Das Bedrohlichste Gute. Benjamin Brittens Billy Budd nach Herman Melville an der Deutschen Oper Berlin.

[Fotografien ©: >>>> Marcus Lieberenz.]


[John Claggart, genannt Jimmy Legs.]


Die Geschichte ist kurz erzählt:
Der junge Billy Budd wird von Pressern des britischen Kriegsschiffes „Indominable“ ausgehoben. Anders als seine Schicksalsgenossen freut er sich über seine neue Tätigkeit, ist mehr als nur gehorsam und erträumt sich schnellen Aufstieg an Bord. Da er sehr schön ist, fast licht, erringt er binnen kurzen die Zuneigung aller, ja man träumt von ihm. So daß es ist, als stünde er – allein seiner Existenz wegen – für ein besseres Leben. Dieses ist dem Waffenmeister, dessen tiefe Dunkelheit von dem Jungen ebenfalls erleuchtet wird, bedrohlich, weshalb er ihn als Meuterer denunziert. Zur Rede gestellt, kann Budd, der bei Aufregungen ohnedies stottert, nicht antworten, aber im Affekt holt er aus und erschlägt den Mann. Damit ist der Straftatbestand der Meuterei erfüllt. Rein im Wortsinn des Kriegsrechts und gegen besseres Fühlen des Kapitäns und aller anderen an diesem Urteil Beteiligen wird Budd zum Tod durch den Strang veruteilt und der Richtspruch vollzogen.

Die Oper setzt Jahrzehnte später in der Erinnerung des Kapitäns ein. In David Aldens Inszenierung sehen wir nach dem kurzen dunklen Vorspiel in den Bauch eines durchaus modernen Kriegsschiffes, nicht etwa Windjammers, wie ihn Herman Melville für jene „Zeit, in der es noch keine Dampfschiffe gab“, vor den Augen gehabt hat, als er seine Novelle „Billy Budd“ schrieb, die für Benjamin Britten und seine beiden Librettisten Forster und Crozier Vorlage des gleichnamigen, 1951 uraufgeführten und zehn Jahre später noch einmal revidierten Musiktheaters geworden ist. Der Urtext selbst war erst 1929, fast dreißig Jahre nach Melvilles Tod, veröffentlicht worden; nicht nur dieser Umstand gibt ihm Modernität – der in einer sogenannten Materialschlacht gipfelnde Erste Weltkrieg war bereits geführt worden – , sondern auch das formal eigenartige, in seiner Fragmentartigkeit fast etwas unheimliche Ende der Erzählung, ja überhaupt, daß sie aus narrationslogisch zunehmend lockeren, quasi unverbundenen Stücken besteht, deren letztes, das Gedicht „Billy in Ketten“, für Britten zur Vorlage einer der anrührendsten Partien dieser Oper wurde. Ihr musikalisches Thema wird bereits in Budds Ewachensarie am Ende des ersten Aktes, aber da nur ganz vorsichtig, laut und am Ende des zweiten Aktes zu seinem Lebensabschiedsgesang – eine der herzbeklemmend meisterhaften Konstuktionsideen überhaupt dieses Komponisten, schon deshalb, weil sie unter den aktiven Anfang und das schließliche Ende des Unheils einen eigenen Boden zieht, es besonders quasi beleuchtet, indes das Unheil des Gesamten ungebrochen sich fortsetzt und ungebrochen begonnen hat. Nur die Erinnerung beginnt, nicht das Geschehen. Deshalb auch singt der Chor zu Anfang nicht frei, ich möchte einmal sagen: er schmettert nicht, wie das bisweilen auf CD-Einspielungen zu hören ist, sondern die ständige Gedrücktheit liegt auf ihm. „Seafarers“ kann man auf einem Plakat am Bahnhof des Hafens von Harvich lesen, „are like prisoners but they have commited no crime“. Für gepreßte Soldaten, und erst recht auf See, gilt das besonders. Man hört immer eine Art Sehnsucht, aber sie duckt sich bereits im Ausdruck vor dem schon nächsten Schlag:


So ist es auch wahrscheinlich kein Zufall, daß die Stahltäger in den rohen Kassetten der metallenen rostfarbenen Bühnen-Bordsswand, auf die wir sehen – hälftlings zieht sich, als stilisierte Brücke des Schiffs – ein eiserner Gang davor entlang, jeweils zwei gegeneinander um 90 Grad versetzte Kreuze sind. Auch wenn Brittens Partitur Anspielungen auf die Erlösungsgeschichte eigentlich vermeidet, sind sie bei Melville deutlich zu lesen, besonders nachdrücklich dort, wo gegen Budd erstmal die falsche Anschuldigung öffentlich vorgebracht wird: „… so daß er nur um so heftiger nach Worten rang, bis er dann sehr bald völlig erlahmte mit dem Ausdruck eines Gekreuzigten“*. Nur hat dieser Erlöser gar nichts anderes getan, als einfach schön zu sein. Und um einen Judas zu finden, reicht es völlig hin, daß man ihn vorher gequält hat. Brittens Oper, jenseits des Rätsels Kunst überhaupt, Rätselhaftigkeit zuzuschreiben, ist absurd. Alles, wirklich alles liegt furchtbar offen da; man muß es lediglich denken auch wollen.
Tatsächlich können in hart restiktiven Gesellschaften Güte, Offen- und Unvoreingenommenheit, ja sogar Authentizität zu Ursachen einer nicht eindämmbaren Rebellion werden. Das haben im Fall des Nazareners die Pharisäer gespürt, Roms imperialistische Machthaber Roms sowieso, und genau dies spüren in Melvilles Novelle und Brittens Oper die Offiziere, vor allem jene, denen die Disziplinierung der Mannschaft obliegt– am nachdrücklichsten die in ihrer bewußten Verfallenheit intessanteste Figur des Stücks, der Jemmy Leggs bespitznamte, Wagners Hagen nicht unähnliche Waffenmeister John Claggart. Indem Budd in ihm einen verschütteten Sehnsuchtsteil zwar nicht ausgräbt, nein, aber zum Anklingen bringt – er tritt gegenüber dem Jungen nicht, wie gegen alle anderen sonst, unerbittlich auf, ja lobt ihn sogar – , muß er diese in sich verspürte Schwäche, die an Zärtlichkeit rührt, als eine bedohliche Verzärtelung erspüren. Es ist diese Dynamik, übrigens, die Vergewaltigungen als logische Folgen von Kriegshandlungen klarstellt, und zwar grundsätzlich; sie sind insofern, was immer anderes die Statuten auch vorschreiben mögen, gewünscht. Billy Budds schöne Erscheinung jedenfalls, ihre Helligkeit, gefährdet die Abläufe des Bordlebens, verweichlicht sie tatsächlich. Dabei spielt es keine Rolle, daß er keinerlei Arg kennt und schon gar nicht Aufruhr im Sinn trägt, sondern sich sogar willig sämtlichen Einschränkungen und Demütigungen unterwirft, ja sie noch begeistert begrüßt. Insofern hat Claggert als Personifizierung der Kriegsmaschine in deren Logik völlig recht, den Jungen einen Meuterer zu nennen. Das ist das eigentlich Bösartige an Melvilles Erzählung wie an Brittens Oper. Das auch ist es, was der Kapitän des Schiffes, Vere, unmittelbar nach nach dem Tod seines Waffenmeisters begreifen muß und ihn das objektiv falsche, im Interesse des Kriegs aber richtige Urteil fällen läßt. „The angel of god has struck and the angel must hang (…)“
Was in Brittens Musikwerk vor Gericht steht, ist der Krieg nämlich selbst, ganz unabhängig von den Kulturräumen, in denen er geführt wird. „Kein Kind“ heißt es bei Melville im Kapitel der Gerichtsverhandlung, „kann seinem Vater ähnlicher sehen als dieses Gesetz seinem Erzeuger, nämlich dem Krieg.“ Daß hier auch homosexuelle Attraktionen mitverhandelt werden – zu Brittens Zeiten noch ein Rechtsbruch – , ist für die Oper nebensächlich, auch wenn immer wieder ein Anderes ins interpretatorische Zentrum gerückt wird; es geht de facto nicht um sexuelles Begehren, sondern um Sanftheit und Licht. Daß auch Frauen den Logiken des notwendigen Kriegsunrechtes folgen, wissen wir nicht erst seit den deutschen Vernichtungslagern und Abu-Ghuraib. Krieg verroht den Menschen und, vor allem, er soll ihn verrohen. Weil er anders nicht führbar wäre. Es ist genau diese Erkenntnis, die Brittens „Billy Budd“ für uns aktuell macht.
Allerdings greift gegenüber Melvilles sachlich-distanzierter Erzählhaltung, die den seelenlosen Character der Vorgänge spiegelt, Brittens Komposition direkt an das Herz. So saß meine Begleiterin, die diese Oper noch nicht kannte, nach Ende des Stücks wie fassungslos da und konnte sich auch danach lange noch nicht lösen, – ja selbst die für meinen Geschmack – es sind auch nur wenige – um eine Spur zu deutlichen Anspielungen verfehlten nicht ihre Wirkung, etwa, wenn Claggert, indem er den zuvor ausgepeitschten Seeburschen als Spitzel dingt, sich dabei über ihn wirft und anale Penetrationsbewegungen macht. Daß er ihm Geldstücke gibt, in diesem Fall Gold, ist an sich unnötig, aber unterstreicht noch einmal die Parallele zum Neuen Testament. Dies nur nebenbei bemerkt.

Alden hat ohne Überhöhung inszeniert, „neusachlich“ könnte man sagen, und seine auf jede Perücke der Zeit verzichtenden Partner, Constance Hoffmann für die Kostüme und Paul Steinberg für das Bühnenbild, folgen ihm darin; die Szene ist martialisch material, man ist ans Innere eines UBoots erinnert und alles auf Zerstörung aus, die Kleidung faschistoid, Uniformen, Leder und Wachstuch, unterhalb der Offiziersebene werden quasi Lumpen getragen. Das entspricht den Gepflogenheiten er die britische Seemacht durch Aushebung auffüllenden Praxis. Nur der von der gesamten Mannschaft geliebte Kapitän steht in Weiß da und wird damit zu einem Spiegelbild Budds, aber einem, der die Autorität hat. Daß man den in der Oper, nicht aber in Melvilles Novelle letztlich komplett schwachen Mann aber liebt, hat allerdings damit zu tun, daß er alle Führungsentscheidungen, besonders über die Mannschaft, an seine Offiziere abgibt; er selbst ist es nicht, der quält, doch sieht über die Qualen hinweg, liest lieber antike Autoren, und hat eine sogar strategische Fehlleistung zu verantworten. Als er schließlich, des angeklagten Budds wegen, doch einmal eine Entscheidung treffen muß, windet er sich selbst da heraus: „Grant us our guidance“, bitten die Offiziere. „No“, gibt er zur Antwort. „Do not ask me; I cannot.“ Das entspricht fast Pontius Pilatus‘ Haltung gegenüber Jesus von Nazareth, als jener das schließliche Urteil dem Volk überläßt, bevor er seine eigenen Hände in Unschuld wäscht. Wo Vere sich bei Melville noch ausdrücklich auf den Wortlaut des Kriegsgesetzes beruft, er also noch de jure, nicht aber de facto, Recht spricht, gibt er bei Britten die Verantwortung feige weiter – und dies, obwohl ihm seine Offiziere die Gründe für einen Freispruch geradezu verzweifelt in den Mund legen zu wollen scheinen. Interessant daran ist, daß der Komponist selbst immer darauf bestanden hat, in Vere die eigentliche Hauptperson der Erzählung zu sehen; doch strich er diese deutliche Sympathie für ihn selbst durch, nämlich, als er die Oper zehn Jahre nach ihrer Uraufführung um mehr als ein Drittel Spielzeit und die vier Akte auf nur noch zwei Akte kürzte. Dadurch fielen wichtige, den Kapitän ins Charakterbild nehmende Szenen weg; daß und weshalb man ihn liebt, wird nunmehr nur noch behauptet und nicht mehr vorgeführt; schon deshalb muß sein erster Auftritt nun, in dem der wie mehr oder minder ins Kriegsgeschehen „gefallene“ Schöngeist zwar am Ende eines riesigen Kanonenrohres, aber in einer strahlend weißen Kajüte logiert, den eines geradezu unerträglichen Weichlings machen. Aldens materialkonzentrierte Inszenierung unterstreicht das noch; Veres strahlende Weiße wird aber dadurch ebenfalls zur Behauptung, nämlich einer allein der Inszenierung, ohne daß in irgend einer Weise substantiiert würde. Das ist problematisch, weil ja das Gegenbild, Billy Budds tatsächliche Freundlichkeit, eben nicht nur symbolisch und „gemeint“, sondern wie seine Schönheit konkret ist. Es ist, als hätte sich das Regieteam nicht anders zu helfen gewußt, wenn es Brittens Äußerungen bezüglich dieses Kapitäns ernst nehmen wollte. Alleine Kleidung kann eine wie auch immer gespaltene innere Größe nicht zeigen; dazu braucht es Handlung. Deshalb kommt einem Veres späte Zerknirschung in dem dunklen Bußgewand eines gebeugten alten Mannes nur um so feiger vor. Nicht mal die Größe, offen für Schuld einzustehen, dachte ich, zwar Selbstanklage („What have I done?“), aber sich eklig erlösend durch Verklärung: „There‘s a land where she (i.e. die Liebe) anchors for ever.“
Hiergegen ist der Waffenmeister, an dem Britten selbst nicht eine einzige gute Seite sehen wollte, von einer geradezu radikalen Klarheit; für mich ist er, besonders dieser Berliner, nämlich in Gidon Saks‘ stimm- und präsenzgewaltiger Interpretation, die wirkliche Hauptperson der Oper, und mit allem Recht würde man sie von „Billy Budd“ in „Jimmy Legs“ umbenennen können. Auffällig, ja schlagend, wie dadurch, allein vermittels eines namentlichen Perspektivenwechsels, sich die Wertungen drehten. Denn Jimmy Legs, der Waffenmeister John Claggert, ist der Krieg, ist er personifiziert und nicht, wie immer wieder geschrieben wird, eine Erscheinung Satans. Er ist vielmehr der ausgestoßen Liebende, in den Krieg Gestoßene, der dann unter notwendiger Verleugnung aller zarten Anteile, aller Sehnsüchte und Hoffnungen, zum Geliebten des Krieges wird, zu dem, der den Krieg liebt. „Ach wer heilet die Schmerzen des‘, dem Balsam zu Gift ward“, heißt es in Goethes Winterreise, „der sich Menschenhaß aus der Fülle der übermächtigen Liebe sog?“ Und Claggert, in seinem riesigen Monolog, selbst: „O beauty – o handsomeness“ Would that I never encountered you! Would that I lived in my own world always, in that depravity to which I was born. (…) O beauty, o handesomeness, goodness! would that I had never seen you!“ Genau dies macht ihn, nicht etwa Vere, zu Billy Budds Spiegelbild, nämlich zu dem genau inversen. Billy Budd, bei aller ziemlich dummen, aber doch gutgemeinten Begeisterung, sieht noch in der eigenen, geschweige der Erniedrigung anderer nicht, was der Krieg ist; Claggert, in seiner scharfsinnigen permanenten Gegenwart, sieht es, und beide nehmen ihn gleichermaßen an. Daß Budd später das Todesurteil so sprachlos akzeptiert, hat genau damit zu tun, ist genau davon die pycho/logische Folge: nicht, daß er die Dynamik selbst begriffe, dafür ist er wirklich zu eingeschränkt, aber das Urteil ist ihm evident, und er segnet den Kapitän noch dafür. Der aber, anders als Claggert sofort, begreift imgrunde im Alter noch nicht. Ein Rätsel, ich wiederhole mich, ist dies alles aber nicht oder allenfalls dann, wenn man aus dieser Oper unbedingt ein Schwulendrama machen will. Die erotischen Neigungen sind aber, auch das wiederhole ich bewußt, sind in ihr ganz egal; in allen Gefängnissen, also auch an Bord eines Kriegsschiffs, werden auch heterosexuelle Bedürfnisse in der Gestalt von homosexuellen manifest; es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Und sowieso ist das egal. Es ist gerade eine Stärke der brittenschen Kunst, daß sie ihre biografischen Bedingungen unendlich transzendiert: kompositorisch ins Jenseits der Geschlechter.
Claggart also ist die Hauptperson, Billy Budd ein dummer Junge, den aber – und eben n i c h t, weder sogleich noch später, den Vere – seine Offenheit und Frische segnen, deretwegen er nicht weiß noch überhaupt merkt, welche Wirkung er auf alle anderen an Bord hat und wie er das, was, um grausam bleiben zu können, hell nicht werden darf, erhellt. Der einzige außer Claggart, der das spürt, ist der eigenbrötlerische Dansker, dessen Warnungen Budd naiv in den Wind schlägt. Zumal Billy wie der genau so dumme, aber anders als er unterträglich großkotzige Siegfried weder weiß, was Furcht ist, noch vor allem, welche Kraft er hat. Hieraus erklärt sich später der spontane Totschlag: daß die Hand wirklich nicht wußte, was sie vermag. Schon das wäre Grund für eine eher milde Strafe, wenn nicht genau so für Bewährung gewesen, wie man sie in der britischen Flotte sogar den bei Melville wie Britten immer wieder zitierten Meuterern der Nore zugestanden hat, dem britischen Schreckbild einer Rebellion von Mannschaften an sich. Aber Billies Hand schlug den Krieg. Genau das ist es, was Kapitän Vere begreift und weshalb er Budd hinrichten muß. Er wäre denn, indirekt, selbst zu einem Meuterer geworden. Genau wie Hagen von Tronje Treubruch rächt, rächt Vere den Bruch von Grausamkeit. Den begriff Claggart vom ersten Ansehn Billies an. Vere selbst, bis ins hohe Alter, hat nicht Format genug, sich einzugestehen, was ihn trieb. Daß Güte und Krieg unvereinbar sind, und zwar prinzipiell.
Auch heute sind sie das nicht, auch nicht in Afghanistan.

David Aldens Inszenierung entstand – wie bereits >>>> der vor einem Jahr in Berlin aufgeführte „Peter Grimes“ – als Koproduktion mit der English National Opera und hatte >>>> dort bereits vor knapp zwei Jahren Premiere; als weiterer Mitproduzent ist diesmal das Moskauer Bolshoi hinzugekommen. Es wäre spannend, die jeweiligen Aufführungen zu vergleichen, besonders, inwieweit die jeweils verschiedenen Besetzungen auf die Interpretation einwirken, sie möglicherweise grundlegend verändern. Ein mehr als in Berlin väterlich gespielter Vere könnte die Perspektive allein durch sein Timbre verändern, ein „heldischerer“ Budd ebenso, der in Berlin wirklich nichts als ein großer Junge ist, aus dem erst in seinem Abgesang eine Art von Zweifel aufsteigt. Hier liegt der eigentliche Skandal des Stücks, weil nämlich der Junge noch da an „die Sache“ und die Menschen glaubt, die sie voranbringen sollen. Den Krieg aber hat er bis ganz zuletzt nicht begriffen. Genau das macht diese Arie so beklemmend traurig, und der wirklich noch junge John Chest singt sie mit allem Schmelz, der sich nur irgend empfinden läßt, ohne sich, gleichsam, über die eigene Tragik zu erheben. Dabei gelingt ihm in der Abschiedsarie ein Klang, den man für gewöhnlich nur im englischen Kunstlied zu hören bekommt. Eine ebenso wie Saks für Claggert absolute Idealbesetzung, ragt er außer über diesen über alle anderen, die man sich ebenso gut auch anders besetzt vorstellen könnte, hinaus, und zwar gerade, weil er nie schmettert, sondern immer irgendwie im Pubertären verblieben zu sein und auch am Ende seiner letzten Arie darin wieder zu versinken scheint: sogar sein Schwärmen ist wie das eines Jünglings-Backfischs, ist sanglich gewissermaßen „unschuldig“ – was ja „ohne Schuld“ bedeutet; man müßte, um ihn sexuell zu begehren, deutlich pädophil sein. Daher seine „Reinheit“, die ihre kompositorische Entsprechung in den Kinderpartien hat: gleichsam Engelsstimmen in dieser dunklen Männeroper, Schellen gleich am Schlitten, der über das tiefnächtliche Eis längst erfrorener Seelen zieht, in die allein das Sonnenstrahlchen Budd ein bißchen Wärme gibt. Und nur deshalb, weil es ist:

***


Es ist grandios, wie Donald Runnicles sein Orchester alles dieses Klang werden läßt und wie es ihm in jeder Regung folgt. Immer ist es, wiewohl musikalisch die Seele des Operngeschehens, der Teppich für die Stimmen, ohne sich je gegen sie zu wenden; kein Schritt in ihm versinkt; immer geht es mit ihnen, den Stimmen, ohne daß man andererseits den Eindruck hätte, daß es „stützen“ müsse. Musikalisch kann man diese Aufführung nur perfekt nennen und sollte das deshalb auch tun. Und dankbar sein, wenn man sie miterleben durfte:

Benjamin Britten
BILLY BUDD

Oper in zwei Akten mit Prolog und Epilog

Inszenierung David Alden – Bühne Paul Steinberg – Kostüme Constance Hoffman – Licht Andy Cutbush – Chöre William Spaulding

Burkhard Ulrich – John Chest – Gidon Saks – Markus Brück – Albert Pesendorfer – Tobias Kehrer – Clemens Bieber – Simon Pauly – Lenus Carlson – Thomas Blondelle – Alvaro Zambrano – Marko Mimica – Seth Carico – Noel Bouley – Stephen Barchi – Matthew Newlin – Ben Wager – Hong-Kyun Oh – Heiner Boßmeyer.
Chöre und Orchester der Deutschen Oper Berlin.
Sir Donald Runnicles

Die nächsten Vorstellungen:
28. und 31 Mai,
3. und 6. Juni,
je um 19.30 Uhr.

>>>> Karten.

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