielen wieder das Air; oder daß das technische Personal strahlendweiße Overalls trägt, im Gegensatz zu den, sagen wir, Arbeitern, die blaue tragen; oder
Der Posten

Der Posten ist zu stehen hier
zu sehen – wir
durchgleiten beinah still
die See


und dann schon wieder der Roman: Die „Geweihten“ geben immer an, ein bestimmtes Fahrtziel zu haben, aber ist es erreicht, haben sie ein anderes und behaupten leise, dieses andere immer schon gehabt zu haben, sowie, was mir nach der „Paris-Gala“ deutlich wurde, die ein paar Evergreens aneinanderhing und mit Tanzeinlagen durchsetzte, viel Glitter, immerhin allerdings paar auf Französisch gesungene Chansons, doch Abschluß mit, womit sonst, dem berühmten Can-Can, aber einem, der jeglichen Skandal schon längst verloren hat. Um das, was er einmal gewesen, wiederahnen zu lassen, genügt es nicht, Strumpfhalter und Rüschenhöschen zu zeigen; damals war das schwer obszön, heute ist es harmloser als ein unterm Bademantel getragener Bikini. Nein, die Damen müßten komplett nackt unter ihren Rücken sein, wenn sie die Beine werfen, und so, wie D‘Annunzio schrieb, „glatt wie der Marmor von Paphyr“. Dann wär das Zucken wieder da, und die Entrüstung, freilich, auch.
Aber die Menschen sind es zufrieden, man ist um ihr Wohlsein von morgens früh bis abends spät bemüht, und sie fühlen sich wohl, wenn ihre Weltsicht sich streichelt. Dazu gehort das „Unsitthafte“ n i c h t – oder nur für wenige. Denn womit verbringen die meisten ihre lange Zeit hier an Bord? Einige stricken, andere sitzen da und, tatsächlich, sticken Muster auf Taschentücher, die in runde Rahmen gespannt sind; andere spielen Karten, viele lösen Kreuzworträtsel, manche lesen, bedienen sich in der Bordbibliothek. Im übrigen wird vor allem gegessen, wahnsinnige Mengen, ich frage mich immer, wo das eigentlich reinpaßt in die Leiber.
Einige Außenseiter – das können durchaus Paare sein – aber sitzen und schauen, schauen aufs Meer, in die Wolken, oft schweigend. Andere plaudern von früh bis spät. Ich setzte mich dazu. „Oh, Sie kommen zu uns? Wir dachten schon, Sie seien ein unsozialer Mensch, weil Sie immer nur dastehen an Ihrem hohen Tisch und schweigen.“ Wie könnte ich Ihnen erklären, daß ich nachdenke, vorausdenke, ständig denke, im Sinn einer sehr zielgerichteten Tagträumerei, einer Freiheit des empfindenden Denkens, deren Zielgerichtetheit im Umkreisen besteht?
Überhaupt gebe ich einigen unterdessen Rätsel auf. Nach der Show trat eine s e h r alte Dame auf mich zu, eine s e h r gepflegte, wenn auch nicht mehr wirklich bewegliche, so doch höchst elegante Erscheinung, und legte mir eine Hand auf den Arm – was eine pure Geste war, die aber die Macht hatte, mich zu ihr hinunterzuziehen, ohne eben daß sie zog; es genügte das Handauflegen völlig, und ich, ja, gehorchte. „What ist your role on this ship?“ fragte sie. „It must be something secretive…“ – Aber wir standen im Durchgang, in der Tat setze ich mich kaum je, sondern stehe meist hinten in den Räumen, weil ich von dort die Übersicht habe. „Bitte, Lady, fragen Sie mich das morgen. Es ist zu laut jetzt, zu viel noch los, um Ihnen die Antwort zu geben.“ Leider fiel mir das englische Wort für „angemessen“ nicht ein; die angemessene Antwort, d a s hatte ich sagen wollen. Dabei war das Geheimnis, so nämlich schritt sie dann, und lächelte, weiter, gar nicht auf meiner Seite, sondern ganz auf ihrer. Und ich bin mir sehr unsicher, ob sie das nicht vielleicht sogar gewußt hat. Ihre Art zu gehen, insgesamt, war wissend.
Eine greise Elbin, dachte ich, die sich aber ihre Luzidität völlig erhielt; une femme verte. Und wußte, eine nächste Person des Romans hatte sich zu erkennen gegeben, vornehm, nicht ironisch oder spottend auf Schabernack aus wie diese zwei, ich sag mal, Kobolde dort meiner Abenteurergruppe:


Zu denen freilich paßt, daß einige an Bord davon überzeugt sind, es gebe hier einen Geist, „Klabautermann“, erklärte ich zwei Musikerinnen am Abend, „nennt man den in Deutschland“. Auch an sowas hatte ich für den Roman vorher noch gar nicht gedacht, und auch im Hörstück könnte er eine Rolle spielen. Lanmeister jedenfalls wird ihm begegnen: als Entsprechung zur kleinen wellenreitenden Nereïdin, von der ich neulich schrieb.
Es war lange schon dunkel, der Mond geht auf voll; die Wogen rauschten, grollend stampft der Motor drunten im Schiffsbauch, und hell im Licht des Trabanten zieht aus den zwei schweren Schornsteinen unser Rauch übers Meer. Wir sitzen in der Raucherecke. Und die Musikerinnen klagen leise: jeden Tag, seit Monaten, dasselbe spielen, und niemand hört doch wirklich zu. „Ich tue meinem Instrument weh“, sagt A. „Es geht nicht mehr so weiter“, bestätigt B. „Wir brauchen etwas anderes, etwas, wo wir auch gehört werden und nicht nur Staffage sind, die ebensogut aus Lautsprechern als Background laufen könnte.“ „Wir können uns nicht mehr entwickeln, ja, anfangs war das toll, daß wir die ganze Welt sehen konnten, aber was, in Wirklichkeit, sehen wir denn?“ Und ihr Instrument sei mit ihr böse, sie merke das sofort, wenn es – im übertragenen, aber eben auch dann wirklichen Sinn – verstimmt sei. Außerdem, mit 19 sei sie aus dem Haus, jetzt sei sie 26 und habe in all den Jahren ihre Eltern nur dreimal gesehen; „ich sehne mich danach, einmal wieder umsorgt zu sein, daß man nach mir schaut, und dann ist man immer doch auf sich allein gestellt und träumt nur von daheim.“ „Ich bin kein Zirkuspferd.“
„Ihr könntet“, sage ich, „den Menschen etwas geben. Es müßten Geschichten erzählt werden, so daß sie zuhören wollen – und dann auch der Musik zuhören würden, weil sie dann etwas verstehen würden. Wenn wir etwas nicht verstehen, hören wir es auch nicht. Es muß uns jemand bei der Hand nehmen und in die Dinge einführen; geschieht das, gehen alle r e i ch hinaus, geschieht es aber nicht, ist man zwar befriedigt, aber man bleibt arm.“

Was mir die Wogen erzählen.
(Zwei Tage noch bis >>>Afrika).

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5 thoughts on “Wieder der Indische Ozean: g a n z. Am zwölften auf den dreizehnten Tag der Großen Fahrt. PP148, 13. April 2014.

  1. “Angemessene” Antwort, im Fall Ihrer alten Dame, würde ich mit “proper” answer übersetzen.

    Eben, beim Lesen Ihres Eintrags, hob es mich wieder von meinem Schreibtisch aufs Schiff: ein täglicher Glücksmoment. Merci dafür.

  2. Es muß uns jemand bei der Hand nehmen Wie wär’s denn hin und wieder mit einem kleinen Konzert zum Zuhören, bei dem- nach vorheriger Ankündigung- etwas anspruchsvollere Musikstücke gespielt werden, Violin-Encores, gut hörbare Sätze aus Sonaten etc, als Gesprächskonzert vielleicht, mit kleinen Erklärungen zu den einzelnen Werken, je nachdem, was die Damen können. Oder gar als musikalisch- literarischer Abend. Und Sie, ANH, lesen, Sie können so schön lesen, z.B. die Chamber-Music-Gedichte von James Joyce und Ihre Übersetzungen. Oder aus eigenen Gedichten. Würde doch super passen. Auch wenn es Leute gibt, die das Deutsche nicht verstehen, es klingt trotzdem schön. Oder zu deutschen Komponisten andere deutsche Gedichte. Ist Ihnen nicht schon selbst der Gedanke gekommen? Und dass während dieser Konzerte nicht gesprochen werden darf, steht auf einem Schild.

    Einige Vorschläge:
    1. Vocalise von Rachmaninow
    2. Serenade no 7 in D major, K 250 (248b) “Haffner”: 4th movement, Rondo by Wolfgang Amadeus Mozart
    Notes: Arranged: Fritz Kreisler
    3. Danzas (12) españolas for Piano, Op. 37: no 5, Andaluza by Enrique Granados
    Notes: Arranged: Fritz Kreisler
    4. Liebesleid by Fritz Kreisler
    5. Liebesfreud by Fritz Kreisler
    6. Allegro for Violin and Basso Continuo by Francesco Maria Veracini
    7. Concerto for 2 Violins and Cello in D minor, Op. 3 no 11/RV 565: Siciliano by Antonio Vivaldi
    8. Ellens Gesang III, D 839/Op. 52 no 6 “Ave Maria” by Franz Schubert
    9. Humoresques (8) for Piano, Op. 101/B 187: no 7 in G flat major by Antonín Dvorák
    10. Thaïs: Meditation by Jules Massenet
    11. Morceaux (6) for Piano, Op. 51: no 6, Valse sentimentale by Peter Ilyich Tchaikovsky
    12. Largo for Violin and Piano in F sharp minor by Francesco Maria Veracini
    13. Rondino on a theme by Beethoven by Fritz Kreisler
    14. Andantino in the style of Martini by Fritz Kreisler
    15. La capricieuse, Op. 17 by Sir Edward Elgar
    16. Valse triste by Franz von Vecsey
    17. Estrellita by Manuel Ponce
    Notes: Arranged: Jascha Heifetz
    18. Belshazzar’s Feast, Op. 51: no 2, Nocturne by Jean Sibelius
    Notes: Arranged: M. Press
    19. Andantino by Giovanni Battista Pergolesi
    20. Schwanengesang, D 957: no 4, Ständchen by Franz Schubert
    Performer: Arthur Grumiaux (Violin), István Hajdu (Piano)
    Period: Romantic
    21. Divertimento for 2 Horns and Strings no 17 in D major, K 334 (320b): Minuet by Wolfgang Amadeus Mozart
    22. Kinderszenen, Op. 15: no 7, Träumerei by Robert Schumann
    23. Sonatina for Violin and Piano in G major, Op. 100/B 183: Larghetto by Antonín Dvorák
    24. Sonatas (6) for Violin and Guitar, Op. 3: no 6 in E minor by Niccolò Paganini
    25. Souvenir de Moscou, Op. 6 by Henri Wieniawski
    26. Pièce en forme de Habañera by Maurice Ravel
    27. Les berceaux, Op. 23 no 1 by Gabriel Fauré
    28. Tzigane for Violin and Piano by Maurice Ravel
    29. Baal shem: 2nd movement, Nigun “Improvisation” by Ernest Bloch
    30. Après un rêve, Op. 7 no 1 by Gabriel Fauré
    31. Orfeo ed Euridice: Dance of the Furies by Christoph W. Gluck
    32. Minuets (6) for Piano, WoO 10: no 2 in G major by Ludwig van Beethoven
    33. Hojas de album (6), Op. 165 “España”: no 2, Tango by Isaac Albeniz
    Notes: Arranged: Fritz Kreisler
    34. Zigeunermelodien (7), Op. 55: no 4, Als die alte Mutter by Antonín Dvorák
    35. Pièces de clavecin, Op. 1: Suite no 1 – Allegro by Joseph-Hector Fiocco
    Notes: Arranged: A. Bent and N. O’Neill
    36. Adagio for Violin/Viola/Cello and Piano by Zoltán Kodály
    37. Chaconne von Bach
    38. Aus Paganinis Capricen
    39. Diverse Nocturnes
    40. Russische Romanzen
    41. Jeanie with the light brown hair
    42. Das Mädchen mit den Flachshaaren (Debussy)
    etc.etc.

    1. er mochte, der mond, mich nicht schonen, als ich aus meinen kammern ins dunkle hinaufsah, wiewohl ihn eine sonne bescheint, die nicht in meinen kammern haust. den herzkammern aber grauset, im ferner-liefen-der-nicht-zu-nennenden zu versinken.

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