[Arbeitswohnung, 8.09 Uhr]
Ich muß, nur mit Handgepäck, ohnedies tricksen. Was man alles nicht mitnehmen kann. Was ich habe, habe ich bei mir. Das sagt sich leicht. Andererseits, kein Warten am Gepäckband, und die Kosten für den Rucksack wären genau so groß gewesen wie mein Personenbiglietto. C. wird mich gegen Viertel vor 21 Uhr oder später, je nachdem, wann ich in Schwechat die S7 erwische, von der S Wien Mitte abholen kommen. Für die Arbeit nehme ich „nur“ die noch unüberarbeiteten Gedichte mit, alle andren hab ich in der Datei. Manchmal sitze ich drei Stunden, bisweilen vier, an zwei Zeilen; bei manchem bin ich mir auch nach der Überarbeitung unsicher, besonders beim Pettersson-Requiem, das als quasiLibretto für das >>>> Hörstück gut funktioniert hat, als eigenständiger Text aber, sagen wir, verzwickt ist, vielleicht zu pathetisch. Immerhin habe ich ein mich selbst überraschendes, zumal ziemlich nüchternes Ende hinbekommen.
Die >>>> Friedrich-Lektüre abgeschlossen, in der Sonne im Thälmannpark liegend, was ich mir in den letzten drei Tagen angewöhnt habe, zwei Stunden Lesezeit so auf jeden Fall, zu denen ich bräune. Solange das Wetter derart sommerlich bleibt. (In Wien soll‘s etwas kühler werden und durchmischt. Dennoch werde ich mit einem Paar Schuhe auskommen müssen. Was nicht zu mir paßt.)
Eine neue Friedrich-Lektüre begonnen, diesmal ein „klassischer“, sagen wir bürgerlich-historischer Unterhaltungsroman: >>>> R.M.Bordihns Der Falke von Palermo aus dem Jahr 2003/04. Sprachlich unbeeindruckend, völlig anders als Horst Sterns Formulierungskunst, alles geht auf Plot & Spannung; dennoch macht‘s Spaß. Friedrichs ihn bisweilen quälenden Selbstzweifel und Selbstvorwürfe, bei Stern, gibt es bei Bordihn – jedenfalls noch – nicht. Etwa spielt die ihm eigene Grausamkeit so gut wie keine Rolle. Aber die Differenz beider Sichtweisen, Sterns und Bordihns, gibt der Lektüre einen tatsächlichen Gewinn: wie heroisiert wird oder eben nicht, wie geschönt wird oder eben nicht. Auch tritt bei Bordihn Friedrichs unbändige Neugier auf die Naturwissenschaften zurück, wird allenfalls behauptet, und was es blutig heißt, wenn ein Falke beizt, bleibt ausgespart.
Um so schneller liest das Ding sich weg. Immerhin spürte ich eine Ahnung von dem, was Leute an Unterhaltungsliteraturen reizt, sie ihnen so zugänglich macht: Die Grundstruktur ist Behauptung. „Das Wetter war schön. Der Himmel war blau.“ Den Menschen reicht das, sie bekommen sozusagen eine Regieanweisung. Stell dir schönes Wetter vor. Jeder tut‘s, jeder hat ein eigenes Innenbild. Unterhaltungsromane bestehen aus Sätzen, deren jeder nur Regieanweisung ist, wobei diese Anweisungen ihrerseits allenfalls Vorschläge sind. Hingegen ein kunstvoll ausgefeilter, detaillierter Satz bestimmt die Vorstellung, determiniert sie. Es kostet Arbeit, allen Verästelungen nachzugehen, die Imagination der Leser:innen muß da genau werden; sie erleben das als Unfreiheit, Gängelung. Insofern dies im Unterhaltungsroman gerade vermieden werden soll, ist es auch egal, wenn die Sprache nicht stimmt; locker wird sogar über grammatische Fehler hinweggelesen. Auch ich lese locker über sie hinweg – sofern‘s nicht gar zu schlimm wird.
Um von „Bildern“-als-Sprache-selbst zu schweigen: Da beginnt auch Vor|bildung eine Rolle zu spielen. Fehlt sie, wird das als Manko empfunden, nicht aber als ein eigenes, sondern als das der Autor:inn:en. Leser:innen wollen da, wie dummerweise schon in der Schule gefordert wird, abgeholt werden, wo sie sind.
Inofern geht es Erfolgen um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Oder um das, was Man Ray die größere Bananenschale nannte: Horst Sterns Roman dürfte seinen (Markt)Erfolg wegen der Popularität des Autors als Tierschützer gehabt, man wird das Buch gekauft haben, aber sehr wahrscheinlich nicht durchgelesen. Die Löwin meinte gestern sogar, in Facetime, sie bezweifle sehr, ob heutzutage etwa noch ein so komplexer Roman wie Ecos Der Name der Rose irgendeine Chance habe; das gelte auch für, den ich einwandte, García Márquez. Eine befreundete Autorin hatte mir tags vorher geklagt, ihr Verlag, ein berühmter, wolle ihren neuen Roman nicht herausbringen, und zwar mit der Begründung, es handele sich in der Tat um einen großen Text, „aber am Markt hat er keine Chance“. Wenn sie dran weiterschreiben wolle, solle sie‘s als ihr Freizeitvergnügen betrachten; dann hätt man nix dagegen.
Der Markt ist in die Seelen auch derer gedrungen, die‘s besser wissen, und kleidet sie aus. Hier liegt das Problem, nicht in der Unterhaltungsliteratur für sich (gegen die ich nichts habe): daß die Intelligentia sich längst schon selber zensiert. Widerstand, der nicht Umsatz macht, gilt für unschick. Anpassung ward zur conditio sine qua non – ein paar wenige kleine, meist staatsmäzenatisch betreute Szenen beiseite, in denen um so härtere soziale Ausschlußregeln gelten, die sich Schulter an Schulter mit den je „neuen“ ästhetischen Normen in social networks destillieren, bzw. verdinglichen. Außenseiter haben auch da keinen Ort. Es geht unterm Strich nur um Lobbies.
Fünfhundert Seiten Bordihn sind wie fünfzehn bei Stern, dessen großes Notturno – Friedrich spricht mit seinetwegen umgekommenen Toten – sich künstlerisch-selbstbewußt durchaus neben das große Gespräch stellen kann, das >>>> Adrian Leverkühn mit dem Teufel führt.
Stern hat mir einen Strich durch die Identifikation mit einem Vorbild gemacht, indem er es brüchig werden ließ, rissig jedenfalls, ohne aber als ideolgischer, gar agitierender Autor überhaupt in Erscheinung zu treten, denn die zweifelnden Fragen stellt sich, und zwar aus der Selbstbewegtheit seines poetisch vor Augen geführten Charakters, Friedrich selbst. Bordihn will den Identifikationsprozeß (wieder) in Gang setzen, aber zwischen allen ihren Zeilen glimmt nun die genaue Bedenklichkeit Sterns. Er drängt sich allenfalls da ein bißchen vor, wo er – als er, Stern, spürbar – Partei für Friedrichs Empirismus, bzw. wissenschaftlichen Positivismus nimmt. Was er aber in >>>> dieser Passage zum Sprachleib Friedrich selbst hat relativieren lassen – worin wiederum eine besondere Größe seines Romans liegt.
ANH,
der soeben und leider wieder eine Mehlmotte im Mehlschrank entdeckt hat. Noch ist Handlung nicht erfordert (vor der ich mich bei mehreren Kilos gelagerter Mehlsorten scheue); doch sollten es mehr Flüglerchens werden, komm ich um eine nächste Aktion nicht herum. Bis kommenden Montag wird es sich zeigen.
Sprachliche Kunst? Da allein schon scheint eine massive Verschiebung in der Bewertung stattgefunden zu haben, auf dem Wege von der Veröffentlichung des Sternschen Romans bis zu Ihrer gegenwärtigen Lektüre. Meine alte Taschenbuchausgabe stammt von 1988 und wirbt auf der hinteren Klappe mit einem Zitat aus der damaligen Spiegel-Kritik. Sie lautet:
“ … und schließlich läßt er (Stern) ihn (den Leser) das Brot einfacherer Sätze vorsprechen – ein gefundenes Fressen für den Fast-food Leser von heute“.
Wäre also demnach das, was Ihnen heute so kunstvoll erscheint nicht als das sprachliche Fast-food-Essen von gestern.
Mir selbst ist aus meiner ehemaligen Lektüre einerseits eine starke Atmosphäre in Erinnerung geblieben. Dann, dass ich das Buch damals durchaus Büchern wie „Ich Claudius, Kaiser und Gott“ oder auch der „Löwin“ der Yourcenar an die Seite stellte.
Ansonsten ist mir erinnerlich, dass sich Friedrich viele Gedanken um Zeugung, Sperma, Beischläfereien mancher Art macht. Nun ja, ist bei alternden Männern vielleicht ein zwanghaftes Thema.
@Julius zu Sterns Friedrich. Um nur ein Beispiel aus dem von mir oben erwähnten Notturno zu nehmen und hier besonders auf die Rhythmisierung der Prosa zu achten:
Und ein paar Seiten später:
Um aber ein – fast sprachexperimentelles – Beispiel für Friedrichs Liebesverfallenheit zu geben, noch einmal aus der >>>> Anrufung Bianca Lancias dieses:
Ist vermutlich Kritikergeschwätz Weder kann ich mich erinnern, dass ich das Buch damals als sprachlich leichte Kost empfand, noch finde ich es heute zu schwer – habe, angeregt durch Sie, wieder reingeschaut und werde es wohl nochmals ganz lesen.
Aber der Spiegel hat damals tatsächlich so geschrieben.