[ICE 1514, Bamberg-Berlin
9.10 Uhr<]
Ich hätte, sagte Nora Gomringer in ihrer Einleitung zu meiner Lesung im Hörsaal R01.1 der Bamberger Universität …, – ich hätte in Irene Adhanari eine der wirklich großen, vor allem wirklich s t a r k e n Frauenpersonen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erschaffen. Dieser Satz ist es, was mich vielleicht am stolzesten von allem macht, was insbesondere sie, doch andere taten es ebenfalls, später noch und insgesamt sagte. Mein Stolz ist nämlich auch berechtigt oder vielleicht sogar wegen des Umstandes, daß ich Frau Adhanari einem wirklichen Menschen verdanke, ohne den dieser Roman, Meere, sowieso nicht hätte entstehen können. Er ist eben nicht nur die traurig endende Liebes- und vorgeblich „skandalöse“ Obsessionsgeschichte eines tragisch-ungleichen Paares, sondern Irene Adhanaris Klarheit und Kraft sind der eigentliche Katalysator, dessen Fichtes Geschichte bedarf. —
Der Gang vor dem Hörsaal war proppevoll. Aber es gab auch ein ausgezeichnetes Catering. Dank der Professorin Andrea Bartl war meine Lesung in ein Symposion eingebunden, das Parallelen zwischen wirtschaftlichen Vorgängen, bzw. Phänomenen, zu literarischen Werken zu ziehen geplant war; die auf ersten Blick einzige Verbindung, die ich dazu hatte, bzw. habe, ist die Tatsache meiner zweieinhalb Jahrzehnte zurückliegenden, fünfjährigen Brokertätigkeit bei – damals so noch genannt – Prudential Bache Sec. Nur hat dies mit Meere nichts zu tun; bei Anderswelt wäre es anders gewesen. Dennoch bekam ich eine ausgesprochene Aufmerksamkeit, die allein von dem entweder falsch eingestellten Verstärker des Mikros beeinträchtig wurde, oder aber die dortige Anlage ist tatsächlich nur schlecht. Oder ich verstand sie nicht, sprach vielleicht allzu direkt in das Mikro hinein, das nunmehr jedes End-„s“ in ein Zischen verwandelte, aber i n s g e s a m t nicht erlaubte, zwischen, etwa, Bauch- und Kopfstimme zu modulieren. Ist man dem ausgesetzt, geht sehr viel an nicht nur sprecherischer Dynamik, sondern auch an Volumen verloren. Was wiederum dazu führt, daß ich es „einzuholen“ versuche und also zu schnell spreche. (Erst ganz am Ende, als Gomringer darum bat, ich möchte noch einmal das Nachtbild für Kirke lesen, trat ich um das Pult herum und las ohne die leidige Verstärkung:
Aber tr0tz der technischen Kalamität war die Aufmerksamkeit auch vorher enorm. Freilich monierte Jochen Hörisch später, er habe es bedauert, daß sich mein Vortrag um die Sexualstellen „gedrückt“ habe; ich hatte während der Lesung indessen erklärt, weshalb: Fühlt sich nur eine einzige Person in einem Publikum von solchen Stellen peinlich berührt, die ja ohnedies ins Intimste gehören, überträgt es sich schleichend auf den ganzen Saal, was schließlich jede Intensität qua Distanzierungen, bzw. Abwehr schädigt. Zudem mag ich mit dreißig eine Neigung gehabt haben, die Menschen zu provozieren. Doch das ist seit mindestens zwanzig Jahren vorbei – schon weil ich genau weiß, daß derartiges kein anderes Ergebnis zeitigt a l s eben Abwehr. Schon daß man einst provoziert hat, wird bis ins Alter schwer nachgetragen. Wodurch sich gerade bei einem Roman wie Meere die Hinsichten komplett ändern und möglicherweise das „Eigentliche“ gar nicht mehr gesehen, geschweige gefühlt werden kann.
Ich las – wie Sie sich’s, Freundin, hierüber schon dachten – nicht nur aus Meere, sondern auch Gedichte, bzw. Gedichtteile, letztre aus der Aeolia, die anderen aus dem Ungeheuer Muse, und zwar schob ich sie so ausgewählt zwischen die einzelnen Prosapartien, daß sich noch einmal neue Hinsichten ergaben, ergeben sich jedenfalls sollten. Es ist dies ein aber nicht nur dramaturgisches Kalkül, sondern für mich insofern Notwendigkeit, als ich zu Lyriklesungen so gut wie niemals eingeladen werde, noch werden meine Gedichte rezensiert, weshalb ich als Lyriker imgrunde nicht gelte, schon gar nicht öffentlich. Um so froher war ich – ja, „froh“ ist das Wort -, daß Nora Gomringer einen Zugang zu ihnen hatte und hat, die aus einer völlig anderen Ästhetik herkommt und von einer n o c h einmal anderen geprägt ist.
Was aus unserem, vor der Veranstaltung in ihrem wunderbaren Arbeitszimmer in der Villa Concordia, plötzlich aufstand und dastand, war eine E v i d e n z. Es geht nicht um die ästhetischen Genre-Kategorien, sondern alleine um Qualität innerhalb des je eigenen Bezugssystems und vielleicht eine weit darüber hinaus: notwendig verbunden damit das Wagnis Offenheit, das Wagnis Konsequenz und das besondere Wagnis Intensität. Daß es nicht etwa bedrückt, sondern befreit, dies ist auf hinreißende Weise hier zu sehen; ich mag Ihnen, liebste Freundin, grad dieses Lachen nicht vorenthalten:
Intensität bestimmte auch Christines, meiner Freundin und Gastgeberin, und meine Gespräche, bestimmten sie ständig; wir hatten uns sehr lange nicht mehr gesehen, „nur“ gelegentlich Whatsapp-Nachrichten ausgetauscht. Aber wir kaum blickten wir einander neu in die Augen, war das gesamte Vertrauen unmittelbar wieder da. So daß wir durchaus auch intim sprachen und dieses, das verbindet uns faktisch, stets auf unsere Arbeit bezogen. Sie kennt meinen (leichten) Spott über esoterische, sagen wir, Lebenshaltungen; bei ihr indes, wie auch bei लक्ष्मी, ist er mir längst vergangen – ein falsches Wort, sondern: hinweggewischt worden. Und zwar weil ich die Beobachtung gemacht habe, zu welch staunens-, auch bewunderswerten aktiven Haltungen der Glaube führt, führen mindestens kann, zu welcher Introspektionsfähigkeit in andere Menschen, zu welchem Ausmaß von Güte und, ja, auch Mitleid – vor allem jedoch: welch tatsächliche – faktische also – Hilfe die so Glaubenden oder Empfindenden anderen Menschen oft sind, und zwar weit über das, sagen wir, medizinische Verfahren hinaus. Nein, ich glaube nicht an, z.B., Astralreisen. Aber ich weiß, was die, die sie zu unternehmen meinen, nachher an Humanität bewirken. — Hierum kreiste vieles, was Christine und ich besprachen. Außerdem bin ich, ganz wie bei लक्ष्मी, an diesem Phänomen auch poetisch interessiert – nicht unähnlich Huxley seinerzeit an den von Mescalin bewirkten Wahrnehmungen, ein Buch, das mich zutiefst beschäftigte, als ich siebzehn war, aber bis heute in mir nachwirkt.
Auch Phyllis Kiehls alte Frau Mama, von mir „die Schamanin“ genannt und also solche ebenfalls Astralreisende, strahlt solche Wirkungen aus, bei ihr in Gestalt der Vogelwelten, die in ihrem Garten zuhaus. Setzt sich die so weise alte Dame zum Frühstück auf die Terrasse, fliegen die Vögel tatsächlich alle, jedenfalls viele, sofort herbei und landen teils sogar auf dem Tisch. Dem Realisten wie mir m u ß sich dann nicht nur der Eindruck vermitteln, daß solche Menschen eine bestimmte, in jedem Fall beruhigende Ausstrahlung haben, sondern ich muß sogar davon ausgehen, daß der – wie auch immer – „Glaube“, solche Astralreisen unternehmen zu können, zu einer chemischen Veränderung im Gehirn führt, und zwar egal, ob es solche Reisen überhaupt gibt. Eine gerade für Poetinnen und Poeten ungemein reizvolle, nein, nicht nur das, sondern in ihnen Kunst- und Selbstgewißheit bewirkende Vorstellung.
Einge-, ich sag mal, „-weihte“ wird es nicht wunder nehmen, daß auch hier der Herd, nämlich Focus, wie das Aleph zu leuchen begann: eine punkthafte Sonne, gelöst in ein Getränk namens Ayahuasca.
Doch waren wir auch weltlich. Also bereitete ich eine Rehkeule zu, die ich, sie war vortags erst geschossen und zerlegt, bei Brudermühle erstand; nachdem ich einige Zeit erfolglos querdurch Bamberg gelaufen war – in keiner Metzgerei gab es Wild -, brachte mich der Hinweis einer Bamberger Gemüsehändlerin auf die Idee – wirklich, sie erst brachte mich, den Netzbürger, drauf -, eine Suchmaschine zu bemühen. Prompt wurde ich fündig, und es waren auch nur noch wenige Meter zu Fuß. Ein eigenes Gehege für Dam- und Rotwild wird von den Inhabern des Hotels behegt.
Gut, erledigt. Es war nur noch zu klären, ob 7 oder 19 % Mehrwertsteuer zu berechnen seien; so wurde ein wenig telefoniert. Offensichtlich kommt’s nicht oft vor, daß Kunden das Fleisch selbst abholen, gleich bezahlen und sich überdies eine Quittung geben lassen. So hatten wir dort ein bißchen zu plaudern wie zu lachen.
Die Keule kam in die Beize, nächstentags in die Röhre – für dreizehn Stunden, riet mein Rezept, bei 80 Grad C., Temperatur fallend. Doch schon nach neunen zerging sie auf der Zunge. Ich gab eine Stunde bei 120 Grad drauf, um das äußere Fleisch, gleichsam wie Haut, außen dunkel und nicht kroß, nein, is‘ ja kein Geflügel, doch bißfest werden zu lassen. — Ein gutes Stück Fleisch der ohnedies mächtigen Keule hatte ich vor dem Ofen ausgelöst, grob zerhackt und parallel verwendet, um die Sauce herzustellen, die des bei weitem intensivsten Aufwands bedarf, sowohl an tätiger Zeit als auch am komponierten Gewürz.
Was nahezu zwölf Stunden gewährt hatte, um zu werden, ward in einer Dreiviertelstunde verspeist. Die, nun jà, „Kinder“ – 14 und 18 – verschwanden in ihren Zimmern, Christine und ich, beide nun doch recht ermüdet, „chillten“ auf Sofa und im Sessel, lauschten fast stumm bis nahezu Mitternacht >>>> Falk Zenker— und während hinter der Glasfront des hohen, eine enorme Hitze ausstrahlenden Holzkamins die Funken flogen, flogen bei ihm die Falken:
***
[Arbeitswohnung, 12.57 Uhr
Viera Janárčeková, Duo extatico für Violine und Klavier (1999)]
Zurück, bereits ausgepackt, Espresso, Musik.
In einer Email erreicht mich das hierunter einkopierte Foto, entstanden, nachdem Christine und ich kurz vor meinem ersten Glühwein dieses Jahres im Bamberger Stadtzentrum Ulrich Holbein, der vorabends auch bei der Lesung gewesen, und seine Gefährtin trafen, Viera Janárčeková, von der ich hier Musiken habe, nun auch gleich höre. Beide sind wie ich Stipendiat:inn:en der Villa Concordia gewesen, indessen anders als ich in Bamberg „hängen“ geblieben.
„Der dirigiert mit der rechten Hand“, erzählte ihr Holbein von meiner Vortragsart, „wenn er spricht. Und – er zieht sich aus.“ Was eine arge Übertreibung. Allerdings lege ich stets, direkt bevor ich zu rezitieren beginne, die Krawatte ab, auch die Weste, und krempele die Ärmel hoch. Das war denn auch abends nach der Lesung im Gespräch mit ein paar anderen schon Thema gewesen. „Und dann kommt ein ganzer Busch Brusthaar zum Vorschein“, übertrieb der kluge Holbein weiter, mit dem mich seit Jahren eine Art Konkurrenz-Befreundung verbindet, die nie, seinerseits, ohne Spott ist. Über den hinaus verbindet uns allerdings die Leidenschaft zur Kunstmusik; er gehört zu den wenigen Autoren, die tatsächlich Ahnung von ihr haben. So nimmt seine Spottlust mir nicht die Spur (m)eines Respekts. Mein Eindruck ist, daß er ziemlich genau nicht nur spürt, was ich poetisch versuche, sondern es ist ihm ein wenig – unheimlich. Er hat darüber sogar mal einen Comic gebastelt. Doch wie gesagt, nur mein Eindruck. — Die Begegnung, so oder so, nein, auch so u n d so, hat Freude gemacht:
Jetzt aber wieder, und zwar zügig, an Elvira M. Gross´ens Lektorate. Drei weitere Erzählungen sind inzwischen eingetroffen, und ab Montag beginnt in Wien das persönliche Lektorat. So bleibt mir nicht viel Zeit.