„Schnepfe!“ und trotzdem zur Messe! Das Arbeitsjournal des Freitags, den 16. März 2018. Auch Europa, nämlich in der Staatsoper Unter den Linden zur Jahrespressezusammenkunft.

[ICE 701 Südkreuz-Bitterfeld, 8.49 Uhr
Von dort weiter mit der Sbahn bis Leipzig Messe]

Um kurz vor fünf hoch. Viel Zeit für die Morgenarbeit war nicht, eigentlich keine; nur eben geschaut, ob es Kommentare gab, eine beruhigende Nachricht meiner Lektorin gelesen, gleich zurückgeschrieben, Rasur, Dusche, Anzug, anderthalb Latte macchiati.
Auf der RingS Katharina Schultens Untoten Schwan weiter- und zuendegelesen, mitten drin neu angesetzt, Leitmotive notiert, der Band ist deutlich Komposition, nicht Sammlung; in die einzelnen Versstrukturen gegangen: teils fast lehrbuchhaft Pound, doch nur, schaut wer genau: Assonanzen auffällig konsonantisch. Daher rührt einige Kraft. (Notieren: für den Aufsatz, den ich gestern begann, plötzlich floß es, sucht nicht sein Thema, sondern strömt ihm breit zu. Zum Anlaß war mir dieses Gespräch, daß Bernd Leukert mit Michael Braun geführt hat, dem – betont für seine Lyrikkritiken – diesjährigen Träger des Alfred-Kerr-Preises).
Ich versuche, seinen Einlassungen etwas entgegenzusetzen; wird kaum wer rezipieren, aber egal. „Deine Rolle als Außenseiter wirst du behalten dein Leben lang; es ist die schlechteste nicht“, sprach Phyllis Kiehl gestern ins Bildtelefon, als wir uns über meinen Ausfall von vorgestern besprachen; sie wünschte sich, es flippten wieder mehr Leute aus, setzte sie hinzu. Und: „Komisch, außer dem gibt es für Frauen gar keine harten Schimpfwörter, keine, die wirklich Wut ausdrücken können.“ – Auch ich dachte nach. Was sagt man(n)? Schnepfe, Blödes Huhn, Blöde Kuh? „Niemand“, so Kiehl, „würde eine Frau mit ‘Sie Arschloch!’ betiteln oder ‘mieses Arschloch!’… „Imgrunde sind sämtliche Schimpfnamen für Frauen Verniedlichungen“, fiel mir auf, „oder sie haben etwas Komisches, wie wenn man zu einem Mann ‘blöder Ochse’ sagte.“ Ich dachte noch: wenn d a s doch jemand kommentierte. Aber in der Neuen Dschungel halten sich die Leser:innen insgesamt eher mit Kommentaren zurück. Das ist auffällig.

Der Zug ist, wie zu erwarten war, sehr voll. Die etwas späteren Züge waren sogar ausgebucht, und es ist nicht ganz klar, wie ich heute abend zurückkommen werde. Denn die Abendzüge nach Berlin ließen sich erst gar nicht buchen.
Ich habe gedacht, da Zimmer zur Messe erstens nicht mehr zu bekommen, zweitens aber zum Aufschreien teuer sind, daß ich heute und morgen pendle; läuft auf fünfzig Euro hinaus – deutlich weniger, als mich ein Zimmer kosten würde. Etwas umständlich halt. Aber vielleicht ergibt sich direkt auf der Messe eine Schlafmöglichkeit. Was wissen wir, wem wir begegnen?

Elfenbein wird heute mittag der Kurt-Wolff-Preis verliehen; ich will selbstverständlich dabei sein. Bei >>>> mare werde ich einkehren, klar, und mit >>>> Septime ist wegen des in genau einem Jahr erscheinenden Erzählbandes ein wichtiges Gespräch zu führen. Rotwein, guter, gewiß, bei der >>>> Arno-Schmidt-Stiftung; also nicht vor spätem Nachmittag hingehn. Und zu >>>> Wieser für dort geschnittenen Schinken. Wohl in Begleitung meines >>>> Arco-Verlegers, der seit gestern schon in Leipzig ist, aber eben, als ich ihn anrief, noch schlief: Jedenfalls raunte er es ins Telefon. Leider hat er in Leipzig keinen Stand.

*

Voll war’s auf der Presse„konferenz“ der Staatsoper Unter den Linden. Gestern mittag war ich ja dort. Ich will getrennt darüber berichten, es eilt nicht. Deutlich Barenboims dezidiertes Europa, das er als Kulturraum verstanden wissen will, so wichtig der Euro immer auch sei. Und pfiffig setzt er griechische Kompositionen ins Zentrum seiner Konzerte, der Opern allerdings auch: Sujets der Antike bis zur Moderne. Eine Kritikerin fragte, ob er jetzt seinen Fokus von Nahost auf Europa „verschoben“ habe. Da wollte ich mich melden und der Dame erzählen, daß es ohne Nahost ein aufgeklärtes Abendland niemals, nämlich keine Renaissance gegeben hätte. Von wem seien denn „die Griechen“ auf uns überkommen? Gewiß nicht aus mittelalter-christlicher Tradition. Da seien die Schriften nämlich nicht nur vergessen, nein verboten gewesen und wären in den Buchverbrennflammen für alle Zeit vernichtet geblieben, hätten nicht arabische Gelehrte sie in ihre eigenen Sprachen übersetzt und aus ihnen gelernt wie gelehrt und sie – an uns, müssen wir sagen, zurückvererbt. Wer also von Europa, gar Abendland spreche und es ernst meine, meine Nahost immer mit.

Doch eine andere Wortmeldung war vor mir und, nachdem sie beantwortet war, der Faden verloren, es sei denn, ich hätte vor der Versammlung einen Showtanz vollführt. Nee, ich blieb still, ging auch gleich, nachdem der offizielle Teil beendet war. Wie oben geschrieben, Freundin, will ich noch getrennt von der Versammlung, über den neuen Intendanten, von dem Programmkonzept erzählen. Aber dies wohl nicht vor dem Montag; vorher muß ich den Schultensaufsatz abgegeben und werde gewiß von der Messe auch noch erzählt haben.

So, Freundin, unterdessen sitze ich in der S2 von Bitterfeld nach Leipzig Messe, die ersten Schimpfereien gingen los: „Wieso setzen die nur drei Waggons ein, die Sachsen?“ Mit Ausrufezeichen, dem flaterig ein weiteres folgte, das sich aus der Traube vor der Zugtür erhob: „Das war das letzte Jahr schon so!“ „Die haben doch einen Knall!“

Dabei gab es drinen, und gibt’s noch immer, freie Sitze. – Viele Menschen grauen Gesichts, Mundwinkel abwärts, strafenden, gleichsam, Selbstschlafentzugs.Immerhin, meine beiden Sitznachbarinnen scherzen und lachen, die jüngere eine Kinder-, bzw. Jugendbuchautorin, die ihren eigenen Roman schmunzelnd liest. Sympathisch. Ihre Freundin lacht durch die Schuhsohlen.

Draußen schneit’s mal wieder, doch dürr. Die verstreuten Höfe bis zu den Knien in Nebel.

[:9.03 Uhr
Leipziger Messe, 9.48 Uhr:]

ANH

3 thoughts on “„Schnepfe!“ und trotzdem zur Messe! Das Arbeitsjournal des Freitags, den 16. März 2018. Auch Europa, nämlich in der Staatsoper Unter den Linden zur Jahrespressezusammenkunft.

  1. Die meisten gegenüber Frauen angewandten Schimpfwörter sind entweder degradierend-sexuell, oder sie haben etwas mit Schlangen zu tun.
    Natter.
    Giftspritze.
    (Adam und Eva, Schlange, Versuchung…)

    (Ich denke übrigens nicht, dass Leute mehr ausflippen sollten, möchte das noch einmal anders formulieren: Ich mag Auseinandersetzungen, würdige Temperament, manchmal auch aufbrausendes, verabscheue aber Einschüchterungstricks. Würde mich jemand öffentlich “Votze” nennen, spränge ich ihm ins Gesicht und schlüge zu. Blindlings. So schnell könnte der gar nicht gucken.)

  2. “Kurt-Wolff-Preis verlieren” – scheint eine freudsche Fehlleistung zu sein.

    Bedankt aber für den notwendigen Hinweis auf die Leistungen der Araber, ohne die die Griechen nicht auf uns gekommen wären.

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