[Arbeitswohnung, 9.43 Uhr
(Die „Sondersitiuation”, die eben auch das späte
Aufstehen, erklärt wie begründet, habe ich ins
>>>> DTs geschrieben)]
Tränen, Freundin,
viele Tränen gestern, Kindertränen – Kinderwut aber auch, der Zwillingsbuben, der die Ärztin anschrie: „Sie Mörderin! Und lassen sich für den Mord noch bezahlen..!” Womit er aus der Praxis stürmte und sämtliche Türen schlug. Nur daß er a u c h noch rief: „Gebt mir doch auch eine Spritze!”
Das Zwillingsmädchen war in ihren Tränen gefaßter, in denen es schwamm. Rief mich frühmittags nassen gebrochenen Stimmchens an: „Kannst du bitte kommen?” Die Mama war mit dem Bruder zu einem Elterngespräch in die Schule geladen.
Morgens hatte Bruno in seinem Hauserl gelegen und war nicht vorgekommen. Als das Mädchen ihn herausholte und ganz vorne vor die Tür legte, rührte er sich nicht. Sein Bruder, Flecki, starrte ihn mal an, mal lief er hektisch hin und her.
Die Ärztin sah keine Möglichkeit, hatte das Tier, das nicht aß und nicht trank, über den ganzen Vormittag in einem Wärmezelt. Die Zwillinge waren gleich nach der Schule noch einmal hingeeilt, da konnte die Ärztin noch nichts sagen. Dann rief sie an.
„Flecki hat nicht einmal mehr Abschied nehmen können, er hätte doch wenigstens dabeisein müssen!” So der Junge wieder, bevor er auch daheim aus dem Zimmer stürzte und Türen schlug. „Ich bin schuld, ich bin schuld!”
Es brauchte Ruhe, geduldiges Sprechen auch über das, was der Tod sei, um ihn leidlich zu formen, wieder – vor allem darüber, was es bedeute zu trauern.
Die Mama stumm, immer wieder liefen ihr die Tränen. Da ging das trauernde Mädchen zu ihr, umfaßt ihre Hüften und – tröstete. Ein unglaubliches Bild: daß wir Linderung finden, wenn wir sie einer anderen, einem anderen geben.
Wenn ein Haustier stirbt. Wenn von den Kindern, um es psychoanalytisch zu sagen, ein Übergangsobjekt hinfortgeht. Wohin geht es? Und die uralte Frage, was ist die Seele.
Heute nachmittag werden wir das kleine Tier beerdigen, im Hinterhof unter dem Baum, in den vor zwei Wochen der Blitz fuhr. Er hat sich gespalten in einen, der noch steht, und einen, der jetzt wie ein Dach quer über dem gesamten Areal liegt, aber lebt, weiterlebt: ein neues Zuhause für Hunderte Spatzen, die sich fast sogleich eingefunden haben. Sie können jetzt von den Fenstern der einen Wohnung schräg hinüber zu denen der andere spazieren. Wobei, wenn sie nicht flattern, hüpfen sie mehr: kleine knappe Sprünge, jeder ein Schritt.
Unter dem Baum ruhen bereits eine Eidechse, ein Skink und noch eine Eidechse. Sie alle haben auf dem kleinen Balkon der Wohnung gelebt, die auch den Meerschweinchen Heim war. Flecki wird einen neuen Gefährten bekommen, „doch”, sagte ich zu dem Buben, „laß auch ihm die Trauerzeit.”
Er trauerte tatsächlich, ich hätte das nicht geglaubt, suchte die Nähe der Menschen, barg seinen Kopf an ihrem Bauch und… anders kann ich es nicht ausdrücken, weinpiepste unentwegt. Anders als uns sind ihm, das Leid aus den Augen zu spülen, keine Tränen.
Erst las ich Manfred Hausmann vor:
noch so lange niedersieht,
das Geheimste sieht er nicht,
das in dir geschieht.
Später, nach vielen vielen weiteren seiner Gedichte und nach >>>> meiner Erzählung über unsere Begegnung – des schon sehr alten Dichters und meine , der da noch gar keiner war – las ich aus >>>> Der Engel Ordnungen:
Dieses, Freundin, mochte ich Ihnen, nachdem ich anfangs vom Traurigsein schrieb, endlich ganz ebenso schreiben
und endlich unendlich nimmt Sie in den Arm, Freundin, Ersehnte, Sie Fernesoferne… – :
ANH