III, 340 – Er gesellt sich nicht und findet eine leere Mitte

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal zu einer Veranstaltung statt zu Fuß gegangen mit dem Auto gefahren bin. Die Uhrzeit gestern aber war günstig, mit zwei bis drei Gläsern Wein läßt sich noch gut fahren. Da die Anfangszeit schon mit der Dämmerung zusammenfiel, fuhr ich absichtlich direkt in den Sonnenuntergang, bei Tageslicht also noch, und zwar zwei Ortschaften weiter Richtung Orvieto. An der zweiten dann vorbei auf der Provinzstraße, bis es nach etwa vier Kilometern rechts auf eine unbefestigte Straße gehen sollte, die zum Landhaus des >>>> Arturo Annecchino führt. Zwar war ich schon einmal dort, aber es blieb eine Unsicherheit, über die mir das Noch-Tageslicht hinweghelfen sollte. Natürlich fand ich’s: sie hatten ein Schild an der Abzweigung aufgebaut.
So war ich eine Dreiviertelstunde zu früh. Fulvio war natürlich schon da hinter seinem Tisch mit Kasse für die Eintrittskarten. Zog einfach meine Kreise ums Haus herum mit Ausflügen und Stillständen vor der Landschaft, einem Siebenachtelmond voll ins Gesicht schauend. Herbstliche Farbtupfer auf einem Hang gegenüber. Mitten auf dem Land. Und nur erst eine Handvoll Leute. Noch kein Landunter. Nur sich keinem Redezwang aussetzen mit wildfremden Leuten. Wovor ich mich immer am meisten fürchte. Sie wissen die Steine, dein Murmeln, nicht anders als Murmeln einzuordnen. Und wenden sich lieber dem Nächsten zu. Altbekannte Situation.
Ich fragte R. ein bißchen nach der Aufführung, die ich aber kenne. Denn sie hatte schon sechs Proben miterlebt, wollte aber nichts verraten, was ich natürlich verstehen konnte. Indes machte sie sich Sorgen (Sorgen!) um mich, weil ich doch so früh gekommen sei. Und eilte zum Autor des ‘Librettos’, der, wie sie sagte, einige Exemplare davon mitgebracht habe. Tatsächlich tauchte der nach zehn Minuten mit R. wieder auf und kramte die extra für den Abend gedruckten 50 Exemplare heraus (“in occasione della prima prova aperta di Offelia Suite, opera musicale per pianoforte voce e suoni in olofonia di Arturo Annecchino in Lugnano in Teverina, 1 novembre 2017”).
Reichte vollkommen. Weitere Leute kamen, ich las und brauchte nicht zu reden. Bzw. tat es nur, wenn ein triftiger Grund dafür sich ergab bzw. ich mich ihm, dem triftigen Grund ergab. Eine Bekannte erschien. Sie kam nicht zu mir, ich ging nicht zu ihr. Schaute nur ab und zu zu ihr hin, in ihr gesprächsverflochtenes Gegenüber. Irgendwann trafen sich unsere Blicke, ich zwinkerte, sie ahmte meine Stellung nach, die des mit einem aufgeschlagenen Text Dastehenden, und so verstand ich sie gut. Sie hatte mich nicht stören wollen. Heißt wohl auch, es muß etwas ostentativ ausgesehen haben. Was es vielleicht auch war.
Wie viele Leute denn nun kommen würden, hatte ich Fulvio anfangs gefragt. Etwa vierzig Leute, sagte er. Er habe am Ende Nachzügler abwiegeln müssen, denn mehr Platz sei nicht verfügbar gewesen.
Es hatten sich die Leute mittlerweile angesammelt, und so ging es durch die Küche in den großen Raum (living room fällt mir ein) mit dem Flügel am anderen Ende. Ich wählte mir einen Platz auf der gepolsterten Sitzbank fast in der Ecke neben dem Kamin am entgegengesetzten Ende, in dem aber kein Feuer brannte. Vor mir Bänke, und davor Kissen auf dem Fußboden. Eine setzte mich neben mich, die mich gleich darüber informierte, daß sie nicht sicher gewesen sei, es zu schaffen, denn sie habe bei einer Olivenernte geholfen. Schon die Oliven? fragte ich. Alle, sagte sie, alle ernten jetzt Oliven. Es gab eine Zeit… und das Auge aufwerfen, der Bruchteil einer Sekunde einer “aufbegehrenden Aufmerksamkeit”, ein unausgesprochen Ich mir selbst gegenüber. Nein, kein “otra vez”.
Es füllte sich. Ein Klotz von Mann verbarg mir endgültig das Mikrophon, d.h. den Platz der Stimme. Aber das dauerte noch. Eine andere Bekannte kam, nannte meinen Namen, drückte mir die Hand und saß dann schräg rechts vor mir. Auf die Leute schauen. Reden und Nichtreden. Etwas weiter links ein zurückgelehnter Kopf und zwei geschlossene Augen. Oben an den Balken ein paar halbverborgene Spinnweben. Meine sind’s weniger.
Schließlich ging es nur noch darum, auf zwei Leute zu warten, die den Weg nicht gefunden hatten und per Handy dirigiert werden mußten.
Dann ging’s los.
Instrumental war nur das Klavier (links: Arturo), den zentralen und immanenten Teil hatte Ophelia mit ihrer Stimme, rechts die Maschinerie mit den >>>> Off(elia)-Klängen, die aus Geräuschen und dem, was außerhalb der Hamlet- und Ophelia-Sphäre gesprochen wird in der fünften bis siebten Szene von Hamlets Akt vier laut Librettist (hab’ es erst knapp zur Hälfte wiedergelesen, er, der Librettist, erfindet auch eigenes dazu). Auf Englisch zumal statt auf Italienisch wie im Libretto. Ophelia ergreifend, eigentlich perfektes Monologisieren, das in sich spricht und zuweilen die Stimme hebt, auch wenn sie oft nur murmelt. Zunächst sah ich sie nicht wegen des mächtigen Rückens vor mir, bis aus seinem linken Schulterblatt eine Hand in die Höhe fuhr. Da beugte ich mich dann doch öfter nach links. Die perfekte Darstellung einer Hilflosigkeit.
Sie rezitierte (es war kein Singen, sondern ein Auf- und Abschwellen der Stimme bis zum Stummsein) teils auf Italienisch, teils auf Englisch, ein paar erratische Brocken auf Französisch dazwischen. Die Off-Maschine rechts flocht ein Fädchen amerikanisches Englisch mit ein.
In der Mitte des Stücks eine Leere. Es gibt eine Art Telefongespräch mit der “Mama”: die typischen Antworten auf etwas, was man nicht hört am anderen Ende des Telefons. Eine Spieluhr wird vom Flügel genommen und aufgezogen, Arturo-Hamlet läßt sich am Klavier auf einige Töne ein, aber mehr auch nicht. Hamlet. Stille dann. Ich beuge mich nach links. Seh’ sie sprechen, aber nur für sich, stimmlos, die Lippen bewegen sich. Dann ein fortwährendes ‘Mama’. Ein weiteres Requisit eine Schreibmaschine (hatte Arturo schon mal eingesetzt, also eher ein runing gag seinerseits), schreibt irgendwas, verwirrt sich aber und besinnt sich erst am Ende, sich darauf zu besinnen, die Anschläge doch auch hören zu lassen. Ein Brief an die Mama. Wirft das Blatt fort, wie auch schon vorher verschiedene Blätter von ihrem Lesepult. Hamlet-Arturo tut’s ihr diesmal nach.
Nach dieser leeren Mitte intensiviert es sich wieder. Bis zum Schluß alles in einem riesigen Wasserrauschen untergeht und das Stück vorbei war. Im Zurückdenken an dieses fürchterliche Rauschen am Ende bin ich mir nicht sicher, ob sie da das richtige Ende gefunden haben.
Keine Ahnung, ob die “paar Zeilen”, um die mich hinterher Arturo bat (wörtlich: “m’aspetto due righe”), schreiben werde. Was mich störte, ist die leere Mitte und das Wasserrauschen. Der Rest hatte eine wunderbare Intensität. Wahrscheinlich ist dies heute ein dafür Vorgeschriebenes.
Hinterher Gratis-Biowein (der Höflichkeit halber ein halbes Glas). Mochte mich nach einigen Gesprächen und einem “Grazie” an die Stimme und an Arturo nicht weiter aufhalten. Mein Auto stand neben einem dicken Baum, den, geschäftshalber, ich, der’s schon während der Aufführung bemerkte, benutzte, es, das Geschäft, abzuwickeln.
Lag aber nicht an den abschließenden Wassergeräuschen, was naheliegend wäre in der Erinnerung an die Tauglichkeitsprüfung für die Bundeswehr damals, wo eine Offizierin sehr wohl wußte, wie man Urinproben bekommt, indem der Wasserhahn aufgedreht wird.
Außerdem fiel mir gestern dauernd das Wort Palimpsest und die Beatles-Bravour ‘Revolution n. 9’ ein, was ich jetzt aber nicht verlinke, weil es nur eine Assoziation war, und als Illustration, wie ich mich hinterher versicherte, nicht unbedingt taugte, obgleich kein Ohr in mir nach wie vor sich dagegen wehrt. Anzi.

III,339 <<<<

3 thoughts on “III, 340 – Er gesellt sich nicht und findet eine leere Mitte

  1. Leere Mitte@Lampe. Ihr Wortpaar bezieht sich aber n i c h t auf >>>> Robert HP Platzens Kurzoper, zu der ich das Libretto schrieb?

    “Sie nennen uns maschinoid Haben
    Recht Haben Begriffen Ich bin
    an Die Siebenhundertfünfzig gedockt
    An die Begriffe Ich kämpfe

    Lauscht.

    Fürs Unrecht zur Bekämpfung der lebenden Kräfte
    in splittersicheren Westen Unser Feind ****
    ist das Leben Mänaden Der Blutstrich
    Du gingst
    Du gingst Warst längst gegangen Da
    Ging ich Du gingst Maschinenopfer
    Leise schleicht das die Treppen herauf
    Acht Stockwerke Ein guter
    Blick Ich höre das Quietschen der Ledersohlen
    Nun stehn sie schon draußen vielleicht
    Den Lauf an der Schulter Den Finger
    Am Abzug auch sie Links und rechts
    Der Tür Warten An den Flossen des
    Bürgerparks wogen die Häuser Der Manta
    Wendet Schwimmt die Treppen herauf – “

    ANH, Leere Mitte:Lilith, 2005. Aus dem Libretto.

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