Der neunzehnte auf den zwanzigsten Tag der Großen Fahrt zur See: auf dem Atlantik ums südliche Afrika. PP153, am zwanzigsten Tag: Ostersonntag, der 20. April 2014.


(Ostersonntag,
The Book of Madrigals, Ensemble Amarcord.
MS Astor, Kabine 227:
.)

Bedeckt der Himmel während der Fahrt ums südliche Afrika, dessen Küste nicht zu sehen ist. Dabei ist sie nah: Es gibt immer wieder Möven überm Kielwasser. Aber die Sonne kam kaum mal durch den Dunst, zu dem sich die Wolkendecke an der Küste gesenkt hat, und böte der Wind auf, wurde es sogar kalt. Also saß ich den Nachmittag über an Achtern und wickelte mich immer wieder in zwei Schals, wollte aber nicht unter Deck. Zumal abends wieder Disko angesagt war und ich nicht abermals abseits stehen, vor allem nicht beobachten und dann wieder ungerecht werden wollte; so wußte ich, ich würde mich nach dem Abendessen zurückziehen. Tat das denn auch, lag auf meinem Sofa, schaute ins Nachtmeer und las und las, ging bisweilen mal hoch zur Bar, um mir einen nächsten Whisky zu holen, futterte Süßigkeiten, die ich vom Nachtmittagstee geraubt, ging noch für einen Cigarillo auf Deck, hielt es aber nicht lange aus, ging wieder hinab, sah dann einen bezaubernden, wirklich bezaubernden Film mit dem gealterten Mickey Rourke, eine tief märchenhafte Todesfantasie, darin ein Engel eine Rolle spielt, der gar nicht weiß, daß er einer ist, überdies weiblich, was es ja nicht, sagt die Mythologie, gebe, doppelt märchenhaft also. Dann war ich betrunken und ging schlafen.
Heute morgen abermals Wachküche, verhaltene Stille an Achtern, vor dem Überseeclub sind, siehe oben, Osterhühner arrangiert:



Von elf bis eins wird es im Waldorf einen Osterbrunch geben, an dem ich teilnehmen möchte, obwohl ich gestern insgesamt zu viel gegessen, vor allem aber keinen Sport getrieben habe. Die älteren Menschen, soweit gut in Form, spazieren allmorgens den Joggingpfad um den Schornsteinaufbau herum, zehn, manche zwanzig Runden, was etwa fünf Kilometern entspricht. Im übrigen ist der Bordalltag, wenn wir keinen Hafen anlaufen, gleichmäßig, ruhig, und erst abends fängt das Tamtam an; tagsüber wie gehabt: Kurse in kleiner Gestaltung, Vorführungen, wie welches Essen zubereitet wird, Schnitzkunst aus Gemüse, ein bißchen Yoga, Wellness im Schiffsbauch. Völlig anders allerdings das Crew-Leben: strikte Disziplin:: an einem Schiff ist immer etwas zu tun, nach wie vor läuft irgendwer immer mit einem Farbeimer und Pinsel herum, anderwärts werden Planken ersetzt, und die Servicekräfte sind sowieso von morgens bis nachts auf den Beinen.
Ich war denn auch unten im Lebensbereich der Crew. Eng, enge Gänge:




die Messen je nach Dienstgrad und Tätigkeitsbereich, Offiziersmesse, Crewmesse, Messe für das Entertainment.


Man hört die Maschinen sehr nahe, überall, quasi allgegenwärtig, im Boden, in den Wänden, den Tischen. Da dieser Bereich sehr tief liegt, das über den Maschinen unterste Deck, gibt es allenfalls Bullaugen, die hinaussehen lassen; aber ist die See nur ein bißchen bewegt, müssen auch sie, aus Sicherheitsgründen, geschlossen werden. So gibt es Tage, an denen die Leute, mag es noch so hell draußen sein, überhaupt kein Tageslicht sehen; sie leben im Dämmern eines gefühllosen Kunstlichts, und die in allen Gesprächen, die ich führte, berüchtigte Crew-Bar ist so sehr verraucht, daß der Geruch überall hängt.

Er kriecht überall hinein, in einen jeden Gang; ich werde einmal nach Mitternacht hineinschauen und mit den Leuten etwas trinken. Beklemmend sowieso, für mich, der Vergleich des Essens. Wir hier oben schwelgen, dort unten sieht es zerpampt aus; einer steckte mir, man bekäme das oben übrigegebliebene Essen vom Vortag. Mag sein, mag auch nicht sein, mag die auch überall sonst herrschende Kantinenklage sein. Sehr verlockend sah, was ich sah, aber wirklich nicht aus. So habe ich nun immer ein kleines schlechtes Gewissen, wenn ich oben speise, aber weiß, was die unten, die hier arbeiten, zu essen bekommen. Sowas krieg ich nie aus Kopf und Herz. (Lächelnd indes, als ich sie auf dem Achterdeck diesbezüglich ansprach, eine der Servicedamen: „Na ja, ich habe Glück. Ich arbeite ja für die Küche und bediene.“ Und zwinkerte pfiffig.
***

Gute Töne genommen, immerhin, für das Hörstück, im Schiffsbauch; in den Maschinenraum darf ich aber nach wie vor nicht, allerdings habe ich auch nicht wieder gefragt. Daß der untere Schiffsbereich „Caribik Deck“ genannt ist, entbehrt auch dann nicht eines gewissen Zynismus‘, wenn im Mittelteil die fürs Publikum selbstverständlich zugängliche sogenannte Wellness Oase untergebracht ist. Im übrigen gibt es drei Decks höher, auf dem Promenadendeck, auch zwei Boutiken, vor und achtern des Captain‘s Clubs, eine für (Mode)Schmuck, die andere für Edelklamotten, für zollfreies Einkaufen von „Spirits“ und für sonstigen Nippes. Die Damen darin tun mir immer leid, vor allem in dem Schmucklädchen stehen sie stundenlang allein. Und eine junge Dame der Rezeption, die nun zweidrei Wochen hintereinander Nachtdienst hatte, seufzte: „Weißt du, manchmal unterhalte ich mich dann nur noch mit mir.“
***


Nun ist, während ich dies geschrieben habe, die Sonne durchgekommen, wir sehen blauen Himmel. Ich werde den Beitrag jetzt einstellen, bzw. einzustellen versuchen: Die Internetverbindung kostet Nerven. Nicht nur die, aber das ist eigentlich das Schlimmste, alles andere nur Geld. Ich denke an meine ferne Familie, meinen Sohn, immerhin sind wir nun auf demselben Meer. Es ist das erste Mal seit Jahren, ja Jahrzehnten, daß ich ein großes Fest ohne ihn verbringe. Das tut ein bißchen weh. Andererseits habe ich, seit der Atlantik erreicht ist, dauernd das Gefühl, längst wieder in der Heimat zu sein. Dabei werden wir morgen früh erst Namibia erreichen, Walvis Bay, wo ich abermals tauchen möchte; aber auch die Wüste lockt. Dennoch nehme ich auch dort nicht an der angebotenen Exkursion teil. Nicht aus Dünkel, nein, auch nicht, weil mir das Geld knapp wird, sondern der Erfahrung halber, daß mehr als fünf Menschen, die eine Sehenswürdigkeit besichtigen, das, was sie ist, zerstören. Ob sie das wollen oder nicht. Es genügt, daß sie dort sind, daß viele von ihnen dort sind, und auch hierbei schließe ich mich ein. Masse, immer, vernichtet. Deshalb gibt es Orte, die wir schon heute nicht mehr sehen können und auch niemals wieder werden sehen können, nicht nur Orte, auch Bilder, also Gemälde, die Mona Lisa etwa. Dies ist der Grund, weshalb ich bis heute nicht im Louvre gewesen bin und auch nicht hineingehen werde. Mit Bildern und Orten muß man allein sein. Hier, in der Tat, liegt die Macht der Dichtung und auch der Musik, soweit sie nicht Entertainment, also soziales Remmidemmi ist, sondern Kunst, daß sie uns dieses gute Alleinsein immer noch geben kann – sofern nicht dauernd jemand dazwischenquasselt.
Also ich werde dies nun einzustellen versuchen und mich danach umkleiden, heller Anzug, helles Hemd, Krawatte, und wenn ich der einzige bin, der das für den Osterbrunch tut. Ich habe Ostern immer geliebt, hier spür ich aber fast nichts: von der Fruchtbarkeit, die dieses Fest verheißt, nächstem neuen Aufblühen, das mit einer zur Tarnung ironischen Erotik daherkommt: aber sehn Sie den Hasen nur in die Augen! Nicht grundlos sind die Männchen „Rammler“ genannt. Wie nennt man eigentlich die Weibchen?

Sich kleiden: Festlichkeit schaffen.
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