[ICE 1526 Leipzig-Berlin, 10.51 Uhr]
Er hatte ja gestern schon begonnen, aber mit einem Mal setzte der schwere Schneefall ein; abends stapften Cristofero Arco und ich dann schon durch die Schütten, als wir in die Connewitzsche wollten, wo Elfenbein den Verlagsabend hatte, zusammen mit der Förderpreisträgerin, der edition Rugerup, und danach, zum Nachtempfang Heiderose Hellmers und Joachim Kalkas, des Übersetzers, wühlten wir uns durch quasi kniehohe Wehen – eine durchaus phantastische Situation, nicht nur, weil niemand mit solchem Winter mehr gerechnet hatte.
Da es gestern bis fast halb vier Uhr in der Nacht ging, zuletzt rieselte Melissengeist zu den Flocken draußen synchron, wenn auch nicht in selber Menge, sonst wären wir heut tot…
]WEGBRUCH[
[Sonntag, der 18. März 2018
Arbeitswohnung, 5.10 Uhr
Gofredo Petrassi, Invenzione concertata]
…“sonst wären wir heute tot…“: Da mußte ich gestern abbrechen, eng im Bordbistro stehend (und weiter- und weiterstehend; es hörte zu schneien draußen nicht auf), den Laptop auf dem schmalovalen Stehtisch, so daß er seinen Kopf, ich möchte „seine Haube“, schreiben, an die Airbookhaube einer hübschen jungen Frau legte, die in eben der Ecke kauerte, die später ich einnahm, nachdem sie, jene also, aufgegeben hatte und wieder ausgestiegen war.
Für kurzes kann auch ein Zenbook den Charakter eines Übergangsobjektes annehmen, das an meiner Statt Berührung genießt – um so mehr, als vortags auf der Messe Mariclaire gewesen und | wie sie fragte, ob sie sich „in mich“ einhaken dürfe: Wie körperlich das Übergangsobjekt, so kann es auch Sätze der unvermuteten Seeleninnigkeiten geben, die uns im Wortsinn plötzlich zuteil werden und einen Möglichkeitenraum eröffnen, von dem man(n) schon gar nicht mehr glaubte, daß es ihn noch gebe. Es war eine in mehrfachem Sinn, vor allem höchst sinnliche Irrealität. Denn tatsächlich spazierte ich nun auch mit Charlotte Rampling durch die Gänge, die die Schärfe ihres Geistes in ihren Filmen stets bewiesen: wie je nur Romy Schneider vermittels beinah alleine des Gesichts. Und Mariclaire hatte sich bei ihrem Verlag aber wieder von mir getrennt.
Später fand ich eine Email von ihr vor, in der sie eben anders reagierte, als es einst Lena Ponce getan, ihren, also deren, Heitor Ponce vor sich selbst und diesen beiden schützend, und ihr, schrieb sie, glückliches Leben. Sie sah sofort die mögliche Tragik, die von der Argentinierin aber gesucht war: europäische, nicht südamerikanische Frau (wohl auch Spanierin nicht).
Das meinen Sie, Freundin, nicht ernst, daß ich zu hermetisch erzählte, nicht wahr? Sie verstehen, ich bin mir des sicher. Und mache die Erfahrung, daß es gut sei, wenn wir verschieben müssen, Verschiednes, Verschiedene verschieben zu können, weil es die Sublimierung verteilt, auf hier ein Häppchen, eines dort, und die Sehnsucht darf sich noch regen, ist nicht gesperrt ins Immereinzige, das kaum mehr atmen läßt.
Nun stellt die Frau mir geschriebene Fragen, von denen ich nicht wirklich weiß, ob die Antworten privat oder öffentlich zu geben; öffentlich, weil sie selber poetische Erzählung nicht sind, aber wären, also werden könnten. Das verschießt ein Dichter nicht. (Die privaten Fragen, die sie selbst, Mariclaire, betreffen, gehören ins Öffentliche freilich nicht; so wäre auch hier eine Teilung vorzunehmen, für die neu ist, daß sie, die Frau, sich ihren Namen selbst gegeben, den Kunstnamen meine ich – womit sie sich weniger geschickt, obwohl auch das, als sehr viel eher tänzerisch meiner Bestimmung ent- und sich selbst aus der Schlinge ihrer und meiner Begehrnisse zog. Die jetzt, also meine, sich in die Haube meines Zenbooks bargen, das der Haube des Airbooks, gleich Täubchenkopf an Taubeninnenköpfchen, jener zuerstattete, was der andren gehörte. Ich meine ‚Übergangsobjekt‘ auch in diesem Sinn. Durchaus möglich, daß die junge Dame in ihrer ICE-Ecke es, ohne es rational zu verstehen, verstand und ihren Versuch, nach Berlin zu gelangen, eben deshalb aufgab. Sie stieg, in Leipzig bleibend, also wieder aus. Da haben wir schon die nächste Erzählung: Wir müssen in die Geschehen nur immer hinein., dann falten sie sich wie die Unendlichkeiten auf, deretwegen Achill niemals die Schildkröte einholen kann.)
Poetische Verhältnisse, ohne Verhängnis zu werden: auch dieses also gibt’s. Bei der Sídhe war und bin ich nach wie vor nicht bereit, es so gehen zu lassen; hier aber schon. Woraus sich eine große Freiheit ergibt.
Ich bekam sie bereits vorabends bei Joachim Kalka zu spüren. Anfangs war ich zögerlich gewesen, ob den Freund zu der Einladung, die mir doch gar nicht mitgalt, zu begleiten. Der mächtige Schnee machte es mir interessanterweise leichter, weil seine Märchenhaftigkeit aufzuheben schien, was mich sonst sehr bedrückt und in solchen Gesellschaften schnell distanziert, wenn nicht arrogant wirken läßt, sowie ich Ablehnung auch nur ahne oder zu ahnen vermeine. Sicher, es waren dort einige versammelt, die wichtig genug, mich auszugrenzen und das auch gerne taten und weiterhin tun. Doch Kalka und seine Frau sogen es gleichsam weg, empfingen voll Herzlichkeit und, ja, einer Achtung – „Ich habe sowieso schon gedacht, daß ich Ihnen unbedingt schreiben müsse“: Er bezog sich auf Schulzes und meine Joyce-Nachdichtungen – , die alle übrigen Distanzen wegschmilzen ließen, oder sagen wir, sie wurden vom Schnee aufgesogen, der draußen fiel und fiel und so sehr weiterfiel, daß selbst Distanzierteste plötzlich im Gespräch mit mir standen, sogar dem Wunsch Ausdruck verliehen, mich nächstentags wiederzusehen, Theresia Pramer etwa, mit der ich dort eine kleine Auseinandersetzung gehabt. Zu Thomas Sparr freilich fand sich die Brücke nicht und wird sich wohl nie finden, indessen der klug-ironisch sanfte Norbert Wehr, Herausgeber des von allen Anwesenden verehrten Schreibhefts, einfach nur – dabei umspielte ein Lächeln die Lippen dieses ausgesprochen schönen Mannes – zusah, wie plötzlicher einer mitten in der Ingroup stand, der in sie nicht hineingehörte. Es eignet seiner, Wehrs, Dezenz, daß wir miteinander allenfalls zwei Sätze wechselten. Wir kommunizierten mit Blicken, die wußten.
Schon zog mich Kalka ins Raucherzimmer. Es war – „wie“ oder nicht „wie“ – ein Ritterschlag, von dem Michael Braun freilich recht hat, daß er nicht halte; und dennoch hat er Bestand. Wir waren dann sogar die letzten, Cristofero Arco und ich, bei Kalka und Hellmer noch auszuharren, des Taxis allerdings wegen, das nicht kommen wollte oder es, des Schneefalls wegen, nicht konnte. (Tatsächlich stellte der Leipziger Taxiverkehr nächstmorgens alle Fahrten ein). Gegen vier waren wir dann endlich in unserer Unterkunft, schliefen auf der Matratze nebeneinander, ich sofort weg: Mein spontanes Einschlafenkönnen war stets ein Ausdruck meines Gesundens, Gesundseins, Gesundwiederwerdens.
Morgens dann, Frau Pramer hin, Frau Pramer her, mochte ich nicht mehr auf die Messe zurück, brachte noch den Gastgebern des Abends und der Nacht zwei Eintrittskarten für die Messe vorbei – lustig war’s, schneite noch immer, nix oder weniges fuhr, schon da schlug ich mich, völlig falsch beschuht und also bald eisig schmerzender Zehen, durch, zog die Luft zwischen die Zähne, den Hut gegen die Schneebö’n gesenkt, auch der Mantel war viel zu leicht, dabei hatte ich doch gedacht, den Pelzmantel weghängen zu können – aber es war einfach irre insgesamt, gut irre, dazu die Blicke Mariclaires, nicht zuletzt ihre Blicke, im Herzen, das bekanntlich im Hirn sitzt, und auch den kurzen Flirt bei der ersten Begegnung mit Ekaterine Togonidze, der aber sprachhalber unverbindlich und so auch blieb, als ich sie am nun kommenden Abend, gestern mithin, in der Tucholsky-Buchhandlung wiedersah, wo sie aus ihrem Roman Einsame Schwestern las, der mich dann doch recht beeindruckt – so sehr, daß ich darüber schreiben will; eine „normale“ Rezension aber, keine poetische Untersuchung, die für mein ästhetisches Denken von Bedeutung wäre. Nur ist das Wagnis ihres Plots allen Grunds genug.
Einer poetischen Frage freilich, die ich in der Buchhandlung stellte, wich sie objektivierend aus, und die Sprachbarriere erlaubt auch später nicht Vertiefung, „thanks für your interesting comments and questions“ hat sie mir nachher ins Buch geschrieben – eine Floskel mithin, die ich lieber auf Georgisch und also in georgischen Lettern drinstehen hätte, so daß ich sie nicht verstehen müßte. Ich bin eh kein Freund von Signaturen; Togonidze wollte, daß ich meinen Namen buchstabierte, was ich ihr immerhin verwehrte. Es gibt kaum etwas Peinlicheres, als ein „für Michael“, ohne daß der wirklich gemeint ist.
Allerdings gebe ich zu, daß ich abends – doch ziemlich erschöpft von Vorabend, Nacht, Schnee und Rückfahrt – mich zu der Buchhandlung allein noch aufgemacht, weil diese Frau sehr schön ist; andernfalls hätte ich „nur“ gelesen.
Um meinen Gegnern nochmal Futter zu geben: Ich kann die Dichtung von nicht-schönen Frauen sehr wohl schätzen, sogar bewundern und mit fast allem, was ich bin, für sie einstehn, auch nachhaltig und heftig; aber sehen muß ich diese Frauen nicht, möcht ich auch gar nicht. Es würde mich ablenken und meine Fantasie fesseln, die vom Anblick schöner Frauen erregt wird. Das bedeutet wiederum nicht, daß ich schöner Frauen Literatur bevorteilt wahrnehme; ist sie schlecht (nach meinen Kriterien), werde ich sogar ärgerlich – eine Gefahr, der (ebenfalls nach meinen Kriterien) nicht-schöne Frauen gar nicht erst ausgesetzt sind.
Man, vor allem wenn mit zwei „n“, darf sowas natürlich nicht schreiben. Unterdessen dürfen wir nicht schreiben, was ist, sondern sollen schreiben, was sein sollte; auch dies ist ein Teilsieg der „alternativen Wahrheiten“. – Interessant zum Beispiel ein Bonmot, „malmots“ gibt’s nicht, Mariclaires, das mich derart beeindruckte, daß ich’s in Kalkas Kreis zitierte, und das unmittelbar Unmut hervorrief:
Heutzutage sind alle Frauen Opfer, aber Männer solche Lappen, daß wir die Täter importieren müssen.
Deftiger Satz, in der Tat. Er bringt zusammen, was zusammengebracht nicht werden darf. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob er wahr ist. Seine Schärfe ist interessant. Eine grandiose Rhetorik, jedes Aphoristikers würdig, will sagen: Im Zweifel für die Formulierung. Sein Kristallines bringt ins Wanken. Sie können, Freundin, mit allem Recht sagen: Er hat mich aufgespießt wie seinerzeit der erste Satz der Sídhe, hat mich auf eine kleine Tafel gepinnt, die Nadel durch den Chitinpanzer meiner Männlichkeit gestochen. Nur daß ich halt noch lebe, so daß ich diese Art von Tod genoß. Der ich dann meine Nadeln zeigte: Kampf, nicht Krieg, Ernst Bloch, und ecco! Geschlechtskampf – zu beider Vorteil, ja enormem leiblich-seelischen Gewinn.
Und alles das in Sekunden, allenfalls Minuten. Komplett amoralisch, ja. „Sexualität ist kein Spaziergang im Grünen“, Camille Paglia.
Doch zur Messe zurück. Wie bewegend war die Übergabe des Kurt-Wolff-Preises an Ingo Držečnik, Elfenbein, wie bewegend auch seine Danksagung an seinen Partner Roman Pliske, den Mitgründer und noch immer – wiewohl längst Leiter des Mitteldeutschen Verlages – vertrautesten Partner! Wie bewegend aber auch Stefan Weidles kluge poetologische Laudatio, und wie auch die Dankesrede der Förderpreisträgerin Margitt Lehbert, der Editorin von Rugerup! All meine sympathisierendste Achtung auch ihr, und mitfeiernd all die Kollegen, übrigens nicht nur der „kleinen“ Verleger. Ich sah auch Thomas Sparr, also Suhrkamp.
Seltsam, nur ein einziger Messetag für mich, und dennoch war’s eine g r o ß e Messe. Ich sollte mir das für Frankfurt merken. Allerdings hat mir Freund Wieser den Schinken verweigert. Mit einer Begründung, die, wie witzig auch immer gemeint, in mir haften geblieben: Ich hätte über Lissabon geschrieben, ohne seiner, Wiesers, von mir doch immer beworbener Europareihe Erwähnung zu tun. Er meinte, ich konnt es gar nicht fassen, das Traumschiff. Hätt ich Herrn Lanmeister ein Buch auf die letzte Reise mitgeben sollen, in dem er, der nur noch innerlich spricht, von Zeit zu Zeit dann liest? Und wenn er das Sterbebuch meinte, wie konnte er auch nur scherzhaft ein Buchprogramm, und sei’s das eigene, dem S t e r b e n zur Seite stellen wollen, als käm es wem, der Spatzen sieht, auf so etwas noch an?
Manch Weg der Eitelkeit ist grau, und mancher klebt uns Tage noch später unter den Sohlen. Dann ist das Spiel verlassen. Lesen Sie, Freundin, ihn in beiderlei Sinn, diesen letzten kurzen Satz
mit dem ich heute schließen möchte.
Der übrige Tag ist meinem Aufsatz über Katharina Schultens Gedichte gewidmet. Mein Essay muß fertig sein bis morgen in der Frühe.
Herzlich und herzerlnd,
ANH, 8.45 Uhr