III, 419 – Annegret

Gestern hätte ich über meine derzeitigen Lektüren vielleicht noch schreiben können : Weltumsegelungen und wie so anders der junge Forster in seiner aufklärerischen Manier so etwas beschreibt, die gesellschaftlichen Verfassungen nie außer Acht läßt, im Vergleich zum jetzt begonnenen Chamisso, der zum Bericht sich manchmal aufrafft, aber dann auch wieder waghalsige Sprünge macht zwischen den einzelnen Phasen der Reise mit der Rurik, zwischen Kindheitserinnerungen, Erzählungen persönlicher Begegnungen und melancholischen Stellen, in denen er sich auf dem zur russischen Kriegsmarine gehörenden Schiff als einen nicht wirklich ernst genommenen Passagier wahrnimmt, das ausgeschickt ist, zwischen Alaska und Sibirien eine Passage zu finden.
Und vor der Küste Brasiliens passiert ihm zumal, in der ‘Braut von Korinth’ (“einem der vollendetsten Gedichte Goethe’s”), eine Strophe zu entdecken, die “einen Fuß zu viel hat!”

“Daß er angekleidet sich aufs Bett legt.”

Scheinbar wollte ich es dennoch loswerden. Auch in der Hinsicht, wie sich die Lektüre bei der Brotarbeit in simple Zwangsjacken pfercht. Weltumseglung, Weltumarmung, stringimi, stringimi forte… Kurse wie die zu einem Weltknäuel zusammengefingerten Wollfäden.
Liegt aber alles seit gestern in einem Schatten, den so leicht loszuwerden schwierig sein wird. Am Tag, als Bruno Ganz gestorben, starb auch Annegret. Freund Friedbert teilte es mir gestern mit. Sie war unsere gemeinsame Freundin aus Wolfsburger und Berliner Tagen. Später gab es noch ein paar Begegnungen in einem Dorf nördlich von Braunschweig. Grad ein Jahr älter war sie als ich.
Bei Fleurop vor einer halben Stunde einen Blumenstrauß geordert. Wird einen Tag vor der Beerdigung am 21. ankommen, hope so.
Friedbert postete zu Annegret heute einen wunderschönen Text (er gab mir am Telefon die Erlaubnis, ihn hier einzustellen):

1980-05-15 Those Anaigrettes
„Für alle – hallo – hört doch mal her!“
Sie verteilt Chips und Nüße, holt dann ein blaues Notizbuch; liest.
„Ist mir ja wirklich ungeheuer peinlich, was da so alles drinsteht. Na, sind ja auch schon wenigstens 5 Jahre her, daß ich das geschrieben habe. Und ich hab’s gestern beim Aufräumen wiedergefunden – drin gelesen (zuerst nur geblättert!), dann fand ich es spannend, so spannend, daß ich nicht mehr aufhören konnte: von vorne bis hinten. Aber ob ihr es glaubt oder nicht, mir selbst war’s beim Lesen peinlich; auch irgendwie berührt: unangenehm berührt!“
Sagt sie von ihrem Tagebuch, das sie über Jahre gewissenhaft geführt, alles Große erwähnt, jeden Fazz (dabei hatte sie mit Daumen und Zeigefinger ‚so klein!‘ gezeigt) in all seiner historischen Wucht datiert; sauber und in Kleinmädchenschrift. Zwar waren das kleine ’h‘ und beide ‚z‘ schon routiniert angeschliffen, doch, würde sie das jetzt rumzeigen, lachten bestimmt alle – würden sagen, daß es doch schön sei, und gäben vor, sich mit ihr zu freuen.
Natürlich: diese Schrift.
Doch hatten nicht alle anfangs sone Schrift?
Diese Vergangenheit, diese, ach so, naja, Verlobung, o Gott. Auch davon berichtete das Buch. Was für ne Zeit.
Als wollte sie ein Urteil brechen, so feierlich und ernst, so wichtig auch ist ihr der Einwurf, nur tatsächliche Geschehnisse seien beschrieben – keine Reflexionen darüber; schon gar nicht, was sie erträumt, gehofft-
Reales Leben also: die Auflistung der monatlich zu sammelnden Rabattmarken, jeden Abend eine eingeklebt.
Dann morgens Frühstück – mehr war nicht.
Wie sie sagte: peinliche Vergangenheit.

Einstmals hatte sie es über Jahre akkurat geführt – was sollten heute andere es lesen. Und da es ihr selbst schon merkwürdig schien: was erst in der Zukunft?!
„Ich werds verbrennen,“ reißt sie energisch die Blätter raus, läßt keine Einwände gelten (wäre denn ‚warum?‘ ein triftiger Einwand) und wirft die Seiten in die geöffnete Ofenklappe.

Sie tritt auf den Balkon – da wird es Morgen nach der kalten Nacht: „Dort hinten, wo die Konturen verschwinden, im eisigen Nebel, ist das Ende der Zeit!“ lacht sie über die bereiften Dächer hin. „Und manchmal leuchtet ein essiggüldener Streif als Augenblick herauf, wenn das Licht der Sonne in den Fenstern von Autos bricht und kurz hochzwinkert. „Dahinten!“

Die aufregend rotbegrenzte Sonne wird bald ihre Schärfe verlieren, wird gelber, gleißender werden, heller noch als der Schnee hinter den Rauhreifbäumen, heller noch durch den Nebel. Im Gelbgeflimmer schließt sie die Augen.
Die Arme vorm Körper verschränkt, als wollte sie sich halten, dreht sie sich um:
„Soll ich uns einen Salat machen? – Das ist ja wirklich arschkalt hier.“

© Friedbert Rother

Ich selbst war gestern in anderen Erinnerungen verzapft, die hatten aber eher mit mir zu tun, obwohl sie in Annegret immer eine Gesellschaftsinsel hatten, aber nicht wirklich ihr galten, dennoch aber Halt fanden in einer gewissen Weise. Präsenz. Und einst gar der gescheiterte Versuch, eine WG zu planen. Aber wenn man nur die Wahl zwischen Durchgangszimmer und Treppenhaus-Dependance hat, bringt das nichts. Aber es lag nicht an ihr, wir sind da so vorschlagsweise von einem hineingezogen worden, den ich im September bei der Kolleg-Feier in Wolfsburg wiedersah, nicht aber Annegret, die dennoch im Vorfeld dazu beigetragen hatte, daß ich tatsächlich hinfuhr. Sie rief mich sogar an, versuchte, alle Ehemaligen aufzuspüren.
Schade! – Und ich von hinten mit den langen Haaren…

III, 418 – lapsus linguae e non solo

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