Das furchtbar‘ Begehren nach Einheit. Infektion! (2): Jürgen Flimm inszeniert Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici an der Staatsoper im Schillertheater Berlin.


(Fotografien (©): Clärchen und Matthias Baus)


Die helle Bühne ist klar geschnitten: ein lichtdurchflutetes salonhaftes Wohnimmer mit (spät)bürgerlichem Interieur. Es bewahrt noch eine Ahnung an die feudalen Zeiten, in denen die Grundgeschichte sich zutrug: die Ermordung von Gattin und Liebhaber durch den nachmals weltberühmten Komponisten >>>> Carlo Gesualdo di Venosa. Das Geschehen war ein mit den südeuropäischen Ehrbegriffen des späten 16. Jahrhunderts eng verbundenes und wohl auch nur aus ihnen zu erklärendes Eifersuchtsdrama. >>>> Salvatore Sciarrinos im Jahr 1998 uraufgeführte Oper überträgt es allerdings auf eine quasi stehende, wenn nicht ewige Zeit. Dennoch basiert sein Libretto auf dem Stück Il tradimento per l‘onore (etwa „Verrat für Ehre“) >>>> Andrea Cicogninis, eines Gesualdo geradezu unmittelbar nachgeborenen Dramatikers und vor allem Librettisten. Er war vermutlich der erste einer bis heute anhaltenden Reihe von Autoren, denen diese Morde zum Stoff wurden. Allerdings hat ihn Sciarrino Sciarrino … ja, man muß sagen: kondensiert, nämlich den Text auf extrem kurzsätzige Dialoge reduziert, um, so ist seinen eigenen Äußerungen zu entnehmen, die Situation auf eine nicht mehr spezielle, also Gesualdos personale, sondern allgemeinmenschliche einzukreisen. Dies hat zweifellos den Vorteil sehr freier Gestaltungsmöglichkeiten für die Regie, denn die „Story“ selbst schrumpft einerseits zusammen, andererseits wird jeder Satz metaphorisch enorm aufgeladen. Das geht bei den Namen los (Gesualdo als Il Malaspina, der Bösdorn, seine Frau als La Malaspina, die Bösdorn) und endet nicht bei den Geschehen: Er überreicht ihr eine Rose, deren einer Dorn sie, die später von ihm Erstochene, sticht – woraufhin er – einer, der kein Blut sehen kann! – in Ohnmacht fällt. Das ist nicht ohne unfreiwillige Komik bereits in der Vorlage. Sciarriono fängt sie in seiner Musik allerdings auf.
Das ist auch nötig, sonst wäre das Stück, gerade als ein modernes, unerträglich. Imgrunde ist ausschließlich sie, die Musik, der Grund für den unterdessen Welterfolg dieser Oper; die Handlung selbst ist aus heutiger, jedenfalls meiner Sicht Schmonzette, ja schon Eifersucht selbst, wenn in Mord und Totschlag ausartend, nichts als lächerlich – doch, so gesehen, in einem psychiatrischen Sinn, tatsächlich tragisch. Insofern wäre um so weniger klar, wieso hier „Allgemeinmenschliches“ verhandelt werde, bräche nicht >>>> Flimms Inszenierung das Phänomen auf grundsätzliches Begehren und sein Scheitern herunter, in diesem Fall auf die frühkindliche Sehnsucht nach heiler Identität und Verschmelzung mit einem/r anderen, also auf in uns allen latent weiterwirkende Sehnsüchte der unmittelbaren Zeit nach der Geburt.
Genau dieser Sehnsüchte nämlich versichert sich das Paar in den ersten beiden Szenen, und zwar als bleibend erfüllte. Doch in der Gestalt des Dieners, der zu seiner Herrin in heimlicher Liebe entbrannt ist, bekommt die Illusion schon Risse – erst recht aber, als ein Gast das Haus betritt, der die Malaspina nur anzusehen braucht, und sie sieht ihn an, um in das feste Ehegefüge ein Außen erst einsickern, dann -strömen zu lassen. Die Frau mag sich anfangs noch wehren („zieren“ hätte man heute gesagt; siehe dazu mal >>>> die aktuelle Neufassung des § StGB); schließlich wird sie von ihrem unmittelbaren Begehren d o c h überwältigt. Wobei der Gast sie durchaus, mit Worten und Gesten freilich, verführt:


Der völligen Einheit mit dem „nur Einen“, „Einzigen“ steht Amor entgegen; er verschießt seine Pfeile, wohin er will, auch mitten in intakte Beziehungen; etwas moderner ausgedrückt, stehen ihr die Pheromone entgegen, mit denen ihre, der Pfeile Spitzen, bestrichen worden sind.
Er muß also nur eintreten, der Gast, und die hintere Wand des Salons bekommt einen riesig klaffenden Riß – und zwar dort, wo die Tür ins Schlafzimmer führt – ein im zweiten Akt gerade auch in der Ausführung bühnenbildnerisch mitreißender Einfall Annette Murschetz‘, den ich hier nicht verraten möchte. Es ist ein Effekt ganz großer Theaterzauberkunst. Sie müssen ihn einfach selber sehen.
Jedenfalls ist der Diener nun derart eifersüchtig, daß er die Liebenden beim Herrn verpetzt. Der mit quasi derselben Unerbittlichkeit sofort die Konsequenzen zieht, die schon die Vorstellung einer unantastbaren Einheit zu zweit bestimmt. Imgrunde handelt es sich um die Imagination des Säuglings, eines mit der Mutter zu sein – als hätte die Geburt und also eine Trennung von ihr gar nicht stattgefunden; sprich: es ist niemals zur Reifung, geschweige denn der schließlich erwachsenen Individuation gekommen. Dem entspricht bei Sciarinno der Ohnmachtsanfall Il Malespinas, mit dem er auf seine sich am Dorn gestochene Frau reagiert, auf kaum ein Blutströpfchen also. So ist seine krankhafte Eifersucht nicht etwa Ausdruck der Überführung von Beziehungsstrukuren in Eigentumsverhältnisse („meine“ Frau, „mein“ Mann), sondern eben der einer schwer gestörten Persönlichkeitsentwicklung.
Genau so agiert Sciarrinos Musik: Sie bleibt in der ständig ungefähren Wahrnehmung, liegt wie ein unbewußter Teppich unter den Geschehen – was ihr etwas ungemein sowohl Bedrohliches als eben auch Heimatliches, Gebärmutterartiges gibt. Dem läßt es sich bei aller Hysterie der Szene nicht entziehen – zumal dann nicht, wenn Sciarrino überdies zum Zitat greift, das etwas Verlorenes anruft – bzw. ruft das Verlorene, Vergangene zu uns – : die harmonische Tonalität einer madrigalhaften Elegie >>>> Claude Le Jeunes Sie leitet die Oper sogar ein, wird zwar danach zunehmend verfremdet, doch bleibt im Ohr permanent zugegen. Dabei verblaßt der Elegientext gleichsam, der anfangs „heil“ die Bühne überschrieb, und zwar in doppelter Projektion. Er zersetzt sich in Versfragmente, und eine Figurierung La Malespinas zu Anfang der siebten Szene zeigt die Frau in geradezu derselben Haltung, wie wir sie ganz am Beginn sahen:




Imgrunde ist der einzig erwachsene Satz, den Il Malaspina spricht, ein geradezu kleistscher: „Ich wäre nicht entehrt, wenn du geschwiegen hättest“, sagt er zum Diener. Um die „Schande“ gänzlich abzuwehren, muß deshalb auch er, ihr Zeuge, umgebracht werden.
Daß nach den Morden Il Malaspina freilich nicht erlöst ist, sondern erst recht verdammt, erklärt sich aus dem symbolischen Muttermord; die Trennung ist zementiert, das Kind bleibt einsam zurück. „Lebt wohl, lebt wohl“, ruft er ganz am Ende, „ich werde auf ewig in Qualen leben!“ Die Reifung wird über den Tod hinaus verweigert.
Dabei ist hochinteressant, daß die Figur Il Malaspinas erst mit dem Mordentschluß überhaupt Kontur gewinnt; ein erstes Anzeichen von Reifung, das die Tat selbst wieder durchstreicht. Zuvor war der Mann ein so winselndes Etwas, daß mir leicht widerlich zumute war; doch ließ sich eben genau deshalb begreifen, daß seine Frau schon beim Erscheinen des Gastes, ihres nachherigen Liebhabers, völlig von ihm berückt wird: kein Kind nämlich, sondern ein Mann mit eigenem Willen trat ihr gegenüber. Da konnte sie gar nicht anders, als sich ihm hinzugeben. Sich auf diese Liebschaft einzulassen, ist der Beginn ihrer eigenen Reifung; mit anderen Worten: Die Mutter anerkennt die Trennung vom Kind.
Witzig ist daran, daß Sciarrino die Rolle des Liebhabers mit einem Counter besetzt hat, was für die „eigentliche“ Zeit der Handlung, dem späten 17. Jahrhundert, – vor allem in der weltlichen Oper >>>> gefeierter Usus war. Von heute aus betrachtet, wäre ein Kastrat aber eben einer, der sich als Liebhaber gar nicht eignet; insofern wäre auch hier Vergeblichkeit im Blick. Allerdings haben Regisseur Jürgen Flimm und Dirigent David Robert Coleman den Gast als Hosenrolle besetzt, hinreißend von Lena Haselmann gestaltet, einem Bilderbuch->>>>Octavian. Mag jedenfalls sein, daß nicht nur besetzungspraktische Gründe zu dieser Inszenierungsentscheidung geführt haben.
Man kann darüber streiten, ob es szenisch nicht überinterpretiert ist oder Eulen nach Athen getragen, wenn Il Malespina im zweiten Akt als Racheengel erscheint, tatsächlich mit dunklen Schwingen:




Ergreifend allerdings sind hier die textlichen Wiederholungen und szenischen Dopplungen, die das Unheil gleichsam mehrfach festklopfen, auch das Ausgeliefertsein der Personen unterstreichen, keinerlei Ausweg lassen. Ebenso eindrucksvoll ist, wie nach dem ersten Riß in der Hinterwand der Salon nach und nach verwüstet wird. Anfangs trampelt man nur auf den Blüten der heruntergefallenen Rosen herum, schließlich werden die Bilder von der Wand genommen, eine alte Weltkarte überdies zerrissen: der heile, helle Salon war als Repräsentation der „einzigen Liebe“ eingerichtet. Wenn sie zerbricht, muß auch er aufgelöst werden. So viel Wahrheit ist an der Regression, daß sie kein Hohles zulassen kann. Dennoch versichert sich das Paar abermals seiner ausschließlichen Liebe, schon aber auch, denn ihre stattgehabte Störung läßt sich nicht leugnen, des kommenden Todes. Il Malespina wird zur Unheilsrose selbst:
Euch gehört dieser Dorn, ich will Euch stechen.

Symbolisch desexualisiert, also praktisch tödlich, werden Rose und Phallus eines: In gotischen Kapellen wies das Rosettenfenster nach Westen und war Maria geweiht, als der Frau; es lag gegenüber der Ostapsis, in dem sich das männliche Kreuz aufrichtete. „Fünf war die marianische Zahl, weil die Rose fünf Blütenblätter aufweist, genau wie die Apfelblüte (…), aus der die fünf Kerngehäuse des reifen Apfels hervorgehen, das entsprechende Symbol für Mutterschaft, Fruchtbarkeit, Wiedergeburt und das ewige Leben“ (>>>> Barbara Walker). „Ich werde aus dem Unmöglichen das Mögliche machen,“ sagt die Frau. Und der Mann antwortet: „Und ich aus dem Möglichen das Unmögliche.“ Prägnanter läßt sich die Weigerung, erwachsen zu werden, in Worte nicht fassen. Lieber bringt man die Liebe um.


Salvatore Sciarrino
LUCI MIE TRADITRICI

Oper in zwei Akten
Libretto von Salvatore Sciarrino
nach dem Drama Il tradimento per l‘onore von Giacinto Andrea Cicognini

Inszenierung Jürgen Flimm Bühnenbild Annette Murschetz Kostüme Birgit Wentsch
Licht Irene Selka Dramaturgie Detlef Giese

Katharina Kammerloher, Otto Katzameier, Lena Haselmann, Christian Oldenburg

Staatskapelle Berlin
David Robert Coleman
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Die nächsten Aufführungen:
13., 15. und 16. Juli 2016, jeweils um 19.30 Uhr
>>>> Karten

3 thoughts on “Das furchtbar‘ Begehren nach Einheit. Infektion! (2): Jürgen Flimm inszeniert Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici an der Staatsoper im Schillertheater Berlin.

  1. Sehr schön und detailgenau angesehen!
    Ich fand allerdings, die doch arg ehehöllen-psychologisierende, m.E. vordergründige Regie von Flimm entzaubert etwas Sciarrinos Musik, die immer wie hinter einem Vorhang ist. Die Stimmen bzw das, was aus ihnen wird, sind ja das Zentrum von Sciarrinos Musik. Aber auf der Bühne wirkt es, als wären es klassische Dialoge und nicht mikroskopische Sprachgesten und bizarre Arabesken, die den Körpern der Figuren entfleuchen. Die schwarzen Flügel fand ich ehrlich gesagt indiskutabel.
    Haben Sie vor 1 oder 2 Jahren Sciarrinos Lohengrin in der Werkstatt der SO gesehen? (Und übrigens musste ich auch an Klaus Florian Vogt mit weißen Flügeln im Wagner-Lohengrin an der Deutschen Oper denken; kuriose Querbezüge, die irgendwie in die Sackgasse führen.)
    Wunderbar diese Zwischenspiele, dieser sich auflösende Ohrwurm von Le Jeune.

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