Elontril 8: Das ObArbeitsWeißIchNochNichtJournal des Donnerstags, dem 17. März 2016.


[Roter Tisch, 6.55 Uhr]


Dies ist ein Protokoll, Teil einer Protokollserie.

Nebenwirkungen:
Gestern keine Zittrigkeit, gar keine mehr; auch keine leichte Übelkeit, nichts. Dafür stieg die Depression wieder, vor allem gegen Mittag. Wollte schlafen, ging nicht: starke innere Unruhe. Wechselte das Lager, mit Buch auf die Couch; da ich im Liegen noch nie lesen konnte, nicht länger als fünf Minuten, schlummerte ich da tatsächlich ein und schlief an die zwei Stunden lang. Erschrocken auf um drei. – Abends extremer Unwille, den Arzttermin wahrzunehmen, der heute um 15 Uhr ansteht. Gekränkter, verletzter Stolz: Ich soll zum Psychiater? Wozu? damit der mir sagt, ich sei krank? und das, was es mich werden ließ, gesund? So schaukelte ich mich auf. Immer wieder das Thema der Korruption, meiner lebenslangen Wehr gegen sie, gegens EineHandWäschtDieAndere, egal, ob ein Werk es rechtfertigt, daß jemand gepusht, ja gehypet wird. Daß es immer nur um die Person geht, um Sympathien statt Kunst. Undsoweiter. Die freilich „nur“ noch sanfte Depression kippte in Aggression, sozusagen war das Elontril überwunden. Dabei, ich bitte Sie, 300mg!!
Aber die Libido gleich Null. Das macht den Arztbesuch in der Tat notwendig. Wenn ich mich auf meinen Körper nicht mehr verlassen kann, bleibt nichts. Völlig absurd: starkes geistiges Bedürfnis nach Sex, doch leiblich restlos unbewegt. Freilich: Ich habe Eros mein Leblang zum einen mit literarischer Produktivität verbunden, eines lief Hand in Hand mit dem anderen; zum anderen mit Fortpflanzung; jetzt, da ich nicht nur keine Dichtung mehr zustandebringe, sondern überdies einzusehen lernen muß, nie wieder Vater zu werden (aus Altersgründen; die spielten nur, wenn ich Geld hätte, keine Rolle), da ich auch diese Giftkröte schlucken muß, ist es kein Wunder, daß der Körper nicht mehr mitmacht. Imgrunde ein Teufelskreis: Wenn ich nicht schreibe, vögle ich auch nicht, wenn ich nicht vögle, schreibe ich nicht. Sowohl der immanente wie transzendente Sinn des Sexuellen geht mir gerade verloren, alles hübsch verpackt in Depression und „Outburn“; ich schreibe bewußt von dem statt von „Burnout“. (Indem ich aber schreibe, habe ich das Gefühl, mich meiner wieder zu ermächtigen, mich wieder selbst zu bestimmen. Was mich an der Depression vor allem verärgert, ist, daß sie mir aufgedrückt wurde; sie stammt nicht aus mir selbst.
Doch gehöre, sagte die Löwin, das Bedürfnis dazuzugehören und deshalb sich anzupassen und mitzulaufen, zum Grundbausatz des Menschen. Und wer sich dem verweigre, werde als Gefahr empfunden und also abgestoßen wie eine eigenkörperfremde Zelle. Und dieses ständige Abgestoßenwerden führt schließlich zur, sagen wir, Selbstaufgabe der Seele; wenn ihr schlichtweg die Kräfte ausgehen. – Darüber nachher mit dem Psychiater sprechen.)
Auf der anderen Seite: gestern morgens um fünf neu der Impuls, sofort aufzustehen, ja –springen, fast wie früher, um mich an den Laptop zu setzen, die Gedichte vorzunehmen, zu arbeiten. Und heute morgen abermals, um halb sechs… – und nun auch getan – aber des Brotes wegen, das grad bäckt („bäckt“? „backt“? Sprachregression):


Die Wohnung duftet bereits. Schwersüßer Brotduft, typisch für den Lievito madre, typisch für südländische Backstuben, auch am Äquator. In >>>> Soufrière duftete es morgens um fünf genauso. (Nie mehr vorgenommen, übrigens, die Erzählungen, die ich dort skizzierte. So vieles, insgesamt, blieb liegen. Ich habe überhaupt keine Zeit für den Outburn. Melusine Walser, Béart, Alle Menschen schlafen, eventuell der Friedrich-dann-d o c h.)

(„Ich habe überhaupt keine Zeit für den Outburn“: darin liegt auch eine Art Rache. Ich habe dergleichen immer für Kinkerlitzchen gehalten, für schwächlich, und mich darüber lustig gemacht. daß man „überfordert“ sein könne. Ich kannte sowas nicht. Und nu‘ hat‘s mich, den Vitalisten, derart erwischt, daß ich ohne chemische Gaben handlungsunfähig wäre. Der Stolz aber bleibt mir: daß ich es nicht verheimliche, also nicht schuldhaft besetze und mich so beuge, sondern offen austrage.)

ANH

2 thoughts on “Elontril 8: Das ObArbeitsWeißIchNochNichtJournal des Donnerstags, dem 17. März 2016.

  1. „Gerade aber indem

    Genialität über den jeweils vorhandenen Horizont hinaussieht, hinaustrifft, ist sie (…) Pionier an den Grenzen einer vorrückenden Welt, ja selber ein wichtigster Teil der Welt, die sich erst bildet. Psychologisch ist Genialität die Erscheinung eines besonders hohen Grades von Noch-Nicht-Bewußtem und der Bewußtseinsfähigkeit, letzthin also Explizierungskraft dieses Noch-Nicht-Bewußtseins im Subjekt, in der Welt. (…) Künstlerisches und wissenschaftliches Genie hier zu unterscheiden, ist an diesem Punkt noch nicht notwendig; denn die Sentenz des Danteschen ‚L‘acqua che io prendo giammai non si corse‘ gilt psychologisch sowohl für künstlerische wie wissenschaftliche Werke von Rang. (…) Genie als fortgeschrittenstes Bewußsein und Lehrer dieses Bewußtseins ist eben deshalb auch höchste Empfindlichkeit für die Umschlagspunkte der Zeit und ihren materiellen Prozeß. (…) Deshalb ist es nicht ganz uneben, wenn Carlyle das Geniewort geradezu als Lösungswort der Zeitahnung feiert: ‚Was der geistige Vorkämpfer sagt, waren alle Menschen schon nicht weit entfernt zu sagen, sehnten sich danach, es auszusprechen. Die Gedanken aller fahren wie aus einem schmerzlichen Zauberschlaf bei seinem Gedanken auf und erwidern ihn mit Zustimmung.‘ Kommt diese Zustimmung oft auch erst bei der nächsten Generation oder noch später, so lag doch das Pulver zum Schuß schon vorher bereit, und die Publizität der Zeit hat den Schuß nur nicht gehört, eben weil er an ihrem Horizont geschah. (…) Jedes große Kunstwerk bleibt daher, außer seinem manifesten Wesen, noch auf die Latenz der anderen Seite aufgetragen, das ist, auf die Inhalte einer Zukunft, die zu seiner Zeit noch nicht erschienen war (…).“

    Bloch, Prinzip Hoffnung 142/143

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