„Überorchestrierung“ vs. Motivarbeit. „Bildungsballast“ vs. Themenverknüpfung. Und nach wie vor zur „Ironie“ als willentlicher Selbstentfremdung. Im Arbeitsjournal des Freitags, dem 6. November 2015.


[Arbeitswohnung, 8.45 Uhr
Richard Strauss, Daphne]

Es ist schon bitter. Jetzt wurde >>>> des Perlentauchers suggestive Fälschung der >>>> Rezension Insa Wilkes in der SZ >>>> von Bücher.de übernommen. Genau auf diese Weise funktioniert im politischen und also auch poetologischen Marketing suggestive Meinungsbildung. Mein Protest war begründet, und diejenigen, die mir sagten, ich solle das nicht so ernst nehmen, es sei halt Schlamperei, haben böses Unrecht. Schon Karl Kraus wurde nie müde, auf die eminanten politischen Gefahren hinzuweisen, die solche „Schlamperei“ bedeutet.

Es geht mir aber um prinzipiell mehr. Daß ich größere Furcht vor der Ironie als vor dem Kitsch hätte, sagte ich gestern abend der Löwin. Und will das jetzt begründen.

Ironie ist eine Form der Distanzierung, das heißt, sie schiebt zwischen Subjekt und Objekt eine noch schärfere Trennung, als das abendländische Denken es sowieso schon vornimmt. Politisch ist so etwas ganz sicher oft nötig. Wenn es aber alle anderen Lebensbereiche des Menschen ergreift, wird er zum Replikanten, das heißt: macht sich selbst zum Objekt, also Ding. Etwa ist leidenschaftliche Liebe ironisch nicht möglich; zudem setzte ironische Liebe ein Machtverhältnis des sich Distanzierenden zum Distanzierten. Das liegt im Prozeß selber, mag gar nicht beabsichtigt sein.
Leidenschaftliche Liebe ist ihrer Natur nach pathetisch, anders würde sie wieder und wieder relativieren, was Leidenschaft eben ausschließt. Entgrenzung, Begeisterung, Orgasmen sind ironisch nicht nur nicht mehr spürbar, sondern sie werden vernichtet, erstickt und überdies sogar lächerlich gemacht – auch und gerade sich selbst gegenüber. Damit verlieren die Menschen ihren Kontakt zu sich selbst und zur Erde. Sie entgeistigen sich ihr.
Hiergegen standen – sofern sie nicht ein politisch definiertes Ziel, eine Botschaft also, hatten – seit je die Künste, spätestens jedenfalls, seit sie sich vom alleinigen Handwerk trennten und nicht mehr nur-mimetisch waren. Sie hoben, sehr wahrscheinlich zuerst die Musik, genau diese Trennungen auf. Daher auch ihr rituelles Moment, das wir bis heute ebenfalls vor allem in der Musik erleben können, gleichgültig, ob U oder E. Doch auch Romane und Lyrik haben diese Kraft – eine der Erschütterung – die mithin emotional ist und nicht nur auf die Ratio wirkt. Diese hat mich in meiner Arbeit immer nur insoweit interessiert, als sie notwendig für das ist, was ich „Motivarbeit“ nenne: also für die Faktur eines Werkes, die dafür sorgt, daß es weder sich zerfließend verschwimmt noch im Gefühl untergeht, dem bewußt die Strukturierung zur Seite gestellt wird, eine Geländer quasi, an dem man sich auf dem Weg durch Hölle und Himmel festhalten kann, und doch erlebt man beide.
Genau diese Motivarbeit wird mir nun, und wurde mir schon vorher, immer wieder als „Überorchestrierung“, „Überinstrumentierung“ bin hin zu, siehe Perlentaucher, „Ballast“ vorgeworfen. Dahinter steht der unselige Gedanke, daß alles, was wahr sei, „einfach“ sei, mithin keine Zwischentöne (Schnitzler) kenne und keine Ober- noch Untertöne, sondern gewissermaßen der „reine“ Gedanke. Wie ich über „Reinheit“ denke – einen letztendlich religiösen Terminus, dessen sich auch Hitler bedient hat -, ist bekannt. Auch und gerade biologisch ist im Gegenteil Vermischung nötig, um organische Systeme lebensfähig zu halten. Dafür steht mein literarischer Synkretismus.
Interessant an den Vorwürfen – oder Einwänden – ist, daß sie quasi nur bei deutschsprachiger Literatur Anwendung finden. Was hätte man an „Überorchestrierung“ allein nur gegen García Marquez vorbringen können, um von dem stilistisch n o c h größeren – und komplexeren – Lobo Antunes zu schweigen. Auch gegenüber Gaddis und Pynchon wurde solche „Kritik“ kaum je laut. Es scheint sich mithin um ein intrakulturelles Problem zu handeln, um etwas, das Deutsche nicht dürfen, alle anderen aber sehr wohl. Etwa pathetisch zu sein und zu schreiben, direkt auf Pathos hin. Die komplette U-Musik ist ohne Pathos nicht denkbar, aber gerade auch hier wirkt ein extremer Überhang des, sprachlich, angelsächsischen Raums. Ich habe schon mehrmals erzählt, daß es in meiner Jugend für die meisten Menschen gut möglich war, „I love you“ zu sagen; vor „Ich liebe dich“ scheuten sie zurück. Dahinter stand und steht eine kulturelle Selbstentfremdung, die zweifelsfrei eine Hitlerfolge ist und der die Forderung nach permanenter Ironie sehr genau entspricht. Es handelt sich um einen Rationalisierungs- also Abwehrprozeß von Schuld, die aber diese jungen Leute weder hatten noch haben überhaupt konnten. Doch ganze Wertecluster waren desavouiert: Ehre, Treue, Heimat und eben sogar die Muttersprache, jedenfalls da, wo sie ins Innerste geht und nicht nur funktional ist. Die Auswirkungen reichen uneingeschränkt ins Heute.
Genau deshalb auch die Scheu vor dem Pathos, die dagegen ein US-Amerikaner so wenig kennt wie ein Südamerikaner oder Schwarzafrikaner; bisweilen ist diese Scheu pathologisch, also ein durchaus klinisches Symptom.
Zugleich gibt es aber ein Bedürfnis danach, und man erfüllt es sich in der U-Musik und im Spielfilm, die aber eben ihrerseits meist nicht aus dem eigenen Land kommen. Die Filme aus dem eigenen Land (und eben die Literaturen) haben dagegen, wenn man sie anerkennen will, rationalistisch, ironisch, distanziert zu sein. Eine deutliche Ausnahme allerdings stellt das Werk Werner Herzogs dar. Es ist hingegen typisch, daß etwa Syberberg seine tatsächlich großen Erfolge im Ausland gehabt hat, nicht hier, wo man ihn schließlich als „reaktionär“ aus der Gesellschaft gebannt hat, ein Vorgang, der sich Jahre später mit Botho Strauß wiederholte. In der Musik jedenfalls, die meist U-Musik ist, goutiert man das Pathos allerdings genau so intensiv, wie man es in der Dichtung, so sie deutschsprachig ist, ablehnt. Im Fußball übrigens auch.
Dieser Zusammenhang ist signifikant. Es wird eine scharfe Trennung zwischen der Dichtung und anderen Künsten vorgenommen, so daß wir fragen müßten, wie Dichtung eigentlich noch verstanden wird: als was man sie sehen will.
Sie soll funktional sein; Botschaften vermitteln, kurz: auf säkulare Weise predigen. Dabei ist überhaupt nicht einzusehen, weshalb ein Dichter ein besserer Mensch sein soll als zum Beispiel ein Rockmusiker, dem man die Drogen ja ohne weiteres zugesteht; Stars wie Michael Jackson gestand man sogar den Kindesmißbrauch zu, im Innersten.

Besonders problematisch scheint es aber zu werden, wenn Pathos und genaue Motivarbeit zusammenkommen; dann stimmt nämlich in der Wahrnehmung das sozialisierte System nicht mehr; die akzeptierte Codierung erleidet eine Störung. Denn man hat sich angewöhnt, Pathos mit Grobheit, Ungenauigkeit und vor allem mit tiefer Amoral, ja mit wesenhafter Bosheit zu assoziieren – wie gesagt: wenn es deutschsprachig grundiert ist. Auch dies ist eine Hitlerfolge. Es wurde akzeptiert, daß der Hitlerfaschismus die eigenen kulturellen Werte zerstörte. Hitler, hier ist dein Sieg!“ ruft einer von Syberbergs Protagonisten in dem großen Hitlerfilm aus. Man gesteht Hitler den Sieg zu und stellt sich damit auf seine Seite, merkt das aber gar nicht mehr oder hat es noch nie gemerkt. So groß war das Gefühl der Schuld an etwas, an der allerspätestens meine Generation eine Schuld gar nicht hatte noch hätte haben können. Schuld und historische Verantwortung wurden zu einem. Der westlichen, USA-geführten Hegemonialpolitik kam und kommt das restlos entgegen und wird von ihr nicht „nur“ ökonomisch genutzt.
Für die folgenden Generationen, etwa der meines Sohns, spielt all das keine Rolle mehr, aber sie wurden von den so geprägten Eltern geprägt und tragen die deutsche Pathosscheu weiter, gegenüber dem Deutschen, nicht dem US-Amerikanischen, nicht dem Französischen, nicht dem Schwarzafrikanischen usw. usf. Genau aus dem Grund setzt sich die Pathosscheu auch bei jungen Kritikern fort. Sie hat sich, gegenüber dem Deutschen, über die Generationen hin als Tabu etabliert.
Das „Deutsche“ meint hier das Deutschsprachige, nicht das Land selbst, nicht die Nation, die längst eine kulturell sehr viel gemischtere ist als es z.B. die USA sind; „gemischt“ im Sinne gegenseitiger organischer Einflüsse. „Multikulti“ ist ein ebensolch deutsches Neuwort wie „Handy“, und beides verzeichnet einen Sprachverlust, der aber als Gewinn erlebt wird: als einen Anschluß an den Sieger, den die eigentlich betroffene Generation „Befreier“ nannte, auch das schon leicht jenseits der historischen Wahrheit. Psychodynamisch gesehen hat man so selbst Anteil am Sieg. Freilich waren auch die Sowjets, den Hitlerfaschismus vor Augen, Befreier. Kaum einer aber nannte sie so, abgesehen von der DDR. Auch Frankreich und England sind uns als Befreier nicht wirklich im Bewußtsein; das Gefühl hält sie vielmehr für Handlanger der „eigentlichen“ Befreier. Nicht jene als die Bedrohten und wirklich Geschädigten haben gesiegt, sondern die USA. Sieger zu sein schließt aus, ein Opfer gewesen zu sein: Das ist die heimliche Botschaft.

All diese und weitere Überlegungen, meine Irrtümer eingeschlossen, sind seit langem Grundlagen meiner Arbeit. Deshalb würde ich, so, wie man mir „Überorchestrierung“ vorwirft (ohne daß eine solche ästhetisch jemals begründet worden wäre, übrigens), bei sehr vielen anderen Texten deutscher Sprache von einer auffälligen Unterkomplexität sprechen, sprich: von dem Hang zur unangemessenen Simplifizierung – und zwar gerade, weil das, was ich Motivarbeit nenne, so gut wie gar nicht vorkommt. Außer in der Lyrik, allerdings. Doch die Romanliteratur, die seit Jahren, ja Jahrzehnten en vogue ist, hat in Deutschland die Moderne quasi durchgestrichen und ist poetologisch weit zurückgefallen, wenn‘s gut geht bis Keller. Es ist dies ein ungeheurer ästhetischer Regreß. Dagegen Autor:inn:en, die sich dem alten Anspruch, der einer der Kunst ist, gestellt haben und stellen, wurden und werden marginalisiert oder kommen in der öffentlichen Rede gar nicht mehr vor. Dem entspricht das Verfahren durchaus, U- mit E-Künsten als gleichwertig zu erachten, ja dies ist sogar ideologische Voraussetzung.
Es handelt sich dabei in der Tat um Ideologie, um einen also säkularreligiösen Prozeß. Letztlich geht es um Profanierung. Eben sie ist die Voraussetzung für einen „rein“ pragmatisch handelnden Markt und die Reduzierung von allem und jedem auf tauschbare Ware, die Menschen inklusive, denen die Herkünfte weggeschnitten werden oder die sie sich selbst wegschnitten und -schneiden, manche aus Not, andere aus Überzeugung und/oder nicht erhaltener Bildung. Hier sticht jedenfalls nach wie vor Marx. Dem entspricht auch die allein aufs Ökonomische ausgerichtete Verschulung der Universitäten und die Abschaffung auch nur der Möglichkeit eines studium generale, kurz: die Mißachtung und sogar Verhöhnung ( „Bildungsballast“ !) kultureller, nichtpositivistischer Werte. Wenn die Bildungsinhalte selbst der eigenen Kultur nicht mehr vermittelt werden, ist in der Tat ein vielorchestriertes Kunstwerk nicht mehr verständlich. Genau das soll erreicht werden und wurde in Teilen schon erreicht. Wer noch komplex arbeitet, lebt in einem kleinen gallischen Widerstandsdorf, zwar ohne Zaubertrank (außer dem großen, freilich, der Schönheit), doch immerhin gibt es noch mehrere solcher Dörfer, sogar über Deutschland verstreut.
Das ist gut, läßt eine Hoffnung.
Denn gerade die Frage nach den Herkünften – sowohl kulturellen wie landschaftlich-klimatischen Heimaten, damit – ecco! – auch nach dem Boden – wird uns durch all die Fliehenden, die hier eine neue Heimstatt suchen, beschäftigen müssen.

Die Diskussion jedenfalls, was „Überorchestrierung“ sei, wird nirgends geführt, nicht an prominenter Stelle, allenfalls in abgelegenen Grüppchen, deren Mitglieder für rückständige Nerds gehalten werden, nicht chic, nicht angepaßt genug.

Es ist mir um so wichtiger, meine Position klarzustellen, wenn sogar schon ein vergleichsweise locker gebauter Roman wie >>>> Traumschiff für „schwer verständlich“ oder zu pathetisch gehalten wird. Wer in die Heime schaut und in die Hospize, hat es schwer, noch ironisch zu sein; Ironie dort wird umgehend zu Zynismus. Weil dem so ist, erleben wir das Phänomen der Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft. Dem wäre anders, wüßten wir zu trauern. Auch Trauer schließt Ironie aus. Ganz wie die leidenschaftliche Liebe. Ein ironischer Orgasmus, in dem Moment, in dem er uns, durch uns, mit uns geschieht, ist nicht möglich. Extase ist nicht ironisch. Aber noch die Grundlage unserer Art – bis uns auch hier die Technik entfremdet haben wird und Zeugung wie Empfängnis zu „Aufgaben“ der Industrie geworden sein werden, fern der körperlichen, die in der beiderseitigen Extase immer auch eine geistige ist, Vereinigung.
„Ergriffen sein!“ lautet eine Stelle >>>> bei Schoeck.

ANH, 6.11.2015
Berlin


[Poetologie.]

18 thoughts on “„Überorchestrierung“ vs. Motivarbeit. „Bildungsballast“ vs. Themenverknüpfung. Und nach wie vor zur „Ironie“ als willentlicher Selbstentfremdung. Im Arbeitsjournal des Freitags, dem 6. November 2015.

    1. ironie ist volte innerhalb daseisbegegnungshaftigkeit, ironie ist überzeichnung wo kritik als mittel wirkungslos vorhersehbar ( aus erfahrung ) – wo keine ernsthafte kritik mehr möglich ( zu sein scheint ) , da ironie kommt auf plan.
      wenn du mir ernsthafte kritik ( mit den möglichen folgen deiner selbstsetzungskorrektur ) verweigerst, ich werde ironisch.
      ironie ist ein wie auch immer vorgegriffenes stilmittel hinsichtlich sich nicht verändern wollender statik, ein zeichen von ausweglosigkeit dem sturen beharren.
      gegen starrsinn wird mit ironie begegnet.
      gutes beispiel : pulp finction ( tarantino ) – wenn wir schon crime nicht verhindern oder ausschalten können, so dürfen wir crime ironisieren.
      wir werden damit crime nicht mal aufweichen, am ende lacht crime noch besser über unsere ironie als wir selbst.
      oder bürgerlichkeit, welche nie ihren erreichten befreiungsstatus an arbeiter abgab und wohl so schnell nicht abgeben wird.
      ( wie auch immer bilanzierbar ) und sich ihre ironischen faschingsreden schmatzend johlend antut.
      imgrunde ist ironie siecherlich distanznahme und das ironisierte bleibt irgendwie verschont.
      ironie ist eine leichte form kritischer begegnung, welche ansonsten hiesse : an die laterne : oder :: jetzt tun wir was mal ganz konkret oder wollen wir uns wie und wo abfinden ?
      abfinden ist nichts als unser eingefrorensein und wo war noch mal hegel’s herr-knecht-verhältnis ?
      der herr, dem beim beherrschen einsicht abhanden kam ( der regulativtype der erenntnisbezogen stagnieren musste, während der knecht – erfand ? )
      vielleicht ein wenig kojeve-nah dargestellt.

    2. @john smith. “am ende lacht crime noch besser über unsere ironie als wir selbst”:

      Exakt. Ironie “arbeitet” auf der Seite dessen, was sie kritisiert oder zu kritisieren vorgibt. Tatsächlich zieht sie sich ein Wohlgefühl aus dem Kritisierten und stabilisiert es damit. Zugleich entschuldigt sie die Ironiker und ihre Widerstandsschwäche.

    3. ja gut.

      letztendlich aber theoretiserten wir doch einfach vorerst an mit unseren posts.
      sag ich aus einer art stegreif.
      ich könnte dazuwerfen, das selbstironie durchaus aufweichend sein kann und sich damit von dem rein ironischen irgendwie “positiv” abheben lassen könnte.
      versus – in selbstironie verharren.
      fools garden.

    4. den knecht_innen blieb irgendwie halt die erträglich form der ironischen daseinsbegegnung, weil sie radikalität und deren folgen für sie und gegner_innen ahnten … sie wollten den kampf auf leben und tod haben.
      naja, geh den marsch durch die institutionen ohne formatverlust.
      schau chomski an, letztlich an systemkritik laff hängengeblieben, so laff wie das wirklich begabte subjekt.
      sich gewünscht haben mit ironie, mit dem finger noch am abzug, nocht nicht ganz entwaffnet.
      naja

    5. wir bringen weder leute um ( ironisch ) noch bringen wir uns selbst um ( selbstironisch )
      wir haben uns noch nicht ( ganz ) aufgegeben.

      balance.
      ey ich theoretisiere hier nicht weiter hinsichtlich fanatismus bis rüber zu nietzsche usw. : ohne grossere vögel keine moral, ohne verbrecher.

  1. Eine Dialektik, die man aushalten muss Das Pathos wurde durch den Missbrauch der Nazis desavouiert, dem würde ich zustimmen. Man darf dabei aber auch nicht vergessen, dass es eben keine allein nazistische Erfindung ist, sondern aus den Künsten selber kommt. Die Hitlerei hat sich auch da, wie bei vielem anderen, bloß bedient. Nehmen Sie den pathetischen Sprechgestus auf dem Theater bis in die zwanziger Jahre hinein, die Pathosaffinität der historischen Avantgarden etc. Das alles haben die Nazis lediglich abgefischt und ihrer Totalisierungsideologie zugeführt, die dann WIRKLICH tabula rasa gemacht hat, was vorher bloß eine Künstlerphantasie war. Insofern ist die Abwehr des Pathos nach WKII in der Literatur, die sich selbst vielleicht mehr als die anderen Künste dem Apollinischen zurechnet und doch dem (Blut-)Rausch nichts entgegenzusetzen wusste, auch ein Akt der Selbstscham. Die eigentliche Gefahr ist also meines Erachtens die der Totalisierung. Die postmodernen und poststrukturalistischen Theorien sind ein Reflex darauf. Und ein Mittel zur Zähmung des Pathos ist nun mal u.a. die Ironie. Leider wurde in der zweiten Hälfte des 21. Jh. das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und man könnte vielleicht behaupten: aus Angst vor den Folgen eines totalisierten Pathos sind wir in das Zeitalter der totalisierten Ironie eingetreten. Ironie der Geschichte … Dagegen gilt es ganz dialektisch das Pathos freilich wieder stark zu machen. Aber auch, die komplette Dialektik der Beiden zu erkennen. (Auch so würde ich übrigens Ironie verstehen: dass einer mal augenzwinkernd das Gegenteil sagen muss, damit die Dialektik gewahrt bleibt.). Mit Heiner Müller: Den Widerspruch aushalten… Um wieder zu einem Subjektbegriff zu kommen, der in der Lage ist, sowohl die moderne wie die postmoderne Erfahrung in sich aufzunehmen und in Balance zu bringen, wie dies z.B. Alain Badiou oder Marcus Steinweg versuchen. Die Gefahr der Entsubjektivierung besteht ja bei beiden Haltungen, nämlich wenn sie eben totalisiert werden, wenn das jeweillige Gegenüber gänzlich wegfällt. Von daher würde ich mich ungern KOMPLETT verabschieden von der Ironie.
    Es ist also eher eine Frage, WO von beidem jeweils WELCHE MENGE davon ZU WELCHEM ZWECK zum Einsatz kommt.
    Klar ist bei dem Thema des Traumschiffs keine Ironie angebracht. Wirklich frei davon ist es indes nicht. Was ist denn Lanmeisters überkompensatorische Fiktion anderes als auch eine Geste des Ironischen? Freilich in einer Umdrehung, speziell der tragischen Ironie. In der Tragödie bedeutet die, dass der Held gerade im Versuch, das Unglück zu vermeiden, dieses heraufbeschwört; das Schicksal, das vorher bloß Erzählung war, wird dadurch zum Fakt. Lanmeister, könnte man sagen, fügt sich zunehmend dem Faktischen. Und öffnet so den Raum für eine ganz andere Erzählung seines Schicksals. Der Grundgestus bleibt dabei aber selbst in der Umdrehung der Ironie noch immer einer der Selbst-Distanzierung, die für die (dann pathetische) Selbst-Behauptung notwendig ist. Klar, etwas anderes ist Ihre notwendig pathetische Herangehensweise als Autor zum Stoff. Aber wie Sie den Stoff dann wiederum inszenieren und organisieren, wie Sie sich als Erzählinstanz zunächst auszustreichen versuchen, um in Lanmeisters Sprache doch wiederzukehren: auch das würde ich als eine Form der Ironie verstehen. Eben, Sie schreiben es ja: Reinheit wäre das eigentliche Problem. Also Vorsicht auch vor der totalen Abwehr der Ironie.
    Kurz noch zum Vorwurf der “Überorchestrierung”. Das ist natürlich ein Unfug. Ich höre den Vorwurf auch öfter, kann ihn schon nicht mehr hören, aber er ist meines Erachtens nur dann wirklich gerechetfertig, wenn ein Autor allzu sehr die Kontrolle über sein Material und/oder seine Werkzeuge verliert. Gewollte, bewußt inszenierte Mehrstimmigkeit aber ist KEINE Überorchestrierung. Und die Gleichung “ästhetische Komplexität” = “Bürde” für den Leser halte ich für schlichtweg falsch, wirkt aber durch ihr permanentes bescheuertes Wiedergekäutwerden leider als self fulfilling prophecy. Bis der Leser wirklich glaubt, er müsste “Oberstudienrat” sein, um so einem Text etwas abzugewinnen. Der Rückzug auf E und das Bashing von U bzw. Pop kann es aber auch nicht sein. Shakespeare hat gezeigt, das man beides sein kann. Quasi “E für alle” und “U selbst für die Gebildeteren”. Gibt man den Anspruch der Populärkultur auf, möglichst viele erreichen zumindest zu WOLLEN (und sei es, heutzutage leider wieder wahrscheinlicher, erst in der “Nachwelt”), arbeitet man nur selbst an falschen Ausschlußmechanismen mit. Denn die ästhetische Erfahrung, die ich anhand eines Kunstwerks machen kann, z.B. die erwähnte “Schönheit” und “Beunruhigung” sind eigentlich kaum an die Komplexität des Werkes oder den Bildungsgrad des Rezipienten gekoppelt. Ich würde auch nicht vorbehaltlos zustimmen, dass es einen allgemeinen Regreß ins Unterkomplexe gibt. Es gibt nur einfach von allem mehr und das Problem sind die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeits-Filter, die Gatekeeper, die Distributoren. Komplexität bleibt dort eher hängen, taugt sie doch eher schlecht für die Warenform – es sei denn, man etikettiert sie mit einem “besonders wertvoll” wie den Buchpreis. Und Komplexität liegt quer zu den heutigen Zeitregimes. Die Rede von “Überorchestrierung” ist da schon sprechend. Darin versteckt sich einerseits die Mär, dass “weniger ist mehr” ausschließlich zu gelten habe. Es gibt aber Komplexitäten, die man nicht weiter reduzieren KANN. In der Mathematik wenigstens weiß man das: Für 3+3+3 kann ich auch einfacher 3*3 oder 3(hoch)2 schreiben, aber drunter geht’s nicht. Andererseits verkennt sie, dass jedes wirkliche Kunstwerk den Rezipienten per se zugleich an den Abgrund jeden Sinns führt (und damit immer auf seine eigene Materialität verweist) und an möglichen Bedeutungszuschreibungen absolut überdeterminiert ist. Nachzulesen z.B. bei Christoph Menke: “Die Souveränität der Kunst”. Überorchestrierung entstünde als Überdeterminiertheit so gesehen bei Kunst immer automatisch. Sonst könnten wir uns die ganze Interpretationskultur ja auch gleich komplett sparen und wir Autoren wären besser beraten, Demo-Plakate zu schreiben. Die Veränderungen im Bildungssystem seit den 80ern, der Vormarsch einer “Konsumhaltung” auf allen Ebenen, Sie schreiben es ja, hat aber eben leider dazu geführt, dass derart “Über”- für unbequem empfunden wird. Denn es ist ja vor allem ein Aufruf ans selber- (und mehr noch: anders- !)denken und -fühlen. Wo doch die Leute sich zunehmend daran gewöhnt haben, sich das abnehmen zu lassen. Und damit selbst ihren eigenen Instinkten wie Hirnen zu misstrauen.
    Wer immer nun eigentlich das gegnerische politische Subjekt ist, das genau dieses erreichen WILL: Es ist zu Teilen schon in uns selbst. Also auch hier: auf dem Anderen beharren, es aber nicht totalisieren. Die Wiedersprüchlichkeit aushalten und ausagieren.
    LP

    1. @Poppeye zur Komplexion, zur Überorchestrierung, auch zum Pop usw. Herzlichen Dank für diese sehr ausführliche teils Ergänzung, teils Replik. In Sachen Ironie sind wir völlig einig, und ich würde auf Ihre Argumentation hin auch meine Haltung gegenüber dem Pop relativieren. Allerdings ist meine Position ja auch eine taktische: Ich muß quasi normativ gegensprechen, um nicht durch eigene Relativierung der Macht des faktischen Zustands noch mehr Gewicht zuzusprechen. Das heißt, um überhaupt durchzudringen, ist eine nicht nur “gewisse” Radikalität der Einrede nötig, bisweilen sogar, advocatus diaboli zu sein.
      Das Problem sowohl bei der Ironie wie beim Pop ist, daß beide sehr bequem sind und also von der Ent-Spannung favorisiert werden, geradezu physiologisch. Pathos hingegen ist, wie alles Dionysische, nicht nur gefährlich, sondern auch anstrengend; deshalb hat man ihm auch schon in der Antike rituelle Räume und/oder Zeiten gegeben. Dies Rituelle ist unterdessen in den Markt profaniert – wenn man von dem bezeichnenderweise auffälligen Zustrom in religiöse Zusammenhänge einmal absieht. Die vor allem katholische Messe ist, in welcher Spielart auch immer, prinzipell pathetisch, die evangelische weniger – was ein weiteres Indiz für die Nähe von Protestantismus und Leistungskapitalismus ist, zumal es zur Lebzeit außer ora et labora keine Beichte und also keine Verzeihung gibt. Nicht von ungefähr habe ich in den letzten Jahren sowohl am Katholizismus als auch am Islam ein mir selbst auffälliges poetisches Interesse entwickelt.

      Was sie zur Überorchestrierung schreiben, ist, kurz und knapp, wahr. Und selbstverständlich müssen komplex gewirkte Arbeiten darauf achten, möglichst auch auf anderen, oberen Ebenen verständlich zu bleiben. Nicht immer ist das möglich, aber oft. Da ist mir noch etwas weiteres ein Anliegen. Ich sprach gestern nachmittag datrüber lange mit meinem Sohn, der in der Schule die Abbildung der Versöhnung Apolls mit Dionisos als Bildbeschreibungsaufgabe erhielt, aber überhaupt nicht wußte und nicht wissen konnte, welch einen Streit es da denn vorher gegeben habe. Er suchte und fand nichts. Schlichtweg war sein Suchwort falsch. Also erzählte ich ihm von den Prinzipien des Apollinischen und Dionysischen, machte für letztres mit Camille Paglia einen Ausflug in den Rock ‘n Roll, in Heavy Metal usw, verknüpfte das mit ein paar Beispielen, die sich bei Wagner finden usw. Einfach, um zu illustrieren. Und siehe, plötzlich kapierte er. Und sagte: “Das habe ich in dem Bild einfach nicht geseghen.” Eben, wie auch, wenn den Jungen das niemand vermittelt (oft, weil Lehrer es unterdessen selbst nicht mehr wissen).
      Auch hierfür ist Kunst/Literatur ein Reservat des Bewahrens und Neuerzählens – was ohne etwas aufwendigere Konstruktionen glaubhaft aber nicht geht. Das von mir so genannte Unterkomplexe arbeitet an der Entsorgung von Bildungsinhalten, die unumstößlich notwendig bleiben, um z.B. unsere eigenen Ikonografien zu verstehen.

    2. Zustimmung Und das mit Ihrem Sohn ist zugleich ein schönes Beispiel, wie schnell manchmal ein Mehrverstehen erreicht werden könnte, wo zuvor ein Gefühl der Überforderung und beinahe Mutlosigkeit herrschte. Und das oft schon bei einigen Lehrern (und eben auch: Kritikern) selbst, die Erfahrung machte ich auch schon mehrfach. Da muß man dagegenhalten, quasi auch archäologisch immer wieder ausgraben, aktualisieren. Damit der Wert dieser Arbeit in der öffentlichen Wahrnehmung aber überhaupt in der Breite gesehen wird, muss man heutzutage wohl einfach das Glück haben, im richtigen Moment auf die richtigen Protegés an den richtigen Schleusen zu treffen. Oder auf die Langzeitwirkung der eigenen Arbeit setzen.

  2. Scharf analysiert. Die Schändung des Pathos. Ein äußerst lesenswerter Text zu einem breiten Defizit, dessen Existenz von der Masse noch nicht einmal in den höheren Regionen ihrer Unterbewusstseinsschichten als solches identifiziert wird. Diese Abhandlung wünschte ich mir in Schulbüchern und zwar nicht nur im Deutsch- sondern im Geschichtsunterricht.

    Auch der gewählte Begriff der Unterkomplexität* ist derart treffend, man muss es hervorheben.

    *”Deshalb würde ich […] bei sehr vielen anderen Texten deutscher Sprache von einer auffälligen Unterkomplexität sprechen, sprich: von dem Hang zur unangemessenen Simplifizierung.”

    Komplexität ist arbeitsintensiv. Es ist nicht nur Arbeit am Text, der letztlich nur Frucht des Bewusstseins ist, man muss die eigene Komplexität der Empfindungen und Erkenntnisse aushalten und ihre Bewusstwerdung zulassen, das wäre die unerlässliche Vorstufe.

    1. dachte ja mal, dass das am pathetischen hängen müssende wesen an schnöder alltäglichkeit tragödisch zerbrechen muss, dass pathos über alltäglichkeit tragödisch hinausschoss und zerbrach, vielleicht noch am ironischen lachen eines weiblichen orgasmus hervorgerufen mit durch die bohrende ernsthaftigkeit eines ackernden mannes.
      egal.
      was ich kritisieren will ist ein vermeintlich geradezu stets innewohnendes pathos in gebrauchsmusik – u-musik.
      mir fällt zu pathos und u-musik gerade mal david bowie oder rammstein ein ( alles ein wenig opernhaft vorgetragen ) oder pathos – ironisierenden dingern von zappa ( vor allem auf ship arrivin too late to save a drwoning witch )
      fing nicht stockhausen damit ein wenig an, männliches pathos grob darzustellen ( momente ? ) – habs vergessen.
      in einer absage an pathos ( gewisser e-musik ) lag womöglich die absage an untergangs-affirmation, an tragödie, an ausweglosigkeit, an existenzieller festgeschriebenheit wie auch immer biolog(ist)isch verortbarer determination.
      je kompletter die liebe zwischen zwei menschen, desto selbstironischer sollte diese sich begegnen können, da sie sonst brutal wird ( ihrer lieblos lügenden umwelt )

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