[Arbeitswohnung, 11.47 Uhr]
„Er hat wahnsinnig gelitten von diesen Geschichten.“
Ileana Cotrubas zu Carlos Kleibers Frauen
Seit sieben auf, die Grippe schwindet, übertreiben sollte ich aber noch nicht, was, wie ärgerlich auch immer, bedeutet: einstweilen weiter Sportverbot. (Ich nehme wieder zu, deutlich, futtere aber auch wieder Schokolade; das wird erst mit neuem Training wieder aufhören). Immerhin neu dazu übergegangen, den Wecker zu stellen. Steh ich um halb sechs auf, ist die Gesundung komplett. Sò.
Zum ersten Latte macchiato begonnen, für den ersten Septime-Erzählband, den im Frühjahr, Kritikerstimmen zusammenzusuchen; der Verleger bat gestern nacht darum. Außerdem, für die Buchklappe, eine Art Vita geschrieben, in der ich frecherweise aber nicht nur angebe (im Doppelsinn, Freundin, Sie haben ganz recht), in Berlin zu leben, sondern, „wenn es sich einrichten läßt“, auch in Neapel. Seelisch stimmt das auch. Falls sie’s nicht mögen, können Lektorin und Verleger es streichen.
Dann kurzer Emailwechel mit Manuela Reichart, von der heute morgen ein kleiner Auftrag für den WDR hereinkam, nachdem mich aber schon gestern abend ein Redakteur um einen anderen kleinen Text für denselben Sender bat. Das ist bemerkenswert, weil ich mich dem Rundfunk schon abhanden gekommen glaubte. – Für beide Texte nicht viel Zeit, ich werd mich gleich daransetzen müssen – auch wenn es mich von dem neuen Béartgedicht abhält, mit dem ich gestern anfing. Meine Güte, in dreizehn Stunden fünf Zeilen, also Verse, entworfen. Wobei die Hauptarbeit für die Recherche „drauf“ging. Ich schrieb ja schon, daß dieses nächste Gedicht eine, so in einem nachts noch an meine Lektorin geschriebenen Brief, „Hymne auf den Frauenfuß, einen (fast) bestimmten werden“ solle, „griech.-ägyptischer Typos“, schön mithin nach m e i n e m … nun jà? Geschmack? läßt sich das Wort anwenden? Nein. Und wenn doch, ist’s egal. In jedem Fall hab ich mir da was vorgenommen, das es wirklich in sich hat. So schrieb ich ihr denn weiter:
Also habe ich wahnsinnig den ganzen Tag über recherchiert, Anatomie, Bewegungsabläufe, Begriffe… aber auch nach Bildern geguckt. Herausgekommen ist das hier:
Muß ich mir morgen im Copyshop ausdrucken lassen, um es immer vor Augen zu haben. Mein sowieso nur s/w-Drucker kriegt es nicht hin. Auf dem Musikcomputer allerdings ist die kleine Zusammenstellung bereits als stehender Hintergrund eingerichtet. Da wird sie bleiben, bis das Gedicht fertig ist. Und links von mir muß dieser Ausdruck an die Pinnwand. Es ist einfach irre schwer, für Körperteile eine Sprache zu finden, um von einer poetischen ganz zu schweigen. (Du weißt wahrscheinlich von Flauberts berühmtem Kohlkopf, den er, um ihn zu beschreiben, wochenlang auf seinem Eßtisch liegen hatte.) Ah, das Zusammenspiel von Erde und Leib: Die Fußsohle ist der innigste Part unserer Körper, der mit ihr die Verbindung hält. So las ich denn heute auf einer Barfußschuh-Site den sofort klaren, zutiefst bezeichnenden Satz (der sich als Motto des Gedichtes aber leider nicht eignet): „Allerdings muss man auch sagen, dass kaum jemand diesen Zusammenhang versteht. Füße liegen eben viel zu weit weg vom Kopf.“ Das dürfte übrigens für beinah alle der Béartgedichte gelten; auch sie liegen „einfach“ zu weit weg vom – in diesem Falle zeitgenössisch-allzugenderkorrekten – Kopf.
Wunderbarer Ausdruck übrigens, „Plantarfaszie“, für die Sehnen“platte“, die von der Ferse zum Ansatz der Zehen verläuft und dafür sorgt, daß das Fußgewölbe – auch so ein irre sinnliches Wort – entsteht (dessenthalben der Innenfuß, wenn gesund, nahezu nie den Boden berührt, was wiederum den klassischen Fußabdruck im Sand erzeugt). – All das gepackt in >>>> die Wahrnehmung während einer ICE-Fahrt, auf der neben mir, aber auf der anderen Gangseite, eine Frau ihre Espandrille von den Füßen streifte und versonnen auf dem Sitz ihr gegenüber ablegte, Ferse über Sprungbein, die Sohlen (Faszien!) halbschräg zu mir – wäre in Indien allerdings als Beleidigung aufgefaßt worden; hier war es eine Art – von ihr weder gewußter noch gewollter – Verführung.
Dies war der eine Planet, auf dem ich mich gestern tags befand, zum andren flog ich am Abend:
Zwei Versäumnisse, Lebensversäumnisse werde ich mir niemals verzeihen. Das eine, Glenn Gould nie live gehört zu haben. Wiewohl ich es, lebenszeitlich gesehen, gekonnt hätte, wäre es aber auch schwierig gewesen; seit 1964 trat er ja nicht mehr öffentlich auf; da war ich neun. Indes das andere nicht: Carlos Kleiber live dirigieren zu sehen. Das in der Tat hätte ich gekonnt.
Was hielt mich ab?
Zum einen, ganz ganz sicher, das mir fehlende Geld. Ich hätte nicht genügend gehabt, um Reise, Unterkunft und auch noch die Konzert- oder Opernkarte zu kaufen, in Bayreuth sowieso nicht, aber auch in München und Wien kannte ich zu seiner Lebenszeit niemanden, bei der oder dem ich hätte zumindest unterschlüpfen können. Dabei war mir, seit ich zum ersten Mal seinen Rosenkavalier gehört, vollumfänglich klar, wer – nein, was! – der Mann gewesen ist. Dann kam auch noch dieser T r i s t a n in meine Musiksammlung, ein unerreichter, wahrscheinlich unerreichbarer seither; bei ihm wird die Musik zur femme introuvée, aber wir können sie hören, denn da v e r l ä ß t sie den Raum des Imaginären, steigt aus dem Meer und betritt unsre Land leibhaftig als Klang. Also wäre das mit dem Geld doch ganz egal gewesen, war es auch, und statt mir mein Gedarbe noch zu kultivieren, hätte ich es mir leihen oder auch klauen müssen, völlig, völlig wurscht! Es ist also, und bleibt es, mir als Künstler unverzeihlich. Und ich kann nur hoffen, innig hoffen, daß mir ein Gleiches nicht auch noch mit Keith Jarrett geschehen wird, daß ich’s mir nicht auch mit ihm noch so geschehen lassen werde. (Einmal, bei ihm, habe ich bereits versagt. Wir waren zu gleicher Zeit in Neapel, er trat im Teatro San Carlo auf. Die Karte, die es noch gab, kostete 200 Euro. Auch da hatte ich das Geld nicht. Das fehlende Geld begleitet mich wie Bechsteins von Nietzsche „Geist der Schwere“ genannter Aufhuck, und mir fehlt die Unmoral, es von andern zu erschnorren oder zu erlisten. Offenbar gibt es, dacht ich gestern böse, Erleuchtungen, die nur Reichen zuteil werden, und die, wahrscheinlich, merken sie nicht einmal – ich kann in Wut darob geraten, ist mir schon neulich geschehen, bevor ich dann verloren durch die Nacht irrte.)
Jedenfalls … wie kam ich auf Kleiber? ah ja! ich hatte von ihm (im Puccinirausch unter den Füßen Béarts) bei Youtube eine Aufnahme der Bohème gefunden und war, nachdem auch sie gehör-, ja:-zittert war, auf dieses Portrait gestoßen, das ich dann atemlos, plötzlich sogar weinend ansah:
„Nicht alltagstauglich“, sagt darin jemand. Jetzt stellen Sie sich einmal, Freundin, vor, er hätte kein Geld gehabt … Gut (na schlecht!), er kam aus dem Schatten des Vaters nicht heraus, seine Verfluchung, wie in Bezug auf sein Repertoire wohl zurecht Michael Gielen anmerkt, doch jedes einzelne Stück hat er für die Welt v o l l e n d e t – und Johannes Brahms‘ Satz in den Eitelkeitskreis der Hölle geschickt, es höre die wahre Musik allein, wer die Partituren lese. „Seine Hände“, sagt Gielen, „taten ganz von allein das Richtige.“ Ja, schauen Sie auf seine Hände, aber schauen Sie, wenn Sie sich den schönen Film ansehn – und den schönen Mann -, auch auf seine Augen und den Mund; ein ganzer Körper wird Musik, und er wallt im Tristanvorspiel wie das Meer-selbst, aus dem sie dann steigt, die femme introuvée. (Es wird mich dieser Begriff wohl nicht mehr verlassen).
Zurück in der Musik, liebste Freundin: Ich habe mich zurückgebogen.
In Verehrung,
Ihr
heut nicht Unhold, sondern Alban
geld können fast alle irgendwie, bücher schreiben nicht. es ist ein riesenproblem der beinahe ganzen zunft und es ist ein riesenskandal, wie deutschland fast jede kunstform dauerhaft subventioniert, wovon viele bücher zur grundlage haben, deren autor*innen und oft auch verlage aber bei alle dem als letztes bedacht werden oder gar nicht und gänzlich auf marge angewiesen bleiben, auf die sie es genau so wenig bringen wie oper oder theater oder ballett oder philharmonie. kennst du musils: wie hilft man dichtern! alles ist immer noch wahr. leider! ich hoffe aber weiter für dich und dass meere nicht längst verfilmt wurde, wundert mich ernsthaft! http://www.signaturen-magazin.de/robert-musil–wie-hilft-man-dichtern-.html
Danke für Kleiber. Ärgere mich jetzt auch, dass ich ihn nicht live erlebt habe. War einfach noch nicht so weit. In Stuttgart und München wäre das leicht möglich gewesen. Wie gut, dass man durch Youtube so vieles nachholen kann.
Damit Ihnen nicht noch weiter etwas entgangen sein wird (ob mehr oder weniger gewichtig als der Kleiber-Verlust, den ich Ihnen nachfühlen kann, müssen Sie entscheiden), hier ein Hinweis für Ihre Béart Gedichte.
Es gab nämlich eine quasi lyrische Disziplin (vermutlich noch aus der Tradition der provenzalischen Troubadour-Dichtung, etwa von Eustorg de Beaulieu und Gilles d‘ Aurigny (beide Mitte des 16. Jahrhunderts gestorben), die die Ahnherren jeder „femme introuvée-Dichtung“ sein könnten. Ich tituliere Ihre Anstrengung mal so.
Bei Henssel erschien (leider schon 1964) ein wunderschönes Bändchen mit Gedichten der beiden, die in ihren Versen den weiblichen Körper besangen, genauer jeden Körperteil, ob nun die Füße oder die Brüste etc. Der Band trug den Titel „Die Blasons des weiblichen Körpers“ ist ist vielleicht irgendwo in den Grüften des lyrischen Darknets noch aufzufinden. Machen Sie sich die Freude und informieren Sie sich.
@elfi:
Ah!!! Das ist ja toll. Darum kümmere ich mich sofort. Großen, sehr großen Dank für diesen Hinweis.
Ihr Geister Frankreichs, die der Dichtkunst walten,
Ihr neuen Phöben, kühner als die alten,
Gern lass ich euch, was ihr mir abgeschaut:
Kein schönes Brüstchen zwar mit Haar und Haut,
Doch ein Blason, das ich mit Lust und Lieb
Dem Brüstchen einer schlichten Jungfer schrieb.
Manch Loblied sangt ihr, ganz in meinem Sinn,
Womit ich reichlich schon entschädigt bin:
Der eine pries das goldgelockte Haar,
Andre das Herz, das dralle Schenkelpaar,
Einer beschrieb die Hand bewundernswert,
Ein andrer pries das Auge sehr gelehrt,
Den Geist auch, der die Himmel offen sieht,
Ein andrer sang dem Mund ein schönes Lied,
Einer der Träne, einer auch dem Ohr,
Ein andrer trug das Lob der Braue vor.
Mehr hab ich unterdes nicht aufgespürt.
So wacker hat ein jeder blasoniert,
Daß man am liebsten aus Minervas Hand
Euch allen einen Preis hätt zuerkannt.
Das könnten Ihre Vorgänger sein. Und lassen Sie sich beim Lob der Frauen nicht irre machen, wünscht Ihnen Elfi
@elfi (ff)
… und … gefunden und bestellt:
Ei, wunderbar. Glückwunsch.