[Bei den Lorbeeren Arcos. Küchenplatz, 6.27 Uhr]
Welch intensive Tage! Mit Elvira M. Gross, dieser grandiosen, zutiefst sinnlich-klaren und poetisch ungemein spürfähigen Lektorin, nahezu fünfhundert Typoskriptseiten durchgearbeitet, am Ungartisch mit sehr viel Tee, zwischendurch Mokka; morgens stellte sie stets ein Croissant für mich bereit. Zwischendurch ich immer mal wieder auf die Terrasse, um etwas zu rauchen und den Blick schweifen zu lassen,
bisweilen auch mit ihr, die s e h r schnellen Schritts, zu Fuß in die Stadt, deren Zentrum nicht weit ist, mittags dort gegessen, einen ihrer engsten Freunde getroffen, mit dem sich auch für mich eine, freiliche losere Freundschaft anschickt, und wieder zurück an den Tisch.
Sie hatte ein paar Erzählungen verworfen – eine bekam sogar den Kosenamen Blech an den Rand geschrieben –, da nahm sie ebendie wieder vor, ging sie noch einmal durch, nahm sie in die Auswahl wieder hinein: Es bedurfte einiger Änderungen, oft nur scheinbar kleiner, doch in der Wirkung riesiger, und schon war der Kern des Textes konturiert. „Doch, muß mit dazu.“ – Als mich eine verstörende, traurige, mich völlig betreffende Nachricht ereilte, über die ich noch nicht sprechen „darf“, also soll. Deswegen, auch wenn es mir schwer fällt, hier dazu nichts, außer daß ich sehr froh war, genau da bei Elvira zu sein, die mich fing. – Nein, Freundin, nichts Schlimmes für mich selbst, aber von einem Freund und über ihn. Ich trage dran noch jetzt und werde bestimmt noch weiter tragen. Sowie mir’s erlaubt ist, werde ich drüber schreiben.
Zumal heute keine Zeit für ihn ist, es würd ja auch nichts helfen. Denn parallel läuft immer noch Christoforo Arcos Umzug weiter; vorgestern, nach dem Lektorat, stand ich noch bis Mitternacht in der alten Wohnung und mörtelte Bohrlöcher zu. Irgendwann dachte ich, bis morgen sei er, der Umzug, überhaupt nicht zu schaffen, da setzten sich gestern nachmittag die Eltern des Freundes ins Auto und kamen her aus Berlin, um zu helfen. Ankunft schon abends. Mit ihm dann hinüber, um da bereits anzupacken, nach einigen Stunden Autofahrt, derweil ich selbst nicht mehr konnte, nur noch paar Briefe schrieb, also Emails, an den Septime-Verleger, an den Béart-Übersetzter Schnee, der vorgestern die ersten Entwürfe der US-amerikanischen Fassung hergeschickt hatte. Für die waren – auch dies alles in diesen drei Tagen – entscheidende nicht nur Verständnis-, sondern auch Abwägungsfragen zu beantworten, die den Umgang der beiden verschiedenen Sprachen etwa mit Personalpronomen, auch Ausrufen und Anrufungen betrafen und Nebensinne, die sich in der einen Sprache sehr wohl, in der anderen gar nicht ergaben (etwa wußte ich nicht, daß die als „Dong“ lauthaft beschriebenen Glockentöne Amelias im US-Amerikanischen auch „Schwanz“ bedeuten, „Phallus“, und dadurch ganz unvermutet hart-sexuellen Sinn bekommen, der im Original d a gar nicht gemeint war, aber manchmal doch auf verblüffende Weise paßt. Wobei ich diese, ich sage einmal, innere Entsprechung aber nicht zu grob haben möchte; auf keinen Fall darf sie ordinär sein. In wiederum anderem Sinn ähnlich die Großschreibung des „you“ im Englischen gegenüber dem Brief-Du im Deutschen: Dort wird das großgeschriebene „you“ fast alleine an Gott gerichtet oder, im Falle Béarts an die Göttin – was ebenfalls „paßt“, doch nicht an jeder Stelle.
Und gestern nacht um elf kam eine weitere neue Email Elviras, die tatsächlich am selben Abend, nachdem ich gegangen, noch eine weitere, bislang liegengebliebene Erzählung durchgearbeitet hatte – einen uralten Text, von 1971!, den ich vergangene Woche mir vorgenommen. „Schön, einfach schön!“ schreibt sie. Öffne ich aber die Datei, ist sie mit Anmerkungen und Korrekturen geradezu gespickt. – Noch zu keiner Lektorin, keinem Lektor hatte ich je s o l c h ein Vertrauen, ich könnt es fast bodenlos nennen, wär nicht diese Frau ein poetischer Boden-selbst. Sie atmet meine Sätze, inhaliert sie, wandelt sie in ihrem Inneren um und atmet sie wieder – als nun vollendete – aus. Nur selten mußen wir ein bißchen nachdenken, bevor etwas Schiefes gerade wurde. Manchmal waren „Erklärungen“ fortzunehmen, ja, schlichtweg fortzunehmen, damit ein Geheimnis entstand. Manchmal konturieren sich so Sätze, die mich selbst frappieren.
Heute aber wird nur noch Umzug sein, so daß ich in diesem Monat noch einmal nach Wien werde müssen, am 17., schätze ich, doch nur auf zweieinhalb Tage, damit wir, Elvira und ich, die letzten Feinheiten hinbekommen, bevor der Band erst in Satz, dann in Druck gehen kann. Allerdings hoffe ich, morgen noch – am Sonnabend fliege ich in der Frühe zurück nach Berlin – meinen Septime-Verleger auf einen Kaffee zu treffen. Das Buch ist – b e i d e Bände sind – nun doch etwas umfangreicher geworden, als sie sowieso schon geplant waren, weil Elvira bereits verworfene Erzählungen nun doch wieder mit hineinnehmen wollte. (Worüber ich froh bin, weil sich anfang des Buches eine sehr treffende Stimmung der Endsiebzigerjahre herstellt und der Ausbruch daraus, textlich direkt belegbar, um so deutlicher hervortritt. Einige Male dachte ich, meine Güte, was warst du für ein gedrückter Junge damals … welch eine Verklemmung! welch Überhebung zugleich! Der Fokus dieser Geschichten läßt beides nicht außer Acht, sondern richtet direkt den Blick darauf.)
Nun fängt der Band mit einem Erzählschlag an, der auf den ersten Seiten noch nicht zu spüren, doch dann beginnt er zu glühen, wird immer glühender, und die erste >>>> Muse meines Lebens, also dem des dortigen Erzählers, tritt auf. Und er endet mit einem tiefen Trauergesang, in dem ebenfalls eine Frau zentral ist. Dazwischen sämtliche Stimmungslagen eines erst noch Jugendlichen, dann schon jungen, schließlich des erwachsenen Mannes, doch ständig begleitet von Frauenpersonen, die selbst schon als Mädchen enorm sind, auch wo sie‘s selbst nicht wissen. Und der Weg aus der Enge heraus in die – nein, nicht befreiende, aber doch eine weite Phantastik, die, wie ich heute sehe, in meine spätere Überzeugung unserer nahezu allegorischen und darin, im antiken Sinn, tragischen Verfaßtheiten führten. Dazu dann im zweiten Band mehr, wenn die Wölfinnen Wölfin g e w o r d e n. So werden die beiden Bände fast selbst zum Roman – Entwicklungsroman läßt sich sagen. Dies ist – für mich – an dieser Ausgabe das zugleich Überraschende wie Berückende. Man wandere, formulierte Elvira vorgestern, durch die Erzählungen tatsächlich. Oft übrigens – meistens – mußte ich, wenn sie Fragen hatte, gar nichts mehr erklären, sie nahm sie mir geradezu aus dem Mund, wußte demzufolge fast immer sofort die Antworten selbst – aber eben auch, wo ich sie als Satz noch nicht gestaltet hatte oder zuviel gestaltet hatte und also zurücknehmen, sie manchmal schlichtweg streichen mußte.
Gestern nacht, während des Freundes Eltern sich mit ihm berieten, stellte ich dann schon einmal eine erste provisorische Fassung des Gesamtbandes her, die wir beide, Elvira und ich, nun einmal „am Stück“ lesen werden; vielleicht wird auch noch etwas am Binnenverhältnis der Erzählungen modifiziert werden müssen, aber das werden wir sehen.
Jetzt geht es erst einmal ausschließlich noch um den Umzug. Doch wollte ich mich, liebe Freundin, auf jeden Fall heute gemeldet haben. Es wäre mir unangenehm, dächten Sie, ich hätte sie vergessen.
Wien, übrigens, gefällt mir zunehmend gut und immer, immer noch besser.
Ihr ANH
„Öffne ich aber die Datei, ist sie mit Anmerkungen und Korrekturen geradezu gespickt.“
bringt mich auch zur weißglut, gerade bei frischen texten. ich schicke sie dem m und bitte ihn, kannst du mal drüber schauen, krieg eine halbe stunde später die datei mit dem hinweis, alles bestens, öffne sie und diese bescheuerten wordkorrekturen mit ihren bunten fensterchen überziehen die sämtlichen 5 seiten. ich krieg n anfall: sag mal, weißt du eigentlich, wie lange ich daran gesessen habe und du stellst hier einfach die sätze in zehn minuten um und rede mich dann auf stil raus. der m hört sich mein gezeter geduldig an, sagt relativ cool, na ja, das ist mein job, schon immer gewesen und geht zur tagesordnung über. ich knalle den hörer auf, fange an, das meiste zu übernehmen und weiß leider, er hat meistens recht. es ist der horror! jeder andere lektor ist gütiger mit mir! aber ich bin so froh, dass ich ihn hab, bei allem.
Schön dieser Hintergrundsbericht aus Wien. Unser nächstes Konzert wird übrigens „Besuch aus Wien“ heißen, ein Duoabend Cello/Klavier mit dem Cellisten Rudolf Leopold und der Pianistin Anna Magdalena Kokits. Werke von Brahms, Schubert (Arpeggione), Ernst Toch und Martinu werden erklingen. Rudolf Leopold organisiert eine Konzertreihe im Leopold Museum Wien. Er ist der Sohn des Egon-Schiele-Sammlers gleichen Namens. Gründete das Wiener Streichsextett, das zu engagieren uns nie gelang. Das herrliche Brahms-Sextett spielten schließlich andere Musiker für uns.