(…) jene physiologische Empfindung der Harmonie,
die Künstlern so vertraut ist.
Lushins Verteidigung, 245
(Dtsch.v. Dietmar Schulze, bearb. v. Dieter E. Zimmer)
Der Junge Lushin wächst nicht sehr anders als sein Creator auf, geschützt im Zauberreich eines Landguts, darin die ihn umsorgende französische Gouvernante seine Phantasie mit den Abenteuern des Grafen von Monte Cristo in einem Sommer beseelt,
der hauptsächlich von drei Gerüchen erfüllt gewesen war: [dem von] blauem Flieder, frisch geschnittenem Heu und trockenem Laub,
Lushin, 9
in dem allerdings seinem Vater die Befürchtung eine Änderung dieser paradiesischen Umstände nahelegt, in denen er, der Junge, einer Mücke zusehen konnte,
die sich an seinem zerschundenen Knie vollsog und dabei beseligt ihr rubinrotes Hinterteil anhob[,]
Lushin, 11
daß der Bub,
wenn er erst erführe, wozu diese Sineus und Truwor so ohne jedes charakteristische Merkmal, wozu die Liste der russischen Wörter mit einem ‘Jetj’ und die Hauptflüsse Rußlands nötig seien, sich genauso anstellen würde wie vor zwei Jahren, als langsam und massig, vom Geräusch knarrender Treppenstufen, knackender Dielen sowie hin- und hergerückter Koffer begleitet, die französische Gouvernante erschienen war und sich mit ihrer Person im ganzen Haus breitgegemacht hatte.
Lushin, 12
Da war der Junior nämlich ausgerückt, man hatte ihn suchen müssen — und tatsächlich, genau dies geschieht nun erneut, da ihm eröffnet wird, fortan in der Stadt leben zu müssen, um die Schule zu besuchen. Der größte Schock dabei ist für ihn, fortan mit Vaternamen genannt zu werden, Lushin mithin: ein radikales, fürwahr!, Symbol der nunmehr geendeten Kindheit.
Vorbei war es auch mit dem süßen Sichgehenlassen nach dem Mittagessen auf der Couch unter der Tigerdecke und der genau um zwei gereichten Milch in der silbernen Tasse, die ihr einen so kostbaren Geschmack verlieh (…).
Lushin, 12
Und vorbei mit dem märchenhaften Privileg, privat gebildet zu werden. — Der Knabe sah es damals schon richtig: Das allgemeine Schulsystem, mit zwei es zutiefst charakterisierenden Wörtern, ist scheiße — der auf Gruppengeist, eine contradictio in adiecto, trimmende Sportunterricht allem voran (angemessen allein ist, von “-ungeist” zu sprechen):
Nach jedem Schubs krümmte er sich noch mehr zusammen und verbarg sich schließlich im Halbdunkel. So saß er etwa zweihundertfünfzig große Pausen hindurch, bis man ihn ins Ausland brachte.
Lushin, 24/25
Zur Milderung seiner Not — ja sie erfüllen statt ihrer sein Innres, lassen es blühen: — entdeckt er zwei Bücher, von denen eines, bzw. die ihm folgende Serie an Erzählungen, → auch mich tief geprägt hat. Ich habe in dieser Nabokovreihe den Umstand schon mehrfach erwähnt.
Aber nicht die Sehnsucht nach ferner Wanderschaft ließ ihn Phileas Fogg folgen, nicht das kindliche Gefallen an geheimnisvollen Abenteuern zog ihn zu dem Haus in der Baker Street, wo sich der hagere Detektiv mit dem Falkenprofil eine Kokainspritze gegeben hatte und träumerisch Geige spielte (…), sondern ihre sich folgerichtig und schonungslos entwickelnde Handlung.
Lushin, 31
Es ist rasend interessant, daß Nabokov, wenn auch indirekt, den Grundstein seiner Poetik genau hier gelegt sieht. Welch ein, bei ihm doch ganz und gar unvermutbar, Ausdruck künstlerischer Demut! Zugleich erklärt es seine sogenannte Arroganz. Sie ist, wie Holmes einmal ausführt, nichts als geäußerte Erkenntnis eines tatsächlichen Seins. Zu sagen, was tatsächlich sei (daß etwa er über eine Beobachtungsgabe verfüge, deren Fenster bei den allermeisten bretterartig verdunkelt sind), habe nichts mit mißachtetem Understatement zu tun, sondern zeige die innere Klarheit. Nicht anders ist Nabokov mit seiner ja tatsächlich begnadeten Erinnerungskraft und der Fähigkeit umgegangen, ihr einen sprachlichen Ausdruck zu verleihen, der uns, seine Leserinnen und Leser, geradezu bildlich an ihr teilhaben läßt. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß solche Fähigkeiten immer auch ein Fluch sind, zumindest indem sie unentwegt verpflichten. Und wie ließe sich Nabokovs Gabe anders beschreiben, als wie in der kurzen, einem anderen zugesprochenen Huldigung, daß nämlich Holmes
der Logik den Zauber eines Tagtraums verlieh.
Lushin, ebda.
Geschieht bei Nabokov nicht eben das in Gestalt der Fiktionen, die er aus seinen Erinnerungen entwarf?
Aber zu Lushin zurück, Lushin junior, der einer solchen Zauberwelt bedarf, um in der, wie man es nennt, “Realität” überhaupt bestehen zu können. Der Weg dorthin führt ihn über schließlich riesige Puzzlebilder zur ersten Begegnung mit einem Schachspiel, in das er die innigste Einführung erfährt, die sich denken läßt, und zwar von einem Musiker:
“Welch ein Spiel, welch ein Spiel,” sagte der Geiger und schloß das Kästchen behutsam wieder. “Kombinationen sind wie Melodien. Verstehen Sie, ich höre einfach die Züge [Sperrung von mir].”
Lushin, 42
Das Motiv wird siebzehn Seiten später poetisch noch verstärkt:
(…) und als Lushin nun die Schachpartien aus der Zeitschrift nachspielte, entdeckte er an sich selbst bald eine Eigenschaft, auf die er einst neidisch gewesen war, als sein Vater bei Tisch zu jemandem sagte, er begreife nicht, wie sein Schwiegervater stundenlang in einer Partitur lesen könn[t]e und beim Überfliegen der Noten alle Bewegungen der Musik höre.
Lushin, 59
Und schließlich, durchaus bereits als ein Meister des Spieles gefeiert, gelangt Lushin genau dort hin, wo auf anderem Feld sein Autor brilliert, der — wie es auch → Gerd-Peter Eigner tat, Nabokovs Bewunderer und wie dieser geprägt von Flaubert — seine Romane im Kopf entwirft, bevor er sie in einem Zug niederschreibt, gestützt nur noch auf Karteikartennotate. Lushin also spielt nur noch im Kopf. Dies allerdings kennzeichnet auch sein Verhältnis zur Wirklichkeit:
Man brauchte sich nicht mit den sichtbaren, hörbaren, greifbaren Figuren abzugeben, deren gekünsteltes Schnitzwerk und hölzerne Gegenständlichkeit ihn immer störten und ihm stets als eine grobe irdische Verkörperung der sublimen, unsichtbaren Kräfte erschienen, die dem Schach innewohnten.
Lushin,103
Entsprechend vernachlässigt er seinen Körper, geht mehr und mehr in die Breite, wird nahezu unbeweglich. Deshalb ist es schon gut, daß er an seiner Seite den wenn auch durchaus eigennützigen Walentinow als sozusagen Impresario hat, der
dessen Begabung unausgesetzt ermutigt und weiterentwickelt [hatte], ohne sich dabei auch nur einen Augenblick um den Menschen Lushin zu kümmern (…). Wie ein belustigendes Monstrum führte er ihn reichen Leuten vor, verschaffte sich dadurch nützliche Bekanntschaften, veranstaltete zahllose Turniere, und erst, als er den Eindruck gewann, daß sich das Wunderkind einfach in einen jungen Schachspieler verwandelte, brachte er ihn zu dessen Vater nach Rußland zurück, nahm ihn später aber wie eine Kostbarkeit wieder mit, als er meinte, daß er vielleicht einen Fehler gemacht habe und sich mit diesem Monstrum noch ein, zwei Jahre etwas anfangen ließ.
Lushin, 102/103
Das allerdings auf seinen Turnierreisen, auf denen Lushin — bis zu seinem Lebensende wird es so bleiben — von den geradezu weltweit besuchten Städten nie etwas anderes zu sehen bekommt als sein Hotelzimmer und die oft sehr verrauchte “Location” des Spiels, dennoch durch mehr oder minder Zufall, und zwar im Park eines Kurhotels, die Bekanntschaft einer Frau macht, der nämlich besonders gefiel,
daß er keine Notiz von ihr nahm und anders als die übrigen unverheirateten Herren im Hotel keinen Vorwand suchte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie war nicht besonders hübsch, irgend etwas fehlte ihren zierlichen, ebenmäßige Zügen, so als hätte ihnen die Natur einen letzten, entscheidenden (…) Stups vorenthalten, der sie zur Schönheit gemacht hätte.
Lushin, 93/94
Ecco, die beiden kommen zusammen und heiraten sogar. Womit in Lushins Leben eine Wendung eintritt, mit der in keiner Weise zu rechnen war. Nicht nur, daß es Nabokov höchst ungewiß sein läßt, ob die zwei jemals wirklich intim miteinander verkehrten — es ist eher unwahrscheinlich. Weshalb, das möge die folgende Szene des Hochzeitsantrags illustrieren:
Er platzte bei ihr herein, als [hätte] er die Tür mit dem Kopf aufgestoßen, sah sie undeutlich in ihrem rosa Kleid auf einer Couch ausgestreckt, sagte hastig: “Tag, Tag”(,) und begann[,] im ganzen Zimmer herumzumarschieren, überzeugt, daß sein Erscheinen ungezwungen, witzig und charmant wirken mußte, und gleichzeitig vor Aufregung ganz außer Atem. “Um übrigens auf das zuletzt Gesagte zurückzukommen, habe ich Ihnen mitzuteilen, daß Sie meine Frau werden, ich beschwöre Sie einzuwilligen (…),” und damit setzte er sich auf einen Stuhl am Heizkörper, verbarg sein Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus; dann machte er Anstrengungen, die Finger einer Hand so zu spreizen, daß sie sein Gesicht bedeckte, während er mit der anderen sein Taschentuch suchte, und durch die zitternden, nassen Spalten zwischen seinen Fingern sah er ein doppeltes rosa Kleid raschelnd auf sich zukommen.
“Nun, genug, genug”, wiederholte sie beruhigend. “Ein erwachsener Mann und so zu weinen.” Er faßte sie am Ellbogen und küßte etwas Kaltes und Hartes — ihre Armbanduhr.
Lushin, 114/115
Und etwas später:
Anfangs versuchte sie[,] ihn auf die eine oder andere Art in den Kreis ihrer Verwandten einzupassen, in ihre Umgebung, ja sogar in ihre Wohnungseinrichtung [Unterstreichung von mir].
Lushin, 114/115
Doch
diese imaginären Besuche endeten alle mit einer ungeheuren Katastrophe.
Lushin, 116
Und sehr viel später noch:
(…) Lushin rieb seine Wange an ihrer Schulter, und dunkel war ihr bewußt, daß es vermutlich noch andere Freuden gab als die des Mitleids, daß diese aber nicht sie betrafen. Sie kannte nur eine Sorge im Leben, nämlich die unaufhörliche Anstrengung, Lushins Interesse für die Dinge der Welt zu wecken und seinen Kopf über dem dunklen Wasser zu halten, damit er ruhig atmen konnte.
Lushin, 219
So viel also zur Leidenschaft. Wobei die Lushins Gattin so treibende Sorge durchaus nicht ohne Gründe ist. Nicht nämlich die Ehe, ich schrieb es schon, ist, was die Wendung bringt und bringen mußte, so daß dem weltfremden Mann diese Welt schließlich selbst zu einem Schachspiel wird, dessen nahezu unbezwingbarem Gegner, der Lushin aber herausgefordert hat, mit einer Verteidigung begegnet werden muß, die sein, Lushins, Leben fortan so radikal bestimmt, daß er nun erst recht an ihr scheitert. Nämlich während eines entscheidenden Spiels gegen den mächtigen Spieler Turati bricht Lushin unversehens zusammen:
Nur noch eine letzte, ungeheure Anstrengung mußte er machen, so schien es, und er fände den geheimen Zug, der zum Sieg führte. Plötzlich geschah etwas außerhalb seines Wesens, ein beißender Schmerz — und er stieß einen lauten Schrei aus, schwenkte die Hand, die mit dem Streichholz in Berührung gekommen war, das er angezündet und dann an die Zigarette zu führen vergessen hatte. Der Schmerz verging sofort, aber in dem feurigen Spalt hatte er etwas unerträglich Schreckliches erblickt, das ganze Grauen der unergründlichen Tiefen des Schachs. Er warf einen Blick auf das Schachbrett, und sein Gehirn welkte dahin in einer nie zuvor empfundenen Müdigkeit.
Lushin, 219
Die Zeitungen nachher sprechen von einem Nervenzusammenbruch, der Lushin denn auch in psychiatrische Behandlung überführt, als deren Folge wiederum der kranke Mann ein für alle Mal aus den Fängen des seinem Nervengefüge so unzuträglichen Schachspiels herausgerissen werden soll. Jede weitere Berührung wäre von niemals mehr heilbarem Schaden. Doch wie dies erreichen, wenn für den allein im Geist — darin indes geniehaft — flinken, im übrigen schweren, behäbigen Lushin doch das “wirkliche Leben das Schachleben” war,
harmonisch, überschaubar und voller Abenteuer, und mit Stolz empfand Lushin, wie leicht er in diesem Leben herrschen konnte, wie hier alles seinem Willen gehorchte und sich seinen Listen und Plänen unterordnete [und] alles außerhalb des Schachs nur ein bezaubernder Traum war, in [dem] das Bild einer lieben, helläugigen Dame mit bl0ßen Armen schmolz und zerging wie der goldene Dunst des Mondes [?]
Lushin, 152
Zumal immer wieder — wenn auch die Gemahlin sämtliche an diese andere, für Lushin einzig wahre Welt erinnernden Utensilien aus seinem Zugriff fortschafft — Versuchungen an ihn herantreten, die er erst selbst abwehrt, dann ihnen heimlich nachgibt, bis er eben begreift, daß nunmehr das Leben selbst zum Schachspiel wurde:
Von diesem Tag an gab es für ihn keine Ruhe mehr — er mußte, wenn das möglich war, eine Verteidigung gegen diese tückische Kombination finden, sich aus ihr befreien, und dazu mußte er ihr endgültiges Ziel, ihre verhängnisvolle Richtung vorhersehen,
Lushin, 247
schon weil der Herausforderer dieser Partie schlimmer, weit schlimmer als Turati war, ein nämlich göttlicher, quasi, Turati, gegen den uns zu verteidigen wir schließlich alle versagen. Da, als er es vielleicht schon begreift, sieht er es, vorher bereits, auf der Seite 181 nämlich:
Und nach Ablauf vieler finsterer Jahrhunderte — einer einzigen Erdennacht — wurde es wieder hell, und plötzlich barst etwas strahlenförmig, das Dunkel zerriß und blieb als ein verblassender, schattiger Rahmen zurück, in dessen Mitte sich ein strahlendes himmelblaues Fenster befand.
Lushin, 181/182
Die Erwähnung genau dieses Fensters, im Badezimmer, das erst ganz am Ende des Romans wieder auftaucht, ist ein ebenso ungeheurer Trick Nabokovs wie es für Lushin die ihn durchziehenden finsteren Jahrhunderte sind, die im nicht verstehenden Anblick genau dieses Fensters kulminieren, so daß er selbst, Nabokov, sich sicher war, es würde diese Stelle überlesen. Deshalb weist er 1963, nicht ohne Stolz an seiner Konstruktion und durchaus als Attacke, im Nachwort zur englischsprachigen Ausgabe eigens darauf hin. Im Buch kommentiert er — Achtung, ducken!: Baumpfahl, geschwenkt — das Fenster acht Seiten weiter folgendermaßen:
Eine jede Zukunft ist unbekannt — manchmal aber hüllt sie sich in besonders dichten Nebel, als wäre der natürlichen Zurückhaltung des Schicksals noch eine andere Macht zuhilfe gekommen und hätte diesen elastischen Nebel ausgebreitet, an dem jedes Denken abprallt.
Lushin, 200
Und dann taucht Walentinow, der alte Impresario, wieder auf. So bleibt, letztlich, nur die Flucht, und als nach ihm, dem geflohenen Lushin, die Menschen in der Wohnung suchen, brechen sie schließlich das Badezimmer auf. Mehr mag ich nicht erzählen. Lesen Sie, Freundin, lesen Sie’s selbst.
Ihr ANH