Eine kleine Reise gen Nordwest und zwei lange Nächte. Untriest 55, vom 27. bis zum 28. März 2015: Mit einer verschlafenen Sommerzeit. Geschrieben von Montag, dem 29. März, bis Mittwoch, dem 1. April 2015.


Arbeitswohnung, 10.03/11.03 Uhr
Couperin Leçons de tenebres
Frankfurtmain, am roten Tisch


Das, Liebeste,

waren nun zwei sehr sehr lange durchtrunkene Nächte, schönes Wort, durchtrunken, sogar in beiderlei, ob nun trunken, ob nun durch, Betonung, vorgestern in der >>>> Kieler Heinrichbar und gestern auf, muß ich schreiben, heute den, wie >>>>> Schlinkert sie nennt, der ebenfalls hierwar, Prenzlauer Bergen. >>>> Read An, zu der Zeit auf Besuch, verbrachte viele Stunden mit ihm; als aber Aikmaier abends hinzustieß, zog er vor dessen Ankunft von dannen.
Fünf Uhr in der Frühe ist es geworden, halb vier wurde es vornachts; hier dieses zu Aikmaiers Berliner Einstand, dort bei >>>> Eckers privater Preisweiterfeier; – kurz: Nun bin ich aus dem Gerück.
Aber von Anfang, Herrliche, an!
Allein die Fahrt von Kiel nach Wesselburen, wo der Hebbelpreis verliehen wurde, ist ihre kleine Berichtung schon wert. Ecker selbst und drei Freunde holten mich vom gleich westlich der Hörn gelegenen Hauptbahnhof; der dritte fuhr den afrikanischen Kleinbus sowohl auf der Hin- wie der Rückfahrt, wesbehufs er sich allen Alkohols enthielt; auch kam er nachts, als wir wieder in Kiel eingerollt waren, nicht in die Bar mit, sondern fuhr zu Frau und Kindern heim. Wir dafür hatten uns um Professor Auerochs ergänzt, der in Wesselburen für die Jury gesprochen hatte und in einer nunmehr deutlichen Geste der Befreiung seine Krawatte löste, um sie aus den Kragenschenkeln zu ziehen – was er folgerichtigerweise auch tat. Dies, wie geschrieben, aber erst nachts. Noch vor dem Abend indes hatte der steuernde Freund auf des Bus‘chens Hintersitz eine um zwei Weißweinflaschen innenbeschwerte Kühltasche gestellt, die unser eigenes Innen wässerten, derweil wir das Marschland durchfuhren. Trotz einer uns, sagen wir, kühlenden Pause am Fährübergang, auf die Seite gekippte Hochhauskolosse schwimmen vorüber, rollten wir nach anderthalbstündiger Fahrt ausgesprochen gehobener Stimmung in den kleinen Ort ein. Er hat kaum oder nicht mehr als dreitausend Einwohner, doch eine enorme, vor allem phantastische Kirche, >>>> St. Bartholomäus, in die ich denn auch sofort hineinwollte. Dabei war bis zur Preisverleihung nicht wirklich mehr viel Zeit.
Doch es war zu – jedenfalls bekamen wir den Eindruck, als wir an der seitlich gelegenen Haupttür die Klinke hinunterdrückten und sie, die Tür, aufziehen wollten. Die Freunde, weil tatsächlich die Zeit zu drängen schien, gaben auf, blieben aber noch draußen hinter der erstaunlich schräg, schien‘s mir, abfallenden Apsiswand stehen, derweil ich „Ich will wenigstens einmal ganz um die Kirche herumgehen“ sagte und auch schon losgestapft war. Nach meiner knapp dreiviertels Runde sah ich drüben eine Frau die Tür eines kleinen Gebäudes schließen, dem Gemeindebüro, wie es aussah, an dem aber zugleich das große Touristen-I herbeirief. „Entschuldigen Sie, wissen Sie vielleicht weiter? Ich würde gern in diese Kirche hinein, es steht draußen auch dran, daß geöffnet sei, aber…“ „O, holen Sie sich den Schlüssel einfach aus der Apotheke.“
Was ich tat, den wieder in Sicht gekommenen Freunden winkend.
„Die Tür klemmt manchmal“, erklärte die Apothekerin bereits, „aber falls wirklich zu ist: hier, bitte“ und reichte mir den Schlüssel herüber. Nicht ohne kleinen Triumpf hob ich ihn den Freunden vor die Augen. Doch war‘s dann wie erklärt: Wir hätten nur ein wenig beherzter ziehen müssen.
Die synkretistische Architektur war innen nicht mehr. Statt dessen Vollholz und zwei auf Höhe der Empore gehobene „Stühle“, einer in rot, einer in blau, und eine riesige Orgel. Wieder ebenerdig, seitlich kurz vor dem Altar, ein mit Sand gefülltes steinernes Taufbecken, auf den sich kleine Opferkerzen stellen ließen – seltsam für eine evenagelische Kirche; seltsam ohnedies, wie stark es und daß es überhaupt, man mußte den Sakralbau nur betreten haben, nach Weihrauch roch, süß, sehr süß.
In jeder Kirche, in der es Opferkerzen gibt, muß ich, wenn ich sie besuche, eine leuchten lassen. Dann denke ich an meine Liebsten und Geliebten. So auch hier, aber Ecker trat zu mir und tat eine, für die Seinen wahrscheinlich, dazu:

(Foto: Arne Rautenberg)
In dem Moment setzte die Orgel ein – wie eigens, war es, für uns.
Die Zeit drängte trotzdem, Ecker wurde nervös. Ich blieb noch ein wenig, nunmehr allein, und hörte dem Spiel zu, mochte mich nicht lösen. Rautenberg wartete wieder draußen, empfing mich, als ich es endlich geschafft hatte, mich loszureißen. Und gemeinsam taten wir die paar Schritte zum Hebbelmuseum. Der offizielle Teil unseres Ausflugs begann.
Privat aber noch die Begrüßung durch Bernd Auerochs, Prof an der Uni Kiel und Sprecher der Jury. „Man darf das eigentlich nicht sagen“, sagte er, „aber auf Sie bin ich fast mehr gespannt als auf Ecker.“ Da dieser direkt bei uns stand, hatte die Bemerkung durchaus Witz, war schmeichelhaft, aber auch ironisch und dadurch distanziert. Was, glaube ich, uns beiden gefiel. Ohnehin hatte der Fahrtwein uns beschwingt.
Die Reden, Bürgermeister, Landtag, Auerochs, ich. Preisübergabe, Buffett. Krabben, ganz viele Nordseekrabben. Ich schlug mir den Bauch voll. Mit dem Direktor des kleinen Museums hatte ich vereinbart, daß ich mein Honorar in bar bekäme; wir absentierten uns kurz und machten locker noch eine Lesung aus dem Traumschiff aus. – Ob er wohl eine Flasche Wein für unsere Rückfahrt habe, fragte ich ihn, bevor wir schließlich wieder aufbrachen. Also war diese so feucht wie die kleine Überlandreise hierher. Als die Flasche geleert war, ließ ich meinen taliskergefüllten Flachmann herumgehen; Auerochs hatte sich uns angeschlossen.
Und zog nun, in der Heinrichbar, die Krawatte durch die Kragenschenkel. „Wir betrinken uns jetzt“, gab als Losung Ecker aus. So geschah‘s. (Quasi-orientalisch eingerichtete Raucherlounge, zweidrei Shishas standen darin, Kissen-, ja Liegeecken gab es dort. Als ich morgens im Hotel erwachte, bummerte dräuend mein Kopf. Vor den großen Fenstern des Frückstücksraums glitten lautlos auf die Seite gelegte Hochhauskolosse vorüber.)

Zur Arbeit, Geliebte, kam ich an diesem Wochenende nicht mehr. In der Arbeitswohnung wartete >>>> read An, die auf Besuch war, sich während meiner Abwesenheit mit >>>> Schlinkert getroffen hatte, der, als ich zurückkam, noch am großen Mitteltisch saß. So habe ich diesen, nun schon über drei Tage versuchten Brief ja eingeleitet. Wie, also, geschrieben, stieß abends Aikmaier zu uns, der soeben von Heidelberg nach Berlin gezogen ist, weil er nunmehr an der FU lehrt; sein Fortgang aus dem Süden ist read Ans Anlaß für ihren Besuch gewesen; die beiden sind die innigsten Freunde. „Sie ist die kleine Schwester“, sagte er zu mir, als sie in der Bar zur Toilette war, „die ich mir immer gewünscht, aber nie bekommen habe.“ „D o c h bekommen hast“, sagte ich. – Lange, entschiedene, teils tastende, dann schon ziemlich laute Gespräche. Jemand vom Nachbartisch sprang auf, um sie, read An, zu beschützen. Der Knappe hielt uns für „Produzenten“, die eine junge Schauspielerin zu zerstören versuchten; einerseits versuchte er, Ritter zu sein. Der Nebel um uns war hoch alkoholisch.
Bis fünf Uhr morgens ging‘s. Dabei hatte ich noch mit der Vornacht zu tun. Morgens, als ich über Facetime die Löwin anrief, war ich heiser.

Doch dann.

Der folgende Tag, Geliebte, lief ruhig – und weiterhin ohne Arbeit – vor uns einher, und wir folgten.

Doch dann.

Wieder schon Abend. Treffen mit Amélie, die wöchentliche Supervision, Postituierte und Dichter. Du weißt schon. Sie erzählte. „Es läßt mich nicht mehr los.“ Es ist ein Erlebnis in ihrem Etablissement. Ich begriff sofort, es war wie ein Schauer, daß mir die junge Dame einen neuen Roman in meine beiden Hände legte. Noch in derselben Nacht, unterdessen ist es Sonntag, erzählte ich, weiter mit belegter Stimme, der Löwin davon; read An, am großen Mitteltisch, hörte zu. Und gestern, endlich, kam ich dazu, meiner Lektorin von dem Plan zu schreiben. Denn mir ist bewußt, daß ich diesen Text nicht ohne weibliche Hilfe stemmen kann.
Hier, so öffentlich, mag ich Dir noch nicht erzählen, bitte verzeih. Aber ich hole es nach, privat, gewiß. Erst müssen sowieso die Triestbriefe fertig werden, muß deren Roman in Form gekommen sein, der ja nun stockt seit, habe ich den Eindruck, schon Wochen. Was nicht ganz stimmt, wie Du weißt. Und dennoch.
Ich wollte ihn bereits in dieser Woche wieder aufnehmen, aber mußte dann gleich nach Frankfurt weiter, von wo aus ich Dir dieses schreibe, und heute nach Würzburg. Denn dort liegt der Mann, den ich mir als Wahlvater nahm, seit zwei Wochen auf der Intensivstation, nach seinem zweiten Schlaganfall. Sowie es nur ging, wollte ich zu ihm. Nun endlich geht es. Heute mittag setze ich mich in den Zug.

Dietmar Daths >>>> „Venus siegt“ zu lesen angefangen. Seltsam, wie stark mich das Buch an China Mieville erinnert, einen Lesetip, übrigens, Christopher Eckers. Im Zug, nachher, les ich ihn weiter – Dath, nicht Mievielle. Ich möchte, wenn wir im Mai gemeinsam auftreten werden, vorbereitet sein. Zurück nach Berlin geht‘s am Karfreitagmorgen. Hübsch ist, dies noch eben nachbemerkt, daß auf dem Leinenumschlag des Buches das Roman unter dem Namen des Autors steht – als wäre der Roman er selbst, dessen ungeheure Produktivität selbst Eckers in den Schatten stellt, um von dem meinen besser zu schweigen.

Umarmung,
A.

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