Zu Mantel & Teilung Martini. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, den 11 November 2017. – Und nachmittags ab 15.27 Uhr: Dankbar den „Amerikanern”. Mit Benedikt Erenz und Hannes Wader.


[Arbeitswohnung, 7.34 Uhr
Auf dem Vulkanlager schlafender Freund]

Die Gans wird überschätzt.
Thomas >>>> Erdelmeier


Dieser n i c h t so sehr heilige Thomas, geehrteste Freundin, mag recht haben. Also Erdelmeier. Dennoch ist die eine Ursprungsgeschichte des Martinessens, zu dem man nicht Martin, sondern die Gans ißt, ausgesprochen erwähnenswert. Eine solche nämlich habe, in Menge zumal, eine Messe gestört. Der watschelnde Trupp, >>>> so las ich soeben, sei schnatternd in den Kirchraum eingefallen, worauf man die Gänse verhaftet und, wie sich‛s für Lästrer gehört, dem Richtblock zugeführt habe. Da aber Tiere nun bekanntlich ohne Seele, seien die Leichen unbestattbar gewesen. Auch war‛s wohl draußen empfindlichst kalt und würde, den Winter nah vor der Tür, noch sehr viel empfindlicher werden. Da ist es gut, bißchen Fett anzusetzen. Ich meine, die wenigsten Hütten hatten schon Heizung. So fuhren die ohnedies nicht vorhandenen Seelen der Vögel zu Magen, statt in den Himmel zu fliegen. Immerhin waren’s genug, um es, wie Gänsen es auch ansteht, in Formation zu tun.
Aber auch die andere Ursprungsgeschichte, die >>>> der Mantelteilung, ist bemerkenswert, weil das Brauchtum eine Sachbeschädigung militärischen Eigentums allerzünftigst beschlemmt – ein so gesehen volksanarchischer Akt, der ohne auch ordentlich gefüllte Humpen nicht wirklich befriedigend abgehen kann, allein schon aus Gründen der Digestion. Da paßt denn der erst in jüngster Zeit hinzugekommen Starttag des Karnevals passend hinzu. Er läutet die, christlicher Überlieferung nach, bis Weihnacht reichende Fastenzeit ein, wobei der Gänseschmaus tatsächlich,, jedenfalls sehr viel wahrscheinlicher, auf den mittelalterlichen Zehnttag zurückgeht; die kirchliche Besatzung dieses für die frühen Landwirte ganz sicher wenig erfreulichen Tages, seine, könnte man sagen, kanonische Interpretation, sei erst eine Zutat aus dem Jahrhundert der Nationalbildung, mithin der anhebenden bürgerlichen Zeitalter. Woraus wir unschwer ersehen, daß die Christianisierung auch hier Hand in Hand mit der Bluttat geht, wenn auch in diesem – einem freilich seltenen Fall – allein gegen Gänse. Bei der Menschenfischerei aber blieb es; ihren einstweiligen Höhe-, nämlich Tiefstpunkt fand sie kaum ein knappes Jahrhundert danach. So hätt man‛s wohl besser beim Zehnten belassen.

Was alles so lernt, wer sich erkundigt! Denn, herrliche Freundin, das Laternelaufen unserer Kleinen, halt ebenfalls am Martinstag, geht wohl auf einen Heischebrauch zurück (sich etwas erheischen); die Nähe zu Samhain läßt einen Zusammenhang mit Erntedank und also, dies meine Formklammer, zum oben genannten Zehnttag vermuten: der Sommer ist gegangen, die Gänslein müssen hangen, die Sternlein hell und klar, was für den besonders Berliner November ganz gewiß nichts ist als der Ausdruck einer Hoffnung, die über den Winter – einen heutzutage hierzustadt komplett durchgezogenen ebenfalls-November – hinweghelfen soll, es damals aber unbedingt mußte. Um der nun die nötige Nahrung zu geben, schlug man sich den Wanst voll
Nunmehr den Wanst so gefüllt, darf ich aber nicht vergessen, das mit dem Martinsessen unbedingt verbundene Gänsegedicht aufzusagen; da dieses am Tisch hatten Kinder zu tun – und nicht etwa, um Phyllis Kiehls aus tierischer Allgemeinsicht schwer ungerechterweise >>> allein auf das Schaf fokussierte Zoologie etwas, verzeihen Sie, Freundin, die doppelte Lottung, ähm, Mopplung, entgegenzukontern –, will ich‛s auch im Kinderton halten:


‛ne Gans in einem Gänsechor
trat einmal rampengänsig vor
zu tröten statt zu schnattern
So wollt‛ sie Ruhm ergattern
Worauf all’ Säu’ im Stall, entsetzte,
quiekt‛ auf, bis sich ein Messer wetzte
an das sie Kopf und Kropf verlor.

*

Wir saßen bis spätnachts, der Freund und ich, über Gedichten, deren Übersetzung zu lektorieren war, doch hatten freilich erst einmal – nachdem mein >>>> Arco-Verleger gegangen war, bei dem eben diese Gedichte erscheinen sollen, weshalb auch er mit ihm ein enges Verhältnis hat – an dessen, des Verlegers, mitgebrachtem W e i n e weitergearbeitet. Er wär sonst schlechtgeworden oder er hätte Schimmel angesetzt, dieser tiefdunkle, für Haacker typisch gute, aber dummerweise auch schwere Tropfen; der Schimmel hätt ihn nicht leichter gemacht.
Jedenfalls setzte sich der Freund endlich an den Mitteltisch, ich mich an meinen Arbeitsplatz, um beide noch etwa zu tun, woraufhin aber Frage nach Frage mich bewog, mich gleich zu dem Freund hinzuzusetzen.
Um halb elf dann, also nachts, mußte mindestens noch gekocht werden, ihm wie mir hing der Magen auf halb eins. Wir aßen, dann lektorierten wir weiter. Irgendwann konnt‛ ich nicht mehr, ich las noch ein Béartgedicht vor, dann baute ich ihm das Vulkanlager, wie ich es früher für meinen Sohn so oft getan.
Sehr, sehr vertraut, daß jemand dort schlief.

Hoch um sechs, der Freund in tiefem Schnarchen. Nicht einmal das grelle, aus der kleinen Küche auf sein Gesicht fallende Licht vermochte ihn zu wecken, auch nicht der alleine mir vertraute Lärm der Kaffeemahlmaschine. (Meiner Nachbarin wegen habe ich immer ein kleines schlechtes Gewissen, wenn ich das Ding so frühe am Morgen losrasseln lasse).
Und an den ersten Arbeitsgang.

Ein Einfall dann gleich, weil eine Leserin mir von Tattoos geschrieben. Imgrunde eine >>>> Ecker– Idee, Sie wissen ja, meine Morgenlektüre. Jemand läßt sich ein Menschengesicht auf den Arm oder noch besser den Rücken tätowieren, das mit ihm altert: das ehemals strahlend glatte Gesicht bekommt allmählich tiefer und tiefer sich einschneidende Falten, das Tattoo verliert erst einen Zahn, dann schon zwei Zähne, dann dreie, sein Haar wird lichter und lichter… – Meine Leserin hatte sich nämlich gefragt, wie die Tattoos später aussehen würden, werde die Haut, was doch nicht ausbleibt, sich runzeln. Nun jà, habe ich geantwortet, ziemlich ernüchternd: auch ohne Tattoos werde sie nicht ihre Seide bewahren, da käm es auf jene nicht an. – Nur daß heute Ecker, also tatsächlich, eine Geschichte >>>> wieder aufnimmt, die ich am Dienstag gelesen habe, Kopf an Kopf mit Maria Furtwängler (ihr Duft, ihr Duft!). Es sind die je ersten beiden Sätze, die den Ort und den Umstand beschreiben, aus dem sie entstanden, vollkommen gleich, doch führen irritierenderweise in die Geschichte,>>>> die ich vorgestern las, als ich, proktologisch gesehen, noch nicht Astronaut war.
Kein Zweifel, derselbe Porzellanknauf. Nein, beste Freundin, ich täusche mich nicht. Nur findet sich die unheimliche Tür nun nicht in der Küche, sondern in dem Edinburgher Hotelzimmer, Sie wissen schon, nahe am >>>> Kirkyard. So daß auch Bobby wieder auftaucht, der treuselig Hund, der nun aber lebt – meine Güte, er l e b t! „und sah ihn”, also Christopher Ecker, „so erwartungsvoll an, wie es ein Mensch niemals tun könnte.”
Jetzt lautet freilich die Frage, wo Eckers Frau geblieben sei, die in der ersten Geschichte noch da war. Mag sein, daß eine spätre Erzählung Aufschluß darüber gibt. Es mag aber a u c h sein, daß wir uns nicht ganz zu Unrecht an >>>> die gestrige Geschichte erinnern. Doch dieses, Freundin, nur nebenbei und ausgesprochen vorsichtig, ja heimlich – im Stil eben Christopher Eckers – erwogen:


*

[10.15 Uhr]
Der Freund ist soeben gegangen – auf einen sehr schweren Weg, der seine Einsamkeit ganz sicher nicht entlasten, sondern einige kummervolle Zeit lang deutlich noch beschweren wird. Ich weiß genau, wie er sich fühlt, und bin, soweit in diesem Zusammenhang ein solches Wort erlaubt ist, „froh” darüber, daß wir abends im klugen Kreise andrer beisammen sein werden, dort, wo abermals Literatur im Zentrum stehen wird, freilich auch Pop, dessen, für den deutschsprachigen Kulturraum, wahrscheinlich >>>> wichtigster Interpetator unser Gastgeber ist. (Daß mein Link auf ein englischsprachiges Buch geht, sehe er mir als den ironischen Einwand des Popgegners nach. Ich mach es >>>> auch gleich wieder gut.)

Heute wie gestern fange ich mit der Contassa an; Thetis, wieder, folgt ab dem Mittag. Wobei mir grad peinlich zumute wird, weil ich, schönste Freundin, „schönste Freunden” nicht länger schreiben darf, denn es ist schon sexistisch. So las ich heute früh >>> bei Katja Thorwarth. In Ihrer, Freundin, Funktion als Briefempfängerin – etwas, um das Sie mich obendrein niemals gebeten haben, sondern sozusagen zwinge ich es Ihnen auf – als „schön” bezeichnet zu werden, obwohl dies für Ihre Funktion gar nicht notwendig ist, ist gerade als Kompliment, das es ist, sogar ein ganz besonders abgefeimter Sexismus. Ach bitte, sehen Sie mir ihn nach – oder wie‛s bei Mozart heißt, und da Ponte:

Perdono, Perdono! Contessa, perdono!
(wobei nicht „meine” Contessa gemeint ist).

Ihr
Ihre Schönheit und Eleganz preisender
und aber zugleich, unglaubwürdigerweise, ich weiß,
Ihren Geist >>> admirarender

Il Sessista


_________
[15.27 Uhr]

Extrem wichtiger Artikel von >>>> Benedikt Erenz auf ZEIT.online zur deutschen Demokratiegeschichte. Ach, möchten die Menschen doch hören! Aber Vergessenheit paßt zu gut ins Konzept der „freien” Marktwirtschaft und ihrem Begehr nach Wurzellosig-/Geschichtslosigkeit, Vergessenheit schmiert den Betrieb – das „schmieren” in b e i d e n seiner Bedeutungen verstanden.

Doch, Freundin, sei es! Ich rufe, mit Wader, “Trotz alledem!” weiter:


2 thoughts on “Zu Mantel & Teilung Martini. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, den 11 November 2017. – Und nachmittags ab 15.27 Uhr: Dankbar den „Amerikanern”. Mit Benedikt Erenz und Hannes Wader.

  1. Ich vergaß. Es ist ein running gag fast schon und hier auch wirklich nur nebenbei erzählt, einfach damit das Protokoll stimmt:

    Abermals Ablehnung durch den Deutschen Literaturfonds, die vielleicht zehnte – oder schon elfte? – in Folge. Da bin ich‛s sogar müd, einmal nachzusehen, wer bedacht worden ist und von wem. Ich bewerbe mich um Arbeitsstipendien ohnedies nur noch aus so, sagen wir, sportlichen Gründen, daß ich fast schon etwas von einem Ironiker habe. Aber wahrscheinlich erreichen meine Bewerbungen sowieso nie die gesamte Jury, sondern werden mit spitzen Fingern aus der Post gezogen und in die Vorauswahlmappe des mir am meisten Bösen gelegt.
    Schlimmfingrig hatt ich’s mal wieder mit Lyrik, ich Schlimmer, versucht.

    Abhaken, weiter.

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