Ein kleines Lehrfest für Cellisten. „Bach im Dialog“: Alban Gerhardts und Clemens Goldbergs Gesprächskonzert im Radialsystem Berlin. Nachträge zum Sonntag, dem 29. November 2015.



[Fotos: ANH/iPhone]

Der Saal des >>>> Berliner Radialsystems ist der Hohlraum eines Raumschiffs, auf den als Sichtfenster dienenden Screen sind über Kopfhöhe die Sterne einer Partitur projeziert. Aber wir sitzen nicht, wie es vielleicht hätte sein sollen, verteilt im selbst in unseren Rücken weiten, einsamen Raum, sondern auf bestuhlten Terrassen: Das soll uns Sicherheit geben, denn die meisten Kosmonauten, es ist eine Schule, sehen auf die beiden Navigatoren hinab, den einen am Steuer, das sein Cello ist, den anderen, der durch die Sternenengen tatsächlich navigiert, sie uns, den Kadetten, erläuternd: wo wir zu achten hätten, wo zu entscheiden, wo etwas Gas zu geben und wo es rückzunehmen gelte, um zu gleiten.
>>>> Goldberg erzählt leichtfüßig, erzählt elegant, hat eine Liebe zu Gestirnen, findet auch manche Enge zu schwer: „Zeig ihnen, wie man nicht fährt… – Danke. Und nun gib etwas Gas, aber ohne Bleifuß, Alban.“ Und kritisch sieht er der Ausführung zu, hört er ihr zu, durchaus nicht immer einverstanden.
Seine Erläuterungen, sein pädagogischer Eros wie Humor, sind bekannt; daß er sprach, zog das Publikum, ein eingeweihtes – Kadetten, sagt‘ ich, seien wir – nicht minder als der noch immer ausgesprochen jugendlich wirkende, so gänzlich allürenfreie wie unpädagogisch-„einfach“ nur spielende >>>> Alban Gerhardt, ein großer, quasi, Junge noch immer, mit indes an den Schläfen schon grauendem Haar, der fortwährend von seiner Liebe erzählte, zu der bestimmten Musik, und von Scheu und Abwehr manchmal und von Fehlern, seinen. Das kam so durchaus menschlich daher; wir konnten uns sicher nicht sein, wie geprobt dieser Nachmittag war, er flog den beiden wie aus der Hand, auch wenn schnell klar ward, na sowieso, welch Partiturenkenntnis ihn überhaupt ermöglicht hatte, wieviel disziplinierte Jahrzehntzeit des Übens.
„Du hast ja gehört, das“ (eine bestimmte Bindung über eine leere Saite hinweg) „ist mir s c h o n wieder nicht gelungen.“
„… der berüchtigte Nähmaschinenrhythmus…“
„… wahnsinnig maschinell, wie inner Fabrik…“
Es gibt eine liebevolle Respektlosigkeit, die voller Respekt ist.
„Es fehlt doch auch jede Phrasierungsvorschrift.“
„Spiel‘s mal dramatisch.“
„Ich kann es auch kitschig“ – und er legt los. Wir können nicht anders, müssen lachen, das wogt durch uns her.
Möglichkeiten.
Nichts ist wirklich festgelegt.
„In Spanien habe ich einen Cellisten gehört, der spielte zu süß, ja, mir zu süß – aber wundervoll. So wundervoll hatte ich dieses Präludium noch niemals und habe ich es seither nie wieder gehört.“
Bewunderung für andere.
Glück.
Doch die beiden verteilen auch Seitenhiebe, leichte freilich: ihr Spott ein Flügelschlag im Rücken Rostropovitschs, seiner bäuerischen Gravität, die es nicht einmal merkte, wenn sie noch lebte. „Ach, wissen Sie“, sagte der große Russe einmal, „irgendwann hört Technik auf, ein Problem zu sein.“ Und die Musik, überhaupt d a n n nämlich erst, fängt an. So anders ist es auch nicht in der Literatur. Und wir bekommen eine Vorstellung von bedeutenden Lehrern und davon, wie man sich von ihnen löst, lösen muß und will. Doch aus allem, was an diesem Nachmittag erzählt, und vor allem, wie musiziert wird, klingt Achtung und spricht aus dem Klang.
Es war ein Hochfest von Lehre und Interpretation, die Zeit wurde knapp, es hätt noch lange weitergehen können, „aber um Viertel-v o r werfen die uns raus“.
Wir hörten Bachs Cellosuiten, vertreten durch je ihr Präludium, je einmal ganz von Gerhardt gespielt, je in Segmenten variiert, kurzen Motiven, Strichtechnik, Fingersatz, Bindung. Veranstaltet von den >>>> Köthener Bachfesttagen. Wer nicht dabeiwar, hat was verpaßt.
Innigkeit, Klugheit, Schönheit und Nähe.


BACH IM DIALOG
Ein Gesprächskonzert mit Alban Gerhardt und Clemens Goldberg

Suiten für Violoncello solo: Präludien

Sonntag, der 29. November 2015, 17 Uhr
Radialsystem V, Berlin

6 thoughts on “Ein kleines Lehrfest für Cellisten. „Bach im Dialog“: Alban Gerhardts und Clemens Goldbergs Gesprächskonzert im Radialsystem Berlin. Nachträge zum Sonntag, dem 29. November 2015.

    1. Frei nach dem Satz Nietzsches „Doch alle Lust will Ewigkeit“, dem Adorno in der „Ästhetischen Theorie“ auf seinen verschlungenen Pfaden, ihn umspielend folgt, paaren sich in der Kunst generell Eros und Erkenntnis. So enden seine „Theorien über den Ursprung der Kunst“ und damit auch seine Fragment gebliebene „Ästhetische Theorie“ mit jenem Satz:

      „Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild. Was später Subjektivität heißt, sich befreiend von der blinden Angst des Schauers, ist zugleich dessen eigene Entfaltung; nichts ist Leben am Subjekt, als daß es erschauert, Reaktion auf den totalen Bann, die ihn transzendiert. Bewußtsein ohne Schauer ist das verdinglichte. Jener, darin Subjektivität sich regt, ohne schon zu sein, ist aber das vom Anderen Angerührtsein. Jenem bildet die ästhetische Verhaltensweise sich an, anstatt es sich untertan zu machen. Solche konstitutive Beziehung des Subjekts auf Objektivität in der ästhetischen Verhaltensweise vermählt Eros und Erkenntnis.“

      Eros und Erkenntnis als die letzten beiden Wörter des wohl intensivsten Textes zur Kunst, der im 20. Jahrhundert und darüber hinaus geschrieben wurde. Auch solche Sätze erzeugen fast einen Schauer; selten geschah es in der Ästhetik, daß ein ästhetischer Theoretiker der Kunst derart nahe kam. Zu solcher Nähe reicht kaum die bloß nachvollziehende Mimesis hin, sondern Denken selbst findet im Falle Adornos als Kunst statt, und wir merken, daß Adorno nicht bloß in der Theorie zu Hause war, sondern als Komponist selber künstlerisch wirkte. So und nur in dieser Weise bindet sich philosophisches Denken an die Kunst. Vermittelte Unmittelbarkeit gleichsam. Oder wie es Kleist in seinem Marionettentheater schrieb: wir müssen eine Reise um die Welt machen, um zu sehen, ob wir vielleicht von hinten her wieder ins Paradies gelangen und ob es an irgendeiner Stelle vielleicht wieder offen sei.

      Daß wir verstehen und in einem Bild oder einer Sprache einholen können, was wir einmal in der Kindheit empfunden haben, wie es an einer Stelle der „Negativen Dialektik“ heißt, ist einer dieser Aspekt dafür, daß Eros und Erkenntnis sich vermählen. Nicht verschmelzend als unio mystica vollzieht es sich freilich, wohl aber als kaleidoskophaftes und damit zugleich flüchtiges Bild. Nichts fixiert. Vielleicht auch wegen dieses Schauers ist die Musik jene Kunst, die viele am heftigsten bewegt. Sie dringt als Ton und Klang unmittelbar ins Innere. Vielleicht mehr noch als der mit Bedeutungen gesättigte Wortklang und die beständig auf uns einschießenden Bilder.

    2. editiert* [*editiert, im Sinne von die drei Kommentare zusammengefügt, das wirkt mir sonst zu sehr wie zugespamt, zumal mir gerade ein weiteres P.S. vor Augen steht, das sich auf Alban Gerhardt bezieht.]

      Nachdem ich beide Berichte las, habe ich eine gute Vorstellung vom inneren und äußeren Raum, und dem Ineinanderfließen. Und davon, dass ich doch sehr gut dort aufgehoben(!) gewesen wäre. Solche Berichte schärfen die Sinne und erweitern die Wahrnehmung. (Selge hat übrigens auch den Erzengel Michael besucht.)

      Der Musik liebende Mathematiker Walter Tydecks hat hier umfangreich über u. a. “Die Entstehung des Mythos »opus 111«” (der metaphysischen Deutung), und auch über Adornos Beschäftigung damit geschrieben.

      (ich wusste das nicht, danke für den Hinweis zu Opus 111, ich hatte nur so eine sehr diffuse Vermutung.)

      P.S. Sonate 32, Opus 111, Arietta Adagio molto semplice e cantabile

      Unter den vielfältigen Interpretationen, die ich gefunden und gehört habe, berührt mich bislang diese Interpretation des zweiten Satzes von Daniel Barenboim am meisten. (Mehr noch als die von Glenn Gould und Sviatoslav Richter und Oleg Yakerevich und und und) Unvergleichlich behutsam.

      P.P.S. am 06. Dezember 2015

      Heute fand ich noch weitere sehens- und lesenwerte Dinge, nämlich ein dreigeteiltes Video-Interview mit Alban Gerhardt, in dem er u. a. die schöne Geschichte erzählt, wie er zu seinem Vornamen kam, nämlich, dass sein Vater, der Violinist bei den Berliner Philharmonikern ist, nach einem Vorspiel mit Stücken von Alban Berg die Zusage für die Philharmoniker bekam und deswegen mit dem Namen Alban eine glückliche Fügung verband. Aber auch interessant, wie er aus dem Nähkästchen plaudert, dass er als vielgebuchter, vielreisender Musiker unterwegs durchaus jede Menge Zeit hat, im Internet Zeit totzuschlagen, aber auch Mails von Fans zu beantworten, das Argument, keine Zeit dafür zu haben, hält er schlichtweg für verlogene Allüre, um Unnahbarkeit zu manifestieren. Als das Interview gemacht wurde, war auch die Rede von seinem Blog, er schreibt aber nur alle paar Monate, aber immerhin seit 2006. Phasenweise englisch, dann wieder deutsch. Und dann fand ich noch dieses interessante Interview mit ihm.

      (ich verspreche, ich werde diesem Kommentar kein weiteres P.S. hinzufügen und ihn auch in keinster Weise mehr editieren.)

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