„Projekt wirkungslos“. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 9. November 2015.


[Arbeitswohnung, 7.23 Uhr
Verdi, I vespri siciliani (ff)]

Es ist eine schwierige Zeit. Durch Berlin bläst warm so etwas wie ein Fön.
Die >>>> Perlentaucher-Angelegenheit hat mich paralysiert, zwar dazu gebracht, abermals meine Positionen zu formulieren, soweit sie die Haltung zum Betrieb anbelangen, aber mich fast auch Freundschaften oder, sagen wir, Verbundenheiten gekostet; ausgesprochen klar wurde bei all dem, daß ich literarisch keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen werde. Broßmann spricht von asymmetrischen Machtverhältnis; etwas übertrieben: einer gegen alle – was nur im Roman funktioniert, im Spielfilm noch. Zumal dann, wen man nicht eigentlich eine Stimme hat, sondern mit schlechtem Leumund durch die Gegend läuft. Die Gefahr, ein querköpfiger Alter zu werden, ist groß, und ich sehe sie.
Die Verschweigerei wird nicht aufhören oder dort, wo sie für kurzes durchbrochen wird, in Diffamierung, jedenfalls Abfälligkeiten und Abwertung umgebogen werden. Dagegen steht in meinem Fall keine Lobby, auch nicht sowas wie ein Fankreis, sondern allein die Literaturwissenschaft, die keinen Reflex auf den Markt hat, sowie noch einige Bekannte wissen und schätzen, was ich poetisch tue. „Du hast keine Leser“, sagte mir schon vor fünfzehn Jahren, bevor er meine Taschenbücher aus dem Programm strich, der Chef von dtv, womit er eine nennenswerte Leserschaft meinte, die meine Arbeit mitzufinanzieren trüge; Verlage sind, und müssen es sein, kaufmännische Betriebe.
An dtvs Feststellung hat sich bis heute, trotz aller Anstrengungen, nichts geändert; es war meinerseits ein Fehlgedanke, als ich vor elfzwölf Jahren hoffte, Die Dschungel werde daran etwas ändern. Im Gegenteil habe ich manchmal den Eindruck, sie habe die Situation nur noch verschärft, die Fronten verstärkt. Anders als andere Autoren, die „schwierig“ schreiben, werde ich nicht mehr von Kunstförderungen getragen, was damit zusammenhängt, daß ich in keine Guppen hineingehöre und wohl auch nicht -passe.
Wobei das mit dem „schwierig“ ein Etikett ist, daß man mir wegen der polyperspektivischen Andersweltbücher angeheftet hat. Ich beharre auf komplexen Strukturen – allerdings durchaus nicht überall. Die Erzählungen etwa kommen fast ohne das aus. Auch die Elegien waren nicht sonderlich komplex, und Traumschiff nun ist es gar nicht. Wenn drei bis vier Motivverschränkungen schon für komplex gelten, dann weiß ich nicht mehr weiter. Es wird gelesen, was man lesen will. Dazu kommt eine Erosion des Geschichts- und Bildungsbewußtseins, die jeden Anspielungsreichtum geradezu reflexhaft als Ballast denunziert.
Übrigens ist auch der Pop davon nicht frei. Vorgestern abend erzählte ein Pophistoriker von seinem Entsetzen übers Nichtwissen der Studenten, was die Geschichte des Pops angeht, wie schnell einst bedeutende und popästhetisch zentrale Namen und Musiken in keines Bewußtsein mehr sind. Es geht also längst nicht nur mehr um die offenbar alleine mir noch lieben E-Künste. Ich spreche bewußt von Erosion. Alles, was irgendwie noch erdet und eine Geschichtlichkeit der Subjekte garantiert, zerfällt. Geschichtlichkeit selbst löst sich auf. Ohne daß wir es recht merken, werden wir zu Replikanten. Ich muß nicht mehr dazuschreiben, daß dies im Interesse der Ökonomien liegt: austauschbare Bedürfnisse, austauschbare Heimaten, austauschbare Sozialbindungen. Das ist kein Effekt der Globalisierung, wenngleich sie es sich zunutze macht, bzw. zunutze machen will. Es ist ein Ergebnis verlorener Heimaten, also Identitäten. „Sich von der Vergangenheit befreien“ übertitelte Antony Burgess einen Abschnitt seines New-York-City-Buches. Dem entspricht, auf einer anderen Seite, der Versuch, sich von seinem Geschlecht zu befreien – anstelle es in sich zu integrieren, anstelle eben auch Geschichte in sich zu integrieren. Befreiung als Abwehr- und Verdrängungsprozeß. Schlangen und Kaninchen.
Ich brauche eine, für mich, Neupositionierung in meinem Lebensalltag, sinne bisweilen darüber nach, mich ganz zurückzuziehen, denke an meinen Vater, der fern anderer Menschen für sich allein in der, tatsächlich, Steinwüste lebte, sein letztes Jahrzehnt lang, der zwar konziliant war oder sein konnte, wenn ein seltener Besuch kam, sogar charmant, aber eigentlich nicht mehr sprechen wollte, nur noch malte. In >>>> Meere habe ich von ihm erzählt; vielleicht habe ich >>>> den einhundertsten Clip auch deshalb diesem Buch gewidmet.
Und gestern keinen neuen gedreht.
Ich war es müde. Denn auch hier gehen die Zugriffszahlen über einen privaten Rahmen nicht hinaus. Zudem läßt sich an ihnen ablesen, daß allenfalls meine persönlich-politischen Einlassungen Interesse finden, nicht aber die poetischen Texte. Man weiß also gar nicht, wozu man sich die viele Arbeit macht. Oft sind es Stunden.
Doch auch auf neue poetische Arbeit habe ich derzeit keine Lust mehr, lasse Angefangenes liegen, alles ist schal, weil man schon vorausweiß, daß es eine neuerliche Totgeburt werden wird. Schon die Reflexlosigkeit, unter der >>>> die Elegien gelitten haben und weiterleiden, war für mich schwer erträglich. Mit dem >>>> Traumschiff jetzt ist sie unaushaltbar. Wenn davon gesprochen und geschrieben wird, es sei schwer lesbar, weiß ich nicht weiter. Das schwer lesbar? Ja wie gehen die Leute denn mit Nabokov um, wie können sie Marcel Beyer lesen, selbst Hettche – das alles ist doch nicht weniger komplex als das Traumschiff!
Es ist eine reine Frage der Vorsperspektive, unter der an ein Buch schon herangegangen wird – so, wie man bei mir immer sagt, ich schriebe nur Tausendseiter, und überhaupt nicht sieht, wie viele durchaus umfangsdünne Bücher ich vorgelegt habe; es ist sogar eine signifikante Mehrzahl.
Ich verfolge täglich meines Buches Verkaufsränge bei amazon; jeder andere kann das ebenso tun. Die ziemlich dunklen Rückschlüsse liegen auf der Hand. Meine Güte, was war das noch für eine Zeit, als ich hoffte! Ich habe allen Ernstes geglaubt, mit diesem Roman endlich ein zumindest gewisses Auskommen zu finden, habe allen Ernstes gedacht, nun dreht es sich. Hatte ja sogar das kleine Gedankenspiel formuliert, was ich täte, bekäme ich plötzlich wirklich Geld. Wie lächerlich das jetzt wirkt!

Also ich schwanke hin und her, was meine Zukunft anbelangt. Manchmal denke ich, ich gebe es völlig auf. Weiß aber ja nicht, was dann tun und wie mit solch einer Kapitulation leben. Und für den tatsächlichen Rückzug irgendwohin, wo ich vergessen könnte und also keinen Kontakt mehr zu möglichen Leserschaften und überhaupt zu Menschen hätte, dazu fehlt mir selbst der Mindestbetrag, den sowas brauchte; irgendwo eine Hütte würde ja reichen oder eine Finka wie meines Vaters, der sie von einer Geliebten gestellt bekam. Was die Nahrungsmittel anbelangt, kann man durchaus selbst seine Kartoffeln anbauen oder was halt in der jeweiligen Gegend wächst. So hat er gelebt, gewann sein Wasser aus dem Nachtwind, fing es in einer kleinen Zisterne. Ich glaube, daß er schließlich sehr zufrieden in sich ruhte. Dennoch zerfraß ihn der Krebs, der aber anderswoher stammte. Woher, erzähle ich ein andermal.
Ich bin heute im Alter seines Todes. Vielleicht muß ich da einfach drüber. In etwas mehr als einem Vierteljahr wird es geschafft sein. Dann mischen sich, möglicherweise, die Karten für mich neu.
Mahler starb mit 51, Glenn Gould schon mit 50. Als ich da drüber war, fielen a u c h schon Steine von mir ab. Allerdings wurden diese beiden künstlerisch gehört.

Depressionen sind nicht schön, glauben Sie mir. Besonders für einen, der das Leben derart liebte und immer noch liebt wie ich und der eigentlich nichts anderes wollte, als es, so tief es geht, auszuschöpfen und seine Begeisterungen darüber zu teilen. Denn das ist das Zentrum meines Werks, alles andre ist Beiwerk.

Nein, auch heute werde ich keinen neuen Videoclip bauen. Vielleicht ist es mit den Einhundert eh genug. Projekt wirkungslos, war halt ein letzter Versuch.
Vielleicht.

11 thoughts on “„Projekt wirkungslos“. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 9. November 2015.

  1. Das Problem des “Betriebs” liegt darin, dass man um die Zustimmung derer buhlen (muss) (aus ökonomischen Gründen, aber nicht nur), die man in Wahrheit womöglich verachtet. Zu Ihrem Problem wird es, dass Sie Ihre Verachtung zeigen, ja sogar artikulieren – und sich dann “wundern”, dass die ehrliche Auseinandersetzung mit Ihren poetischen Texten unterbleibt. Dabei ist ja immer mehr offensichtlich, dass eine auch nur halbwegs ästhetische Betrachtung von Texten in der Literaturkritik kaum noch stattfindet. Ich war wirklich kein Freund von Reich-Ranicki und seinem “Literarischen Quartett”, aber der Unterschied zwischen seinen Sendungen und dem “aktuellen” Literarischen Quartett mit Weidermann und Biller ist derart drastisch, dass man eigentlich kein Wort mehr verlieren muss.

    Es geht längst nur noch um Personen, die Autoren sind, und deren Gesinnungen – der “Text” (um den es eigentlich gehen sollte) ist nur noch dahingehend nützlich, dass er als Steinbruch für oder gegen die oft genug schon vor der Lektüre gefestigte Meinung funktioniert. So bekannte Biller freimütig in der ersten Folge, dass er ein Buch schon vor der Lektüre schlecht finden wollte – und es dann prompt schlecht fand. Man muss ihm dankbar sein für solche Ausfälle – denn exakt auf diesem Niveau bewegt sich der Großteil der Kritik heutzutage. Dass dies sozusagen abfärbt auf die Leserschaft ist nur zu verständlich.

    In diesem Sinn ist es natürlich problematisch, wenn Sie sich als Person aber auch als fiktive Figur derart ostentativ im Netz präsentieren. (Das das irgendwann nicht mehr gelesen wird, steht auf einem anderen Blatt – einmal eine Meinung, immer eine Meinung.) Die Journaille möchte nun mal griffige Etiketten, mit denen sie agieren kann. —> Neulich machten auf Twitter kleine Icons für Schriftsteller die Runde – sie wurden binnen kurzer Zeit hunderte Male verbreitet. So lustig das ist – es zeigt, wie einfach man es sich heutzutage macht.

    Es ist schwierig, wenn Sie Ihre Verletzlichkeit im Rahmen dieses Journals hier öffentlich zeigen. Zum “Spiel” (Sie haben diese Vokabel neulich selber verwendet) gehört es nämlich, sich öffentlich abwatschen zu lassen – und dann weiterzumachen. Wer dies nicht mitmacht, wer sich darüber wie auch immer echauffiert, begibt sich außerhalb des Spielfeldes. Damit entsteht dann irgendwann das, was Sie monieren: Sie werden nicht entsprechend wahrgenommen; die “großen Feuilletons” (die Sie ja im Grunde verachten; s. o.) besprechen Sie nicht. Die wirksamste Waffe des “Betriebs” (nicht nur bezogen auf den literarischen Kosmos) ist nämlich die Ignoranz; jeder gepfefferte Verriss bringt immerhin Aufmerksamkeit.

    Diesen Strukturen können Sie nicht entgehen, so lange Sie von Ihren Büchern leben wollen/müssen. Es ist ein Machtverhältnis: Der “Betrieb” erwartet mehr oder weniger Ihre Unterwerfung (unter diesen Strukturen). Sie bekommen – bei entsprechendem Sich-Fügen – die Aufmerksamkeit, die zu Bekanntheit führt. Ich glaube, dass sich dieses Setting in den letzten 200 Jahren nicht grundlegend verändert hat; es ist nur komplexer geworden. Der Gedanke, dass sich im Netz unabhängige Strukturen etablieren, hat sich nur teilweise erfüllt. Denn auch hier herrscht das, was die Sache so kompliziert macht: ein Überangebot.

    Man kann nun m. E. nicht sagen, dass “Traumschiff” totgeschwiegen wurde. Alleine auf der Amazon-Seite stehen etliche Ausschnitte von Kritiken. Die Sammlung auf Die Dschungel ist ziemlich beeindruckend. Und dass Ihnen die Kieler Nachrichten nicht so viel wert sind die die FAZ, ist eine andere Sache. 95% der Schreiber wären schon um die Kieler Nachrichten froh.

    Und noch einen Aspekt möchte ich anreissen: Welchen Stellenwert außerhalb des Betriebs hat das Internet? Sie beklagen – zu Recht – die mässige Resonanz Ihrer Videos. Und auch Ihre Blogbeiträge werden – wenn man ehrlich ist – doch nur sehr selektiv gelesen. Gleiches gilt von den Zugriffszahlen auf meinem Blog. Als neulich das Bayerische Fernsehen drohte zwei Kultursendung im 3. Programm abzuschaffen, gab es eine Petition zum Erhalt im Netz. Binnen einer Woche beteiligten sich rund 6.000 Personen. Die Absetzung wurde verhindert, aber wohl nicht wegen 6.000 Stimmen. Denn als Einschaltquote sind 6.000 wohl sehr wenig.

    Meine These geht dahin, dass der Leser, der ein, zwei oder vielleicht sogar drei Bücher im Jahr liest, kaum bis überhaupt nicht auf das Netz und die hier ausgetragenen Diskurse reflektiert. Man darf also die Selbstreferenzialität dieser Parallelwelt “Betrieb” nicht unterschätzen. Was natürlich wiederum die Abhängigkeit zu unterstreichen scheint.

    1. @Keuschnig. Ich stimme mit Ihnen in den meisten Punkten überein, also in der Analyse. Es geht aber auch um persönliche Würde und gesellschaftliche Ehre – und darum, es endlich einmal mit der Offenheit zu versuchen. Wir haben über Hunderte Jahre Erfahrung mit dem strategischen Verschweigen und wissen, zu was es geführt hat; überhaupt keine Erfahrung haben wir mit der Offenheit – so, wie Heller es vor Jahren formulierte: “Ich will mich zugeben.” – Ja, ich zeige mich. Indem ich es tue, zeige ich uns. Das ist ein wesentlicher Faktor meiner Poetik. “Horchst du nach innen, hörst du das Außen” (Ernst Bloch).
      Ich kann auch nicht glauben, daß Kritiker nicht auch mal lesen; bei einigen bin ich davon sogar fest überzeugt, und auch davon, daß sie sogar Bücher lesen, zu denen sie nicht gleich von sich aus gegriffen hätten.
      Nein, totgeschwiegen wird das Traumschiff nicht, aber die meisten Kritiken stammen aus Österreich. Jürgens in Kiel schrieb, weil er Christopher Eckers Lektor ist, dessen Hebbel-Laudatio ich geschrieben und gehalten habe; da lernten wir uns kennen. Es gibt quasi immer VorBegegnungen; gab’s allerdings nicht mit Otte, nicht mit Wilke. Und Wiebke Porombka hat im LCB das Traumschiff extrem schön moderiert; auch sie kannte ich vorher nicht. Sie hat sich einfach von sich aus in das Buch verliebt. Geschah in diesem Buchfall vielen, nur daß dann ja immer auch noch die Redaktionen entscheiden, was sie annehmen. Genau da besteht für mich in Deutschland das Problem.
      Mich frappiert der Vorhalt des Komplizierten, der wirklich nur bei deutschen Autoren laut wird; gegenüber Pynchon, Nabokov, García Marquez, Lobo Antunes habe ich dergleichen auch deutsche Kritiker:innen niemals ernstlich einwenden hören.
      Meine Lesungen aus speziell diesem Buch enden nahezu alle mit langem, sehr sehr langem Applaus, in Basel mußte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Zugabe lesen. Die Differenz von öffentlich Geschriebenem und Wirkung dieses Buches ist insofern eklatant.

      (Auch Kleist stand außerhalb der Spielfelds, auch Hölderlin, sogar Heine, nach seiner Konvertierung auch Döblin. Arno Schmidt. Proust übrigens auch. Und sehr viel früher Ovid. Ohne all die wäre die Literatur a r m. Man darf doch wohl unterdessen voraussetzen, daß dies gewußt wird von denen, die für Literatur einstehen.)

    2. Der Vorbehalt gegenüber dem Komplizierten resultiert aus dem Zeitgeist. Alles, was auch nur annähernd “kompliziert” oder “schwierig” erscheint, wird wenn möglich wie ein Teig plattgewalzt, so dass am Ende nur eine glatte Fläche übriggbleibt. Man möchte dem Publikum das Schwierige nicht mehr “zumuten”. Einer der Hauptvorwürfe ist ja das des Elitären. Etwas, dass immer rasch aufkommt, wenn es um Literatur und Feuilleton geht. Das Elend kam – grob gesagt – mit dem Privatfernsehen. Von nun an wurde alles in Quoten gemessen. Das Internet macht es nun möglich, dass Redaktionen sehen können wie oft ein Beitrag angeklickt wird. Der anspruchsvolle Essay vielleicht nur 100x, Charlotte Roche dann womöglich 10000x. Und so geht es dann weiter.

      Natürlich lesen Kritiker Bücher. Aber sie sind zu Simplifizierungen gezwungen (s.o.). Man kann zu Löffler stehen, wie man will, aber ich glaube, dass —> dieser Text von ihr (auch eine Laudatio, aber eben mehr) die Lage sehr genau beschreibt.

      Und selbstverständlich waren sehr viele Literaten in ihrer Zeit Außenseiter und oft genug unbeachtet. Ihre Liste kann beliebig erweitert werden (Kafka, Joyce). Proust war das, was man heute “Self-Publisher” nennen würde (Joyce auch teilweise). Sie wurden – wenn überhaupt – später “entdeckt”. Auch kein richtiger Trost.

    3. @Keuschnig (ff). Jetzt habe ich meinen Mittagsschlaf abgebrochen, weil ich nicht hineinfand, sondern mir ging Billers Satz durch den Kopf, den Sie >>>> dort im zweiten Absatz benannt haben. Das Problem ist, daß es genau solche Sätze sind, die auch Reich-Ranicki “berühmt” gemacht haben und auf die allewelt geradezu giert: das sich selbst krönende Unrecht. Dahinter steht die geile Lust auf Schadenfreude; andere bekommen sie ab, nicht man selbst, und man darf das Leid der anderen genießen. Daß dies auf Kosten von Schwächeren geschieht, würzt die Sache nur noch.
      Ich habe mir das neue Quartett noch nicht angesehen und werde es nun sicher auch überhaupt nie tun. Mit Weidermann hatte ich ja schon >>>> meines “riesigen Siegelringes” wegen zu tun gehabt. Nach meiner Replik wurde ich von ihm nie wieder, glaube ich, auch nur erwähnt. Es paßt dies in das, was Sie oben ausgeführt haben, genau hinein. Dabei war ich ihm gegenüber in keiner Weise unfair. Es reicht offenbar schon, daß jemand zum Gegenstand einer Benennung durch Autoren wird. Andererseits hat Rainald Goetz so etwas immer wieder gemacht; es scheint ihm unterm Strich nicht geschadet zu haben, und er konnte ziemlich gut zuhauen. Allerdings hatte er immer Lobby hinter sich, zu,mindest etwas, etwa die Techno-Bewegung, das man dafür halten konnte. Stimmen also. Helmut Krausser hingegen, der ebenfalls kein Blatt vor den Mund nahm, kommt heute auch kaum noch vor – im Gegensatz eben zu Goetz, der ein wichtiger Literat, aber kein Erzähler ist, einer der großen Romanciers, die wir gegenwärtig haben. Der Romancier steht zur Disposition, der Literat-als-Literat nicht.

      Daß das Elend mit den Privatsendern kam, bezweifle ich; vielmehr kam der Privatsender-Quotenwahn hinzu. Aus Gebühren finanzierte Sender brauchen gar keine Quote, sie haben sogar einen gesetzlich festgeschriebenen Bildungsauftrag. Wenn die Bildung aber erodiert, erledigt sich der Auftrag quasi von selbst. Vielmehr liegt hinter allem Ideologie und hinter der die nicht bewältigte Verarbeitung von Vergangenheit. Die hat sich zu Ideologie versäuert und diese wiederum zur Fetischisierung “einfach-moralischer” Inhalte geführt. Für (sagt Schnitzler) Zwischentöne und vor allem Ambivalenzen blieb kein Platz, jedenfalls nicht in der deutschsprachigen Literatur. Was wiederum dazu führte, daß diese an den Rand des weltliterarischen Interesses und oft darüber hinaus gespült wurde, so daß sie vom Rand fiel. Nach dem Fall des, ich sag mal:, praktischen Kommunismus ging es dann nur noch darum, irgendwie mit dem Sieger zu paktieren, sich ihm anzudienern; logischerweise erwartet man dieselben Kothaus von den eigenen Abhängigen.
      Hinzu kommt, daß weder SPD und Grüne je sonderlich auf künstlerische Qualität geachtet haben; im Gegenteil sind gerade diese beiden Parteien auf Populismus fixiert. Und als Wähler, der auf keinen Fall CDU-Positionen stützen möchte, etwa in der NATO-Frage oder in ausländerpolitischen Belangen, steht man mitten in einem unauflösbaren Konflikt. Wählte ich grün oder rot, was ich fast immer tat, wußte ich genau, meine eigene Abschaffung mitzubetreiben. – Solche Konflikte können künstlerisch nur in komplexe Formen umgesetzt werden; ähnlich verhält es sich in “Sachen” gender und Sexualität, Herkunft und Heimat usw. Mein Werk steht da, wird aber genau deshalb, unter anderem, unter die Tische gekehrt. (Nicht nur meines, ich muß und muß das betonen.)

    4. Goetz reüssiert deswegen, weil er dem Betrieb grundsätzlich affirmativ begegnet. Er hat Weidermann nicht für seinen Verriss zu “Johann Holtrop” kritisiert – und bekommt Jahre später vom gleichen Weidermann eine Eloge zum Büchner-Preis. Wenn Ignoranz die Waffe des Betriebs dem Autor gegenüber ist, ist Ignoranz eben auch die Voraussetzung des Autors in diesem Betrieb nicht unterzugehen.

      Zum Harald-Schmidt-Gespräch brachte Goetz die FAZ mit. In “loslabern” kann man sein Prinzip genau lesen; ein Buch, in dem er immer genau die Balance zwischen Witz und Irrsinn findet. Ein gespieltes Rebellentum, darauf achtend zum Abendessen dann wieder am Buffet anzustehen. Goetz camoufliert sich nur als Avantgardist, was er nicht ist, weil er sich am Ende immer auf die Seite stellt, die “gewinnt”. Schwimmen mit der Meute ist das (aber nie vorneweg, weil man nicht weiss, wo es hingeht). Es ist ein Wunder, dass er den Büchner-Preis nicht eher bekommen hat.

    5. @Keuschnig So ganz kann ich Ihnen da nicht zustimmen. Goetz hat in einem langen Zeit-Gespräch die Kritiker, auch übrigens die Gesprächspartner, unverhohlen als Deppen bezeichnet.
      Und dann ist es imernoch so, dass man als Autor nicht für seinen Erfolg verantwortlich ist. Es bleibt eine Lotterie.
      Wenn aber schon im Buch, wie im Traumschiff, der Autor Herbst als “das vielleicht letzte Radikalgenie” tituliert wird, auch wenn die Bezeichnung aus einem FAZ-Artikel stammt, dann muss man sich nicht wundern, dass kaum noch jemand Lust hat, hier als Kritiker sich zum Diener eines Autors zu machen, der als Radikalgenie bezeichnet wird. Denn wenn jemand schon Radikalgenie ist, dann braucht er keine Kritik und keine Hervorhebung. Es war sehr unklug, dieses Zitat ins Buch zu setzen. Wäre ich Kritiker, ich hätte heute auch keine Lust, das Buch eines Radikalgenies zu besprechen.

    6. @Lutens zum “Radikalgenie”: Das mit dem Radikalgenie steht überhaupt nicht im Buch. Wo haben Sie das her, was Sie hier schreiben? Der Satz findet sich im Verlagsprospekt als Werbesatz, das ist alles. Er steht auch nicht auf den Plakaten, die der Verlag hat drucken lassen. Im Buch gibt es über mich selbst nur rein faktische Angaben, und zwar auf der U3 des Schutzumschlags, nicht einmal hinten auf der U4: geboren dann und dann, sowie zweidrei vorherige Buchtitel und Hinweis auf Die Dschungel. Ich habe sogar darum gebeten, daß kein Autorenfoto in den Umschlag kommt. Am liebsten hätte ich gar keine Angaben zu mir im Buch gehabt. So etwas bestimmt man leider nicht selbst.
      Aber auch Ihre Folgerung ist irrig. Wie viele Bücher werden mit Zeitungssätzen über vorherige Bücher beworben? Hunderte. Immer wieder findet man Begriffe wie “Meisterwerk” usw. Das Problem an dem “Radikalgenie” ist aber wahrscheinlich, daß es ein Satz zur nicht Persönlichkeit, sondern werblich “personality” ist. Über ein Buch jedenfalls sagt er nix. Und auch hier, in Der Dschungel, finden Sie nirgendwo eine Annoncierung, die mir das anpappen würde.
      Und warum soll ein Kritiker nicht sogar das Werk eines tatsächlichen Genies besprechen? Wurde tausendfach gemacht, von Picasso über Dalí bis zu Kiefer, und zwar auch sehr kritisch. Ebenso wurde mit Beethoven umgegangen, dessen Spätwerk ja bist weit in die Fünfziger noch als “mißlungene Musik!” galt. Also echt mal!
      Daß der Verlag einen solchen von der FAZ ins Spiel gebrachten Begriff überhaupt nutzt, kann ihm ohnedies niemand verübeln – gerade bei einem Autor, der nicht gerade ein Lieblingsboy des Betriebes ist, sondern eher das Gegenteil. Inwieweit der Begriff dann stimmt, ist nochmal eine andere Sache. Sie tun so, als wäre die FAZ eine unhinterfragbare Autorität; mindestens im Bedeutungsgehacke der Zeitungen untereinander ist und war sie das mitnichten. Und dieses radikal in dem Begriff paßt zum Traumschiff auch gar nicht, das ein vielmehr zärtliches, nachgebendes, ja weiches Buch ist – eines, in dem jemand verzeiht, sich selbst und den anderen. Bevor er endgültig losläßt.

      (Kann es sein, daß Sie sich darüber geärgert haben, daß mir dieses “Radikalgenie” zugeschrieben wurde? Dann halten Sie einfach das “Großmaul” dagegen, das der genannte Artikel mir ganz genauso attestiert.)

    7. @Herbst Nein, ich habe nichts gegen auftrumpfende Annoncierungen (stimmt, es stand in einer Ankündigung), zumal sie mittlerweile inflationär verwendet werden, aber trotzdem sollten Sie das psychologisch Kontraproduktive nicht übersehen. Wenn Sie glauben, dass man Sie wegen Ihrer Person ablehnt, dann bestätigt eben ein solcher Werbespruch genau wieder die Vorurteile. Und jeder Kritiker geht voreingenommen ins Rennen und wird sich denken, dann schau ich doch mal, wo ich das Radikalgenie eventuell ausbremsen kann oder er sagt sich dann eben: Wenn einer schon ein “Großmaul” ist, dann braucht er keine Fürsprecher. Beethoven hat glaube ich von sich nicht selbst behauptet, dass er ein Genie ist, weiß es aber nicht genau. Und bei Dali, keine Ahnung, aber da war sehr offensichtlich etwas sehr Neuartiges in den Bildern. Zumeist ist Genie ein Etikett, dass man von andere angeklebt bekommt.

    8. @Lutens zum “Genie”, ff: Das Wort stammt ja auch nicht von mir.

      Dalí allerdings nannte sich selbst so, hat ironisch einem Interviewer einmal gesagt: “Wer lange genug Genie spielt, wird eins.” Dieses drehend hat Krausser auf die Frage geantwortet, ob er – also Krausser selbst – größenwahnsinnig sei: “Erst kommt der Wahn, dann die Größe.” Daß er damit genau auf Dalí anspielte, hat selbstverständlich keiner gemerkt. Sondern anstelle laut aufzulachen, nahm man ihm das Aperçu schlichtweg übel. Ich nenne so etwas kleinbürgerlich.
      Ein anderer, der heute bei uns keine Rolle mehr spielt, ist Kjaerstad, dessen Jonas Wergelund die stehende Wendung “groß denken!” geprägt hat. Der Norweger ist ein tatsächlich grandioser Romancier.

  2. Ich würde ihr Buch so gerne lesen, aber ich traue mich nicht dran, scheinbar bin ich dafür im vorhinein nicht schlau genug, dabei bin ich sicher dass es ein wunderbares Buch ist.

    1. @Vetter. Das genau ist das Problem. Dieses Buch braucht nun überhaupt keine Vorkenntnisse. Die versteckten Anspielungen erschließen sich entweder von selbst, oder man braucht sie für die Geschichte nicht und schon gar nicht das, worauf sie hinausmöchte. Eingebaut habe ich es, um die kulturelle Grundierung zu bewahren. In dieser Hinsicht bin, als Autor, im Wortsinn konservativ. Jeder Tonträger ist das, leltlich auch jedes Buch.
      Lächelnd:
      Ihr ANH

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