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In einem großen Vortrag über die strauß/hofmannsthalsche Elektra bemerkte Ernst Bloch an deren und Orests großer Erkennungsszene, daß alles Erkennen ein Wiedererkennen sei. Diese Auffassung reicht bis in die biblische, bzw. Sprache der Thora zurück, wenn sie den Beischlaf meint, etwa 1 Mose 4,1: Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger.
Einmal ganz abgesehen davon, daß bereits hier Erkenntnis kirchenfremd-untrennbar mit Eros verbunden, ja dieser geradezu zu ihrer Voraussetzung wird, spielt das wie auch immer unbewußt bereits Bekannte, aber, sagen wir, Verdrängte, zumindest Vergessene die Rolle des Wiederentdeckten, aus welchem Prozeß sich eine Evidenz ergibt, die alle Liebenden kennen, wenn sie „zum ersten Mal“ dem und der dann Geliebten gleichsam plötzlich gegenüberstehen. Sie wissen sofort. Und s o f o r t ist die Vertrautheit da, deretwegen es zum Glück kommt, einer Überschüttung von Glück durch eben dieses sofortige einander Verstehen. Es ist, als wäre man schon immer mit der/dem anderen beisammen gewesen.
Mithin ist alles Verstehen Wiedererkennen.
Ist nicht aber genau dieses das, was wir auch bei großen Gedichten, überhaupt in der Begegnung mit gelungener, bzw. gelingender Kunst erleben? Will sagen, es muß in ihr etwas sein, das wir zuvor schon kannten. Es muß sich auf irgendeine Weise etabliert, in die Seelen der Rezipienten gesunken drin festgesetzt haben, um erkannt überhaupt erst zu werden.
Was da geschieht, ist eben nicht abstrakt, sondern eine Empfindung, die möglich wurde, nachdem eine Formsprache sich gleichsam verstoffwechselt hat. Daher oft die Spannen, die es braucht, bis neue Kunstformen als solche erkannt werden können. Daher gelten uns Heutigen Beethovens späte Streichquartette nicht mehr als „mißlungene Musik“, wie wir es noch vor sechzig Jahren in führenden Musiklexika lesen konnten. Daher wird „plötzlich“, nachdem er Jahrzehnte verpönt, Heinrich von Kleist zum Gipfel der Novellenkunst. Daher versteht „man“ mit einem Mal Hölderlin, den zur Lebzeit gleichfalls fast durchweg ignorierten. Wir „erkennen“ solche Künstlerinnen und Künstler erst spät, weil wir sie erst spät auch wiedererkennen können. Nun erst verstehen wir sie.
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