[Jüdisches Krankenhaus Berlin
Haus B, St.3, Aufenthaltsraum, 5.52 Uhr]
Sehr schön – hingegen hier, wegen der schlierigen Spiegelung auf dem Bild, nur einigermaßen – ist eines der alten, diskret sanierten Gebäude zu erkennen. Ich habe mein Vierbettzimmer bereits verlassen, hätte die Mitpatienten doch sehr gestört, wenn ich auf meinem Lager liegend jetzt schon tippte – zumal die Nacht, eines heftigen Schnarchers wegen, für alle außer ihm nicht sehr ruhig war. Ein vornehmer, distinguierter Herr, der wenig spricht, bat die Nachtschwester um Verlegung in einen anderen Raum, ein, wie nachvollziehbar auch immer, Wunsch, den sie ihm nicht erfüllen konnte. Nun war ich meinerseits schlaflos, bat sie leise zu mir: “Aber Oropax werden Sie vielleicht haben.”
Hatte sie. Brachte sie, für jeden von uns eine Zweierpackung. – So schlief er denn tatsächlich ein, indessen ich mit den Stöpseln noch wartete. Ich brauche immer die Geräusche des Draußen, kann ja nicht einmal bei geschlossenem Fenster schlafen. Nie. Nun hatte die Nachtschwester den Schnarchenden auch kurz geweckt und ihn gebeten, sich auf die Seite zu legen, was er auch “brav” getan hatte – und höre da! die Schnarcherei hörte auf. Also schlief auch ich ein, war dann aber bereits um halb fünf mit dem Tageslicht wach.
Woher jetzt den Kaffee nehmen? Und eine Dampfe wär fein.
Der Mann gegenüber war ebenfalls erwacht, ein “einfacher” Mann, der Land zu bestellen hat. Klar ist der wie ich um halb fünf wach.
Er redet gern, hatte gestern gleich, da ich einfuhr, auf mich einzusprechen begonnen – leider, indem er sich, wenn auch vorsichtig, beschwerte, daß der andere (der vornehme Herr kam erst später) nur “polnisch” spreche. Er lag dann, dieser Andere, von mindestens acht Familienmitgliedern umgeben und umtüdelt und mit Tüten voller Lebensmittel, besonders Früchten, versorgt, bis in den Abend hinein, wobei sein Polnisch tatsächlich türkisch war und ist. Wiederum der vom Schnarcher eben dieses “Polen” gequälte vornehme Herr heute früh, bevor er weiterschlief, bevor ich aufstand, bevor auch der Landmann aufstand, sich erhob – ich mochte nicht stören, tat, als schliefe ich weiter -, sich neben das Bett stellte – so daß ich erfuhr, wo Osten ist, nämlich Mekka liegt, in dessen Richtung er sich verbeugte, murmelnd, mehrmals. Dann kniete er zu Boden, kniete in dem engen Streifen zwischen seinem Bett und den hölzernen Spinds, berührte mehrmals (fünfmal?) mit der Stirn den Boden. Innig, ganz für sich, nein, mit sich und seinem Gott. – Danach legte er sich wieder zu Bett und schlief auch, beschützt von diesem mit nunmehriger Ruhe, wieder ein.
Das Jüdische Krankenhaus zu Berlin, mitten im Wedding, mitten in der islamischen, vor allem türkischen Diaspora. Alle Menschen werden behandelt wie Eingeists, wie einer Seele und Sein.
Mit gefällt dieses Krankenhaus s e h r. Mich beeindruckt – und aber beklemmt auch – seine Geschichte. Es ist der Geist Lessings, der es bestimmt, der Geist des Humanismus, der selbst in der unheilvollsten Zeit sich zu erhalten versuchte. Hier wurden Verfolgte versteckt, aber auch die auf die Transporte in die Vernichtungslager Weitergetriebenen waren hier “gesammelt”, wohl eher gepfercht. Und nun – so fühlt es sich für mich an – wahrt es diesen Geist inmitten gewiß einiger Feindsamkeit, wenn nicht sogar akuter Befeindung – hier im türkischen, muslimischen Wedding mitten drin. Aber die versorgt werden, sind, gleich welchen Glaubens, dankbar. Es ist zu spüren, ja atmet aus den Wänden. Angehöriger s e h r vieler Ethnien sind hier auch tätig, auch Ärzte muslimischen Hintergrunds. Es ist ein Gelände höchster Toleranz.
Wie der vornehme Herr betete, berührte mich, den Pantheisten. Er tat es auf dem nackten Boden, ohne den kleinen, für diesen Zweck… ja, sagt man das? geweihten Teppich? (Ich werd mich kundig machen).
Zur Nacht entkleidete sich der “Landmann”, behielt indes, ich notierte es gleich, die Unterwäsche an und zog den Schlafanzug darüber. Kein Orientale käme jemals auf eine solche Idee. Ich selbst, wie immer, schlief nackt. Das Krankenhaushemd, für die OP nachher, liegt noch zusammengefaltet in einer der Ablagen meines rollbaren Tischs.
Überhaupt war mir nicht sehr nach Erkrankung und Leidenstun. Also blieb ich den Tag, gestern, in Shorts und TShirt, die Füße hochgelegt, so las ich Jean Gionos faszinierenden Noah. Grandiose Szenen und Sätze darin:
Heizt man mäßig, erhält man den Urzustand des sogenannten Gesellschaftsdramas; bei hoher Temperatur kann es die Perser oder die Sieben gegen Theben ergeben. Aber man braucht eine verflixte Hand.
dtsch.v.Richard Herre, Nauck & Co. o.J.., S.108Man kann sogar, um es noch hübscher zu machen, den Mann eine unbewußte Partie spielen lassen. Er weiß nicht einmal, daß er gespielt hat, daß er seine Figuren verschoben hat; er kennt nicht einmal die Bedeutung des Wortes matt. Er wird sie kennenlernen, im selben Augenblick, in dem er mattgesetzt wird.
S.132
Dann hielt’s mich im Zimmer nicht mehr. Wann immer es ging, begab ich mich in den kleinen Park hinaus, abends wutschte ich auch noch mal ganz vom Gelände und erstand in der Welt um unfaßbar wenig Geld Früchte (anderthalb Kilo wie ein Tropenregen saftiger Aprikosen und Pfirsiche: zwei Euro; tiefer Wedding halt), erstand Knabberzeug, da es das Abendbrot bereits um ein Viertel nach 17 Uhr gab. Den Impuls allerdings, auch noch ein alkoholfreies Bier in das Krankenzimmer einzuschleppen, drückte ich schnell wieder runter. Das hätte nun wirklich nicht gepaßt.
Kurzer Aufschuß von Ärger noch abends: Jetzt soll ich auch noch Cholestrintabletten nehmen, als Ergebnis einer der Blutuntersuchungen. “Dauerhaft?” fragte ich. Sie Schwester nickte – eine dieser robusten Charaktere, die zugleich von geradezu schallender Freundlichkeit sind, ich meine: wirklich freundlich, seelengut; doch zupackend halt, im notwendigsten Wortsinn lebenstüchtig. “Dauerhaft, ja”, das Blutbild würd es verlangen. “Schlucke ich nicht”, sagte ich. “Hier ja, bald aber nicht mehr.” “Lagert sich halt a u c h in den Arterien an.”
Hm, ein Argument.
Gut, aufs Gespräch mit der Ärztin, den beiden Ärztinnen, verschieben, draußen wieder. Der Landmann kam wegen eines nekrotischen kleinen Zehs herein, jetzt wird ihm ein Herzkatheder gelegt: unter anderem. Ich habe nicht vor, in diesem Kreislauf mitzudrehen.
Erstmal, indes, im Lauf der Vormittags der Eingriff, dann – ausschließlich davor fürchte ich mich: – die sechs Stunden bewegungsloser Liegerei. (Der lange Zeitraum begründet sich u.a. durch das blutverdünnende Mittel: Der Draht wird in der Leiste eingeführt – ein “Bioport” mithin, der sich nachher wieder schließen muß; normalerweise sorgt die Blutgerinnung dafür nachdrücklich mit, die nun aber gerade unterlaufen wird. Also braucht der Wundverschluß mehr Zeit. – Alles wird leichter, wird es verstanden.)
Das Vorhaben selbst: den Hohldraht bis zur Verengungsstelle führen, dann vermittels Unterdruck die Plaque absaugen, von der die Arterie verstopft ist. “In achtzig Prozent der Fälle”, erklärte mir der operierende Arzt, “reicht das schon; das dann wieder frei hindurchströmende Blut weitet die Ader wieder. In zwanzig Prozent der Fälle allerdings fällt die Arterienstelle in sich zusammen. Dann müssen wir einen Stent einsetzen. Passiert aber alles während derselben OP.” Wobei mich dieser Stent an das künstliche Netz erinnert, daß mir seinerzeit bei der Leisten-OP implantiert worden ist. (Einen Monat noch, und es läge genau vier Jahre zurück).
Ersatzteillager ANH. Is’ mir recht. Bereits bei den Linsen meiner Augen bin ich nicht zimperlich gewesen. Denn Cyborgs sind wir alle schon längst. Nur dauernd Tabletten will ich nicht schlucken.
Bleiben Sie, Freundin, mir nah: “Ihr wißt ja, daß die Gerichtsvollzieher der kleinen Orte oft ein Skelett im Wandschrank hängen haben”, Giono, Noah, S.125
Ihr ANH