Der ω-Mensch ODER Odd Walaker als fast schon junger Mann. Jan Kjærstads beseelender Roman „Ich bin die Walker-Brüder“.

[Geschrieben für >>>> Volltext.
Erschienen in Nummer 1/2014.
(Hier leicht ergänzt.)]

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Der Minister Walaker, Odd Marius Walaker, ist mit einer der schlimmsten Bedrohungen konfrontiert, die sein Land jemals gewärtigen mußte. Der Krisenstab erwartet seine Entscheidung. In einigen Stunden wird er vor einem Dickicht aus Mikrofonen stehen, um sie zu verkünden. Nur er kann Norwegen noch retten.
Wir ahnen, es geht um einen Terroranschlag. Wir ahnen, daß biologische Waffen eine Rolle spielen. Indessen haben wir keinerlei Ahnung, und wir bekommen sie auch nicht, wie solch ein Anschlag abgewendet werden könne. Darin sind wir wie Walaker selbst. Denn zwar befriedigt es nicht, wenn eine Geschichte nicht bis zur (Er)Lösung auserzählt wird, andererseits versetzt uns gerade das in Walakers Grundzweifel. Und zum Dritten ist die Bedrohung gar nicht das eigentliche Thema des Buches. Sondern die „W-Potenz“, die Walaker, als er fast noch Junge war, der aber soeben zum Mann reift, in die Lage versetzte, in alle komplizierten Dinge Einsicht zu mehmen, in alle Religionen, alle Gesellschaftsfragen, alle Theorien über den Menschen, und daß die Wörter, die es beschreiben konnten, irgendwo lagen und auf mich warteten, in der Zukunft.
So beschreibt es dieser Junge selbst, in Jan Kjærstads Roman „Ich bin die Walker Brüder“, auf das sensibelste übersetzt von Bernhard Strobel und erschienen bei >>>> Septime in Wien. Der norwegische Romancier läßt seinen Helden in diesen Zustand einer geradezu allumfassenden Einsicht – einem randunscharfen Gemenge aus Instinkt, Gefühlswahrheit, Wollen und globalem wie menschlichem Wissen, das auch Irrtümer einschließt und, sowie sie als solche erkannt sind, Wege zu ihrer Auflösung findet – in einer Situation höchster Demütigung fallen. Das Mädchen Mia, in das dieser Junge derart furchtbar verliebt ist, daß seine Aufzeichnungen ihren Namen nur fett, gesperrt und/oder in Versalien nennen und oft mit Ausrufezeichen dahinter, – dieses Mädchen also lehnt ihn nämlich nicht nur ab, sondern mit Freundinnen macht sie sich, auf grausliche Weise körperlich, über ihn lustig – Schlimmeres kann einem Pubertierenden kaum widerfahren:
Ich spürte Finger, die nach meinem Hosenbund griffen und mir langsam die Unterhose herunterzogen (…). Ich war ängstlich, aber auch gespannt. Ist es nicht ein bißchen schlaff? sagte die Lange. Ich hätte erwartet, daß es straffer ist, sagte die mit den Sommersprossen. Jedenfalls riecht es ein bißchen wie im Briskeby Wild & Fich, sagte die Hübsche. Gelächter. (…) Riecht es hier nach Käse? sagte Mia. (…) Hast du eine stinkende Socke gebumst? sagte die mit den Sommersprossen.
Statt aber Pein zu empfinden, statt sich von dem Geschehen ein- für allemal traumatisieren zu lassen, gerät der Junge in eine Art Erleuchtungszustand, von dem es in anderem Zusammenhang heißt, als ob ich mich in ein Ich und ein Ich aufspaltete, auf dieselbe Weise, wie wir es in der Biologie gelernt haben, daß die Zelle sich zweiteilen kann, und dieses Ich und Ich hielten sich zeitgleich sozusagen in zwei genetischen Räumen auf, (…) um sich anschließend erneut zu teilen und zu verzweigen und zu Bäumen aus Vorstellungen zu werden, mit dem Ergebnis, daß mein Bewußtsein am Ende von einem Wald von Möglichkeiten umgeben zu sein schien. (…) Trotz des Schmerzes beim Anblick von Mias schadenfrohem Gesicht, trotz der johlenden Begleitung der cortex-armen Arschlöcher ringsherum, lag ich da und genoß es, und es hatte, das möchte ich unterstreichen, nichts zu tun mit Masochismus, sondern es war ein Behagen, das von der Stärke des Erlebten, von der Komplexität des ganzen Ereignisses herrührte.
Es ist diese Kraft, auf die sich der ältere Walaker schließlich besinnt, – besinnen muß, darauf, wie ich, schreibt der Junge, auf erstaunlich viele Fragen antworten kann, die mir die Leute stellen – etwa wo die Insel Khark liegt oder wer Kaiser Ashoka ist oder welcher Komponist die Metamorphosen für 23 Streicher geschrieben hat -, ohne daß ich weiß, woher ich es habe. So daß Kjærstads Roman, der schon ein Entwicklungsroman in die Abgestumpftheit des pragmatischen Erwachsenseins wurde, ein wirklicher Entwicklungsroman erst werden kann, einer in die Reife, die ohne mitgespürte Kindheit und Jugend nicht möglich ist. Vielleicht haben alle etwas Magisches in sich. Aber bevor wir wissen, wie uns geschieht, ist es verschwunden.
Es ist eben weniger der „Plot“, was Kjærstads ungewöhnliches Buch auszeichnet, sondern vor allem, und darum ist es Dichtung, die Sprache. Nämlich ahmt er nicht etwa eine Jugendlichensprache nach, die dann allenfalls Erwachsene für Jugendsprache halten, sondern er erdichtet eine, findet ständig neue Wörter nach der spöttischen Art von Jugendslangs (echt kobra nigricollis, voll Chaplin); er arbeitet mit Hervorhebungen, Blaßschriftpartien, ja mit Durchstreichungen, die nicht selten höchst witzig sind, weil der Junge zum Beispiel Fremdwörter erst falsch schreibt, dann korrigiert (AuEau de Cologne), und je freier er in seinen Darstellungen wird, desto weiter wird er, bis er erkennt, daß die Wirklichkeit nicht linear ist, sondern spiralförmig – ein Gedanke, dem auch ich >>>> sogar ausführlich nachgegangen bin. Egal, was die weltliche Gesetzgebung behauptet, haben wir kein Urheberrecht auf Ideen und also nicht auf Wahrheit; sondern sie wird uns gegeben.Entweder erfassen oder erspüren wir sie, oder nicht.
„Ausweitung“ ist denn tatsächlich das Leitmotiv des Romans, aber auch der Schmerz schwingt ständig mit, die Ahnung, die umfassende Freiheit eines Tages wieder verlieren zu müssen: Werde auch ich, der ich gerade diese ottomanische und vielversprechende Ausweitung erlebe, voller Hippocampus-Gedanken und mit Zugang zu ungeahnten, wilden und ausufernden Reisen in mir, eines Tages sagen, daß das nicht ich bin – und dann bewußt entscheiden, jemand anders zu werden, mehr gobi? Fast hätte ich gesagt: seichter?
Selbstverständlich für einen Pubertierenden dreht sich sehr vieles um Sexualität. Sie wird bis zum Bersten aufgeladen von der gröbsten unteren Zote zu den feinsten Zweigen platonischen Begehrens; sie will, aber sie schwärmt auch, etwa von der zu einer geradezu Verführungsgöttin hochfantasierten Nachbarin, diesem flamboyanten Geschöpf, das allein durch seine Erscheinung die allerumfassendsten, nahezu epischen Fantasievorstellungen in Gang setzen konnte. Zugleich steht der Junge zwischen seinen ausgesprochen liebevollen Eltern, die indes zueinander den Kontakt verloren haben; steht vor vielen ottomanischen Herausforderungen, und die Gestalt im Sofa erinnerte mich an eine der schwierigsten: Vaters und Mutters Ehe zu retten. Was ihm gelingt, indem er beide.überhaupt erst zu sehen lernt, und er begreift, daß die Totgeburt eines noch fötalen >>>> SchwesterBrüderchens den Beginn der Entfremdung markierte. Vater lacht fast nie. Es ist wegen Congo. Wegen Ada. Adas Abwesenheit. Dunkle Materie.
Indirekt gibt dieses SchwesterBrüderchen dem Buch seinen Titel. Es macht psychologisch aus dem Jungen ein Doppel. Daher das „Ich bin die Walker Brüder“. Die aber spalten sich abermals auf: während ich und ich und ich und ich ruhig stehen blieben und die Dicke Bertha anstarrten, bevor wir, das heißt ich, mit einer Stimme, die ich kaum wiedererkannte, zur Tür zeigte und sagte: Glotzen Sie nicht so dämlich. Und der Junge wird eins zu zweien mit seinem Vater und bald auch mit der Mutter – was zu einer ungeheuren Innigkeit aller Beteiligten führt.
Doch noch darüber hinaus verleihen die Selbstspaltungen dem Jungen eben jene Poliperspektivität, die ganz dringend der ältere Walaker braucht: Irgendwo muß eine ungebrauchte Möglichkeit liegen. Vorher schon hatte der Junge von seiner Verachtung für alle cortexarmen Vereinfachungen geschrieben, für all die altmodischen Amöben-Theorien. Ich kenne keinen zweiten Roman, der die menschlichen Möglichkeiten sich auszuweiten mit zugleich allen Zweifeln jemals derart sinnlich dargestellt und der „W-Potenz“ solch ein poetisches, nämlich konkretes Leben gegeben hätte. Keinen außer diesem. Und selbstverständlich schmiegt sich an das sexuelle Erleben ein religiöses (der Ma-Ma-Charakter des Seins) – auch dies ein Kennzeichen pubertären Entwicklungsphasen. Doch gehen bei Kjærstad/Walaker die Geschehen in ihrer Erklärung nicht auf, sondern sind immer auch vieles über ihre konkreten Gründe hinaus: Wenn ich gerade im Begriff bin, eine Ausweitung zu erfahren, eine Art doppelte Spannbreite, eine W-Potenz zu bekommen, so hat dies nichts mit einem doofen, zwanzig Zentimeter langen Zwilling zu tun. Das schreiben die Walker Brüder völlig zu recht. Dennoch müssen die Gründe genannt sein: weil sie nämlich erden.
Es bleibt bezüglich der poliperspektivischen Spaltungen auch nicht beim puren Innenbild, sondern in Interviews, die er mit Zufallsbekanntschaften führt und auf Band aufnimmt, holt sich der Junge zusätzliche Gesichtsfelder herein; literarisch ist daran berauschend, wie großartig Kjærstad auch hier die Stillagen variiert. Alleine technisch ist das meisterhaft. Und der Junge, mit seiner älteren Freundin Gudrun, die eine sehr eigene Rolle im Buch spielt, eine ethisch/politisch durchaus prekäre, antwortet auf Leserbriefe, die um Rat bitten, als ein Kummeronkel, der sich frei an Bob-Dylan-Zeilen bedient und mit „Lady Orakel“ unterzeichnet. Bisweilen läßt ihn das sich hochpoetisch aufschwingen, etwa wenn er jemandem seiner Freundin zu sagen rät, daß Sie zwölf Berge durch den Nebel hinaufgestolpert und sechs verwinkelte Landstraßen entlang gekrochen sind, sich in sieben traurigen Wäldern verlaufen und vor einem Dutzend toter Meere gestanden haben, und daß ein schwerer Regen fallen wird – ja, daß sich der Regen anfühlen wird wie Blei. An solchen Stellen transzendiert Kjærstad jegliches Entwicklungsalter ins weit Überpersönliche, so daß der Entwicklungsroman unmittelbar zu einem phantastischen wird, weil man gar nicht auf die Idee kommt, so evident ist das alles, hier habe ein Autor die angemessene Tonlage verfehlt. Im Gegenteil, hier hat er sie völlig erfaßt. So daß wir Leserinnen und Leser nichts mehr als staunen können, offnen Mundes zugleich wie offener Herzen. Daß schließlich die „Moral“ des Buches vielleicht ein wenig dünn ist – „Werdet wie die Kinder wieder“, bzw. wie ein Jugendlicher -, tut all dem keinen Abbruch. Es hängt an dem notwendigerweise, siehe oben, nicht völlig „aufgehobenen“ Plot: an der im Kopfraum stehenden Frage, die dort auch stehen bleibt.

Noch ein Wort zur Edition. Der Norweger Jan Kjærstad gehört spätestens seit seiner >>>> Wergeland-Trilogie zu den wichtigsten Erzählern der Welt und war bislang auch in deutscher Sprache durchweg von Großverlagen betreut. Daß sich nun dieser Roman in einem äußerst kleinen Haus befindet, könnte ein Zeichen dafür sein, wie sich die Hoheiten verschieben oder schon längst verschoben haben; in jedem Fall ist‘s ein Fanal. Oder ein Zeichen dafür, daß bestimmte Themen „nicht sein“ sollen, weil sie den ruhigen Konsens gefährden. Dann wäre es – Skandal.

ANH, 15. Oktober 2014

Jan Kjærstad, Ich bin die Walker Brüder.
Roman.
Septime Verlag, Wien 2013.
Gebundenes Hardcover, 652 Seiten, 23.30 Euro.

ISBN-10: 3902711116
ISBN-13: 978-3902711113
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