Statt des fünften Coronajournals: aus einem Brief an die Lektorin. Donnerstag, den 19. März 2020.

[Arbeitswohnung, 9.30 Uhr]

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Für Beruhigung ist’s in der Tat auch nicht die Zeit, wohin es sich bewegen wird, einigermaßen unheimlich klar: Die Ansteckungsraten werden rein mathematiklogisch enorm weitersteigen, kurze Beruhigung im Sommer (der Virus sei, heißt es, wärmeempfindlich), neuer Anstieg im Herbst. Wenn wir es zynisch sehen, weil eben mit Abstand, gibt es ein Auswaschen der Gesellschaft, ihrer ja tatsächlich problematischen Überalterung (Kollabs der Rentensysteme), Belastung der Krankenkassen durch ohnedies dauerhaft Kranke usw. Die anderen Indizien der Dekadenz, die ich immer wieder aufgeführt habe, kommen dazu: panische Überempfindlichkeiten an absurden Stellen (der einem Mädel nachpfeifende Straßenbauarbeiter gilt als Mißbraucher usw.), die insgesamt extreme Empfindlichkeit, bzw. bizarr niedrige Toleranzschwelle bei etwas, das eine und einen einfach nur stört, die Auflösung der biologischen Geschlechtlichkeit, dazu der seit über zwanzig Jahren in den westlichen Zivilgesellschaften eklatante Rückgang der Empfängnis-, vor allem aber Zeugungsunfähigkeit (betrifft bereits über 50 % aller jungen Männer) usw usf. 
Dann werden sich aus der — zeitlich tatsächlich unabsehbaren — „Krise“ neue Arbeitsmodelle entwickeln, die bereits um die Jahrtausendwende „an“gedacht und diskutiert wurden; man wird sich darauf vorbereiten müssen, daß es eben nicht mehr zu den morgendlichen und abendlichen Pendlerzügen kommt, die die Umwelt schwer belasten, sondern es wird in eine Richtung gehen, die ebenfalls längst vorgedacht wurde: Arbeit vorwiegend über das Netz, Facetime, Skype usw.; Konferenzen werden generell von Bildschirm zu Bildschirm abgehalten werden; auch die Chipentwicklung wird vorangetrieben werden – ständig weitere Entfernung von dinglicher Materialität. Chip an den Kopf, Gespräche werden direkt empfangen und geführt werden usw.
Dazu die Umweltbelastung insgesamt. → Luisa Neuberger hat ja völlig recht: Wenn den Umweltschützern ständig gesagt wurde, was ihr da verlangt, ist nicht machbar – Corona beweist das Gegenteil. Es ist machbar, wenn ein dringendes Problem als solches auch gesehen wird. Plötzlich geht, was die jungen Protestierenden seit langem forderten. Und auch mein Freund Utecht lag und liegt → mit seiner zynisch wirkenden Bemerkung nicht falsch, Trump habe schon recht: Der Globus regle es selbst.

Bei alledem wissen wir aber nicht — nicht einmal dies — ob nicht jene Virologen und etwa Stephan Thomae richtig liegen, die derzeit sagen, es werde unverhältnismäßig übertrieben; die Krankheit sei eben nur für wenige gefährlich; die einer ausgerufenen Notstandsgesetzgebung gleichkommenden harten Einschränkungen unserer Bürgerrechte seien in keiner Weise gerechtfertigt. Sorgen macht mir auch die Schließung der innereuropäischen Grenzen, was einem neuen Nationalismus entspricht. Etwas anderes wäre gewesen, hätte man wahrhaft-europäisch nach Bundesländern, bzw. Regionen abgeriegelt: Hessen gegen Niedersachsen, dieses gegen Schleswig-Holstein usw., Tirol gegen Niederösterreich, Vorarlberg gegen Deutschschweiz, diese gegen romanische Schweiz usw., Katalonien gegen Kastilien und und und. Hochgefahren werden aber wieder die Nationalgrenzen. Plötzlich stehen da nicht mehr Europäer, sondern Franzosen wieder gegen Belgier, Niederländer gegen Deutsche, Deutsche gegen Österreicher, um vom sowieso schon lange alleingelassenen Griechenland zu schweigen. Das Vereinte Europa nur noch Farce, und mit Defender Europe 20 marschiert die US Army durch – anstelle, daß wir sie schlichtweg ausweisen – „ausschaffen“, wie der Schweizer sagt.

Erst einmal verlieren werden in der Tat wir, die ohnedies knapsen — ökonomisch verlieren, sofern wir keine Rücklagen haben. Was zumindest bei mir der Fall ist. Aber ich denk mir: Nun gut, wenigstens ein lustiges Prekariat, das mir nämlich erlaubt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, ohne Schuld- und wirtschaftliche Versagensgefühle zu haben. Die kleinen Verlage werden sich andere Vertriebswege suchen müssen; den Buchhandel halte ich ja schon lange für ein künstlich ernährtes Marktsegment, das sich dennoch auf den Mainstream wirft und kleine Verlage meist ignoriert, in grosso modo, nicht bei einzelnen Engagierten. Es könnte aber für Einzelkämpfer eine Chance wieder geben, wenn der allgemeine Popkonsens derart auf die Rübe kriegt.

Schon auffällig, wie ich derzeit komplett voll Optimismus bin, dies vielleicht deshalb, weil ich das Empfinden habe, daß meine Hauptarbeit getan ist, ich nur noch Weniges hinzutun kann, das aber das ästhetisch Erreichte kaum mehr übersteigen wird, allenfalls noch in der Lyrik. Wenn’s mich also erwischen sollte, ich habe keine Furcht, bin geradezu stoisch bereit. Kinder werde ich auch keine mehr bekommen, was mir einzugestehen das für mich Schlimmste in den letzten vierfünf Jahren war, was sich auch nur hätte ändern lassen, wenn ich zu Wohlstand gekommen wäre. Mütter sind pragmatisch, notwendigerweise. So aber fühle ich mich aus dem Fließen herausgenommen. Die Tür ist zugeschlagen und läßt sich kaum mehr öffnen.
In THETIS habe ich von der „Großen ökologischen Revision“ geschrieben, bereits 1998. Ich bin fast schockiert, wie sehr es sich nun bestätigt. Dabei hat man nur nachdenken müssen. Nein, mir gefällt mein Rechthaben nicht. Es zeigt aber die Kraft, die in Dichtung nach wie vor liegt, ihre Fähigkeit, seismografisch vorherzuformen, was kommen wird. Das ist etwas, das mich zur Zeit beruhigt, mehr allerdings, daß die Jungen von Covid-19 nicht so betroffen sind, daß sie in aller Regel gut da durchkommen. Denn das bedeutet: Zukunft. Es ist, wie ich in den Bamberger Elegien schrieb:

 

(…) um zu spüren, sie fließt noch, die Regnitz, vor meinem Fenster, und fließt in den Augen der Kinder, der deinen, mein Sohn, die deiner künftigen Frau, künftiger Frauen, ja weiß man es?, sind – und den späteren Mai­nen zu, späterem Rhein, denen viel spätere Rosen, die merklos erfrieren, nicht nachsehen in ihre späteren Meere. Den Zeitstrahl zu fühlen, worinnen wir stehen und dem wir zwar selbst nur Fragment sind, doch eines, das atmet und mittat. Das bleibt wie der Leibstoff, Körper gewesener, bleibt meines Leichnams.

Die Welt war noch nie für die Sensiblen gebaut, es galt immer the survival of the fittest — doch „fittest“ ist eben ein interpretierbarer Begriff; es könnte sich zeigen, daß die Computer-Nerds, die sich nur von Kartoffelchips ernähren, eben diese „fittest“ sind, jedenfalls zu ihnen gehören. Ihre Auftragslage wird sich enorm steigern. Zugleich wird die Unterhaltungsindustrie extrem wachsen, sofern sie ihre Strukturen ändert, bzw. radikal in eine Richtung weiter ausbaut, online nämlich, die ohnedies schon eingeschlagen wurde. Im Kulturbereich werden dann auch unsere Disziplinen wieder wachsen – allerdings eher nicht mitbetrieben von uns selbst, die wir nicht mehr zu den Jungen gehören, sondern eben von denen. Was ich allerdings als eine natürliche Entwicklung ansehe, eine der tatsächlich Natur, einig mit der Evolution. Seit langer, lange Zeit habe ich wieder das Gefühl, mit Existenz konfrontiert zu sein und nicht nur elend-permanent mit industriewestlichen Überbauproblemchen.

Und dann schau mal! Welch ein Frühling mit einem Mal ist! Hier bei mir „schlägt“ der Amelhahn nicht, nein, er schmettert. Und ab unterdessen schon halb fünf ist ein Tschilpen und Zwitschern im Gang, daß mir das Glück gleich beim Erwachen bis in die Kehle hinaufsteigt und ich eigentlich mitsingen möchte. Sieh es bitte so: Aus Katastrophen haben die Menschen immer gelernt, jedenfalls fast immer. Risiken öffnen Möglichkeiten, im Sicheren gehen wir unter.
(…)

13 thoughts on “Statt des fünften Coronajournals: aus einem Brief an die Lektorin. Donnerstag, den 19. März 2020.

  1. Facebook 19.3.20, 11:57 Uhr

    Peter H. Gogolin
    Hallo, habe eben die Subscr. Deiner Dschungel-Verlautbarungen abbestellt. Ich finde Deine Phantasien vom „Auswaschen der Gesellschaft“ faschistoid und werde mir als „dauerhaft Kranker“ das nicht mehr anhören. Du wirst sicher genug junge gesunde Menschen, mit denen Du Dich umgeben kannst, finden und brauchst mich nicht. Welche Farbe hat übrigens der Stern, den Du den alten Kranken da anheftest? Gelb ist ja schon lange vergeben. Ciao

    ANH
    Was für ein Quatsch, Peter! „Faschistoid“, also wirklich, Ich denke nach, spekuliere, überlege – und schlag nicht meinerseits auf Leute ein, die anderer Meinung sind oder andere Positionen haben – schon gar nicht würde ich ihnen das untersagen. Wenn ich das täte und auch könnte, dann und nur dann wäre es faschistoid.Und in Der Dschungel sowieso lasse ich jede Meinung, auch komplett andere als meine, z u. Das ist faschistoid? Ich glaube, Du spinnst!

    PHG
    Dein Vokabular passt ins Wörterbuch der Nazis. Hör bitte damit auf.

    ANH
    Jetzt auch noch Nazi, klasse. Du folgst Tabus, internalisierten Denkverboten. Ein wirkliches Gegenargument kommt von Dir nicht – ich wäre dafür offen und sogar dankbar, wenn es stichhaltig wäre. Als लक्ष्मी mir neulich sagte: „Die Lunge der Erde ist krank. Covid-19 ist eine Lungenkrankheit.“ fing ich nachzudenken an. Jetzt werden die Bürgerrechte eingeschränkt, die Nationalgrenzen wieder hochgefahren, und die US Army wird nicht ausgewiesen. Der Gedanke, daß sich möglicherweise hier ein System (eher ist es eine Matrix) selbstregulativ benimmt, muß möglich sein. Der Unterschied zu einem Nazigedanken ist eklatant,, insofern als ich nicht vorgebe oder gar tätig dabei mitmache, geschweige es vorantreibe, mich selbst an die Stelle eines Handlungsbevollmächtigten der Natur zu setzen.
    Aber diesen Nazi-Vorwurf werde ich jetzt mit Klarnamen in Die Dschungel stellen, auch wenn es sich um eine Privatnachricht handelt. Sie ist nämlich schwer verletzend. Wenn Du willst, kannst Du dann ja eine einstweilige Verfügung dagegen erwirken, die ich freilich ebenfalls in Die Dschungel stellen würde. Selbstverständlich lege ich zugleich einen Link auf Deine Site und schreibe dazu, daß ich Calvinos Hotel selbstverständlich weiterhin für einen der großen europäischen Romane halte. Es ist wichtig, solche Widersprüche zu vertreten und Ambivalenzen auch zu leben, anstelle zu „entfreunden“ oder abzuabonnieren. Auch das ist übrigens gewiß kein „Nazi“-Gedanke…

    PHG
    „Die Lunge der Erde“ ist Blödsinn, von dieser Metapher auf eine reale Lungenkrankheit zu schließen, das ist animistisches Denken. Wenn Du dadurch zum „Denken“ angeregt wirst, dann ist das schon bedenklich. Ich nenne nur mal einen Punkt: Diese NATO-Übung ist vor knapp 3 Jahren vereinbart und in die Planungsphase gegangen. Sowas ist ein riesiger Apparat, den man nicht einfach stoppen kann. Dass es trotzdem weitgehend getan wurde, das spricht für das genaue Gegenteil dessen, was Du unterstellst. Und natürlich können wir die Amerikaner nicht einfach so aus dem Land weisen. Es sind unsere führenden Partner in der NATO. Deine Argumentation dagegen schrammt bedenklich nahe an der der „Reichsbürger“ vorbei. (PS: Ambivalenzen: Ich schreibe Dir das übrigens nur, weil ich Dich für einen Freund gehalten habe, von dem ich ansonsten denke, dass er das bedeutendste Prosawerk im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Aber gerade deshalb bin ich andererseits jetzt ja auch so enttäuscht. Ich würde mich mit irgendeinem anderen FB-Kontakt über solche Themen ja überhaupt nicht streiten.)

    ANH
    „führender Partner der NATO“ – das genau ist der Skandal. Ein Land, das Folterlager führt, sich permanent in andere Länder auch mordend eingemischt hat usw. Das darüber hinaus für „unsere Befreier“ gilt, obwohl der Eintritt in den 2. Weltkrieg erst erfolgte, als längst klar war, daß Hitler verlieren würde und man jetzt Beute machen wollte. Die USA sind im übrigen die einzige Nation der Welt, die auf dem Völkermord gegründet wurde. – Und selbstverständlich hätte Europa nach Ausbruch von Corona sofort alles absagen können. So, wie auch unsre anderen Verträge jetzt nicht erfüllt werden, was zu massenhaften Konkursen führen wird und einer wahrscheinlich riesigen Arbeitslosigkeit. Aber egal, mir „Nazi“ vorzuwerfen, ist geradezu ekelhaft. – Im übrigen, was animistisches Denken anbelangt, woher weißt Du denn, daß es nicht etwas trifft? Ist doch eine reine Vermutung, bzw. Ansicht.

    PHG
    Das ist mir jetzt ein zu großer und vor allem undifferenzierter Rundschlag. Übrigens gründen ALLE Nationalstaaten, wie sie im 17. und 18. etc. Jahrhundert entstanden auf ethnischen Säuberungen. Das kann und sollte man wissen, es führt aber jetzt nicht weiter.

    ANH
    Soviel ich weiß, aber nicht Italien – und auch nicht das Deutsche Reich vor Hitler. Aber das ist 19. Jahrhundert. Wobei der undifferenzierte Rundschlag von Dir kam, indem ich Nazi erklärt werde.

    PHG
    Schau Dir die Kolonialgeschichte an.

    ANH
    Ich meine den Völkermord im eigenen Land. Das ist noch einmal etwas anderes.Und hier hat Lezama Lima mit den USA eben recht.

    PHG
    Aber darum gehts hier nicht, du vermengst alles. Auch im Brief an die Lektorin übrigens. Für mich klingt das alles sehr nach dem, was die Autoren der europäischen Moderne herausposaunt haben und was sie so faschismusanfällig machte. Sieh Dir meinen Liebling Ezra Pound an. Wie hielten sie sich alle für fortschrittlich und revolutionär.
    Man müsste darüber ausführlich und differenzierter sprechen. Auch mit Betonung auf Deinen, ich sag mal etwas böse, Körperkult. Aber da ergeben sich Parallelen und zumindest Annäherungen, die ziemlich problematisch sind.

    ANH
    Sie sind problematisch nur dann, wenn man sie mit „Rasse“, „Vorherrschaft“, „Volk“ und eben auch „Nation“ verbindet, was Auf- und Abwertungen bedeutet. Nichts davon gibt es bei mir, im Gegenteil. Ich plädiere entschieden für Vermischung, sowohl der Menschen als auch ihrer Kulturen und Religionen.. Allerdings stehe ich auf der Seite der Biologie, ohne aber in ihrem „Namen“ eingreifen zu wollen. Dennoch kann ich Prozesse der Selbstregulierung empfinden und das auch äußern.Darf ich es nicht mehr, greifen Tabus.

    PHG
    Tja, wie gesagt, darüber müsste man sprechen. Aber das führt momentan zu weit. Im Augenblick reicht es mir, mich damit abfinden zu müssen, dass angeblich Gesündere mich für die notwendigen Auswaschungsprozesse der Gesellschaft vorsehen. Da bin ich leider sehr empfindlich.

    ANH
    Das verstehe ich, sogar sehr gut. Aber gestehe auch mir zu, daß ich mich selbst bei all diesen Überlegungen mit hineinnehme. Denn objektiv gehöre ja auch ich zu den Gefährdeten, „rein“ vom Alter her. Ab 65 sei man, definiert die WHO, alt. „Geriatrisch“ sei man allerdings erst ab 70.

    1. [19.3.20, ab 16.25 Uhr: Fortsetzung des – nunmehr – Gesprächs:}

      Peter H. Gogolin
      Wir erfahren eben, dass Corona bei unserem Nachbarn angekommen ist. Er arbeitet im Freibad. Der Chef dort hatte am 9.3. Kontakt mit einem Infizierten und war am 11.3. bei ihm zu Hause zum Kaffee, jetzt ist er gerade in Quarantäne befohlen. Unser Nachbar hat erste Symptome und seine Mutter (94), mit der er zusammenlebt, ebenfalls. Unser Gärtner ist zudem der Arbeitskollege des Nachbarn, der wollte gerade zum Rasenmähen kommen. Wir haben ihn in dieser Minute ausgeladen. Jetzt können wir nebenan beobachten, wie der „Auswaschungsprozess“ fortschreitet.
      Das war das Ergenis eines Gespäches über die Gartenmauer.

      ANH
      Bleibt ruhig, bitte. Daß es so weitergehen wird, ist rein logisch-mathematisch klar. Wolf Singer vor ein paar Tagen zu Phyllis: es wird erst abflachen, wenn etwa 70 % aller Deutschen infiziert sind. Auch mich wird es erwischen. Dennoch ruhig bleiben, nach vorne sehen, liebe Jutta und Peter.

      PHG
      Wir könnten es schon haben, denn am 13. wollte unser Gärtner kommen und hat den Termin vergessen. Zum Glück!

      ANH
      Bitte sag mir so oft wie möglich Bescheid, ob es bei Euch gutgeht. – Morgen werde ich noch eigens zu Deinen Vorwürfen im Arbeitsjournal schreiben, um deutlich abzugrenzen, daß ich es nicht, gar nicht begrüße, wenn Gefährdete erkranken, und ich auch alles tun werde, um zu helfen, daß aber den Gedanken zu haben, hier finde sein Selbstregulierungsprozess statt, zugleich „erlaubt“ sein muß. Das heißt ja nun wirklich nicht, daß man ihn unterstützen will, bloß, daß er möglicherweise wirkt.Genau da liegt aber der Unterschied zu faschistoidem „Denken“. Ich bin ja auch f ü r den Sündenfall, nicht gegen ihn, fand es immer r i c h t i g, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben, auch wenn es die Vertreibung bedeutet hat. Usw. – Eine Freundin aus Rom schrieb mir, „wenn es so weitergeht, dann non ritoriamo a veder le stelle“. Ich habe geantwortet: „Wir werden viel weinen, aber es wird weitergehen.“ Und ein „Corraggio, Maria“ ihr zugerufen.

      PHG
      Ja, gut – diese Differenzierung kann Du ja noch anbringen. Ich habe ja auch nicht gesagt, dass Du ein Faschist bist. Sonst müsst ich auch sagen, dass es um die nicht schade ist. Aber das sage ich auch nicht.
      Stichwort Sterne. Gestern habe ich gedacht, dass ich gewissermaßen die gesamte Entwicklung der menschlichen Kulturleistungen mit einem Blick umfassen könne. Vor mir lag ein Webteppich, dessen Muster aus der jungsteinzeitlichen Siedlung Çatalhöyük stammten. Und während ich dies sah querte, wie jeden Abend um diese Zeit, im Fensterausschnitt meines Arbeitszimmers über unserem Garten die internationale Raumstation hellleuchtend den Himmel. Zwischen diesen beiden Punkten liegt alles – Çatalhöyük 7000 bis 8000 vor Christus. Und die Raumstation 2000 danach. In diesen läppischen 10.000 Jahren ist alles passiert. Jede Geschichte, die je geschrieben wurde, jeder Traum, jede Erfindung, jede Missetat, ach, alles. Es ist zum Weinen.

      ANH
      Aber ein Wahnsinns Gedanke, wie eine Erscheinung. Hatte grad einen Schauer den ganzen Körper hinab –

      PHG
      Wenn alles vorbei ist und wir noch leben, dann musst Du uns mal besuchen. Wir machen dann eine Sommernacht in unserem Garten durch. Und darüber so viel Himmel.

      ANH
      Jaaaaaaa! — (Muß jetzt meinen Hyperion-Textteil auf Band sprechen – fürs Literaturhaus Berlin, wo ich morgen an der >>>> Hyperion-Gesamtlesung teilnehmen sollte. Das ist natürlich auch gecancelt, aber sie wollen die Lesungen streamen, als Audidatei, aufgenommen über Skype. Ich meinerseits lse einfach in meinem Tonstudio ein – das wird von der Qualität entschieden besser sein, außerdem kann ich Versprecher schneiden. Dann bekommen sie drüben das Tonfile.)

      PHG
      Den Link dazu hätte ich gern. Der Hyperion hat mir gewissermaßen mal das Leben gerettet.

      ANH
      Aber ja. Ich weiß ihn nur selbst noch nicht. Aber er kommt morgen früh in Die Dschungel sowie auf FB, und Dir schicke ich ihn zusätzlich gesondert.

  2. Dass die Letalität des neuen Corona-Virus besonders die ältere Generation trifft, hat ja Gründe: Es sind dies überwiegend Menschen mit Vorschäden. Und nicht vergessen, demoskopisch gibt es einfach mehr ältere als jüngere Menschen. Bei der spanischen Grippe war die Letalität der 20-40-jährigen am häufigsten, diejenigen mit dem stärksten Immunsystem. Das starke Immunsystem reagierte damals bei dieser Personengruppe „über“. Bei entsprechender Mutation des neuen Corona-Virus in einer zweiten Welle im Herbst, kann dies übrigens dann eine andere Bevölkerungsgruppe treffen, vielleicht diejenigen, die jetzt völlig lebensbesoffen Corona-Partys feiern? Ach und „Nazi“ werden wir früher oder später alle genannt. „Nazi“ bezeichnet heute das, was früher der „Arsch“ war. He, du Arsch! He, Du Nazi! Schon traurig, dass ein so knüppelharter Ausdruck wie der des „Nazi“ so fahrlässig verwässert wird. Ich höre da ein 7-millionenfaches-sich-im-Grabe-umdrehen! Aber egal, in unserer völlig überhitzten Zeit gehört eh die Hälfte der Bevölkerung in betreutes Wohnen und unter psychologisches Monitoring.
    Was die „Seele der Erde“ betrifft, empfehle ich die Lektüre der Bücher von Prof. James Lovelock. Sein aktuelles Buch hat er mit beinahe 100 Jahren geschrieben und hat den Titel: „Novozän“.
    Ich stimme zwar nicht mit allem überein, was Lovelock über seine „GAIA-These“ schreibt, reizvoll und nachdenkenswert ist es aber dennoch.
    Ach ja, Klopapier ist alle!

    1. Klopapier:
      Ich mußte gestern spontan daran denken (und wollte erst ein böses Bonmot – ein „Malmot“ also – dazu schreiben, verwarf es aber dann), daß der Deutsche nun wieder in der banalsten Volkspsychologie angekommen ist, die „unser“ IchbindasVolk dem >>>> analen Charakter zuschlägt. Es paßt einfach zu „gut“. Dafür heißt es, so hörte ich eben von >>>> Phyllis Kiehl, horteten die Franzosen vor allem Rotwein und Kondome, und die US-Amerikaner (Konjunktiv:) kauften —- Waffen.

  3. Darf ich mich hierzu nochmal einbringen, …..Mensch, Mensch, Leute….ich kann mir mit meinen desinfizierten Händen nur noch ins Gesicht fassen….hört auf, eine überaus elendige und unwürdige „Nazi und Faschistoid Diskussion“ gerade jetzt zu führen, das ist ja noch beklemmender, als das was ich heute von Oberärzten der Uniklinik FFM erfuhr, die Uniklinik FFM fährt gerade runter, alle regulären Einrichtungen werden in den nächsten Tagen geschlossen werden, die Uniklinik FFM und ihr Personal soll sich nur noch für Covid-19 Erkrankungen bereit halten, damit ist ein Ernstfall ausgesprochen, der Eure Diskussion geradezu lächerlich wirken lässt. Kommt zu einer, wie auch immer gearteten Vernunft zurück… und geht nicht Eis Essen/in den Park/noch eben mal um die Ecke auf ein Glas Wein oder gar Virus Feiern in Berlin bei frühlingshaften Temperaturen, sondern schützt Euch & Andere, weder die „Lunge der Erde“, noch irgendwelche Trump Metaphern, der Globus möge es gerade von selbst regeln…sind hier hilfreich!

    1. Danke, Herr Dr. KB, daß Sie sich einbringen. Und in der Tat, hilfreich sind Gedanken in solch einer Situation nicht, das ist wahr. Aber sie kommen und suchen ihren Ausdruck. Dabei geht dann manchmal etwas schief, vergreift sich im Ton, wohl auch in den Metaphern – aber es ist eine Form des Sichwehrens, die uns unser Sein läßt. Nichts ist schlimmer als komplette Hilflosigkeit, zumal wenn wir in den Wohnungen isoliert sind. Dieses Sichwehren ist erstmal eine Vorstufe der sicher danach einsetzenden künstlerischen Bewältigung und als solche, auch wenn sie nicht objektiv hilft, tatsächlich hilfreich, nämlich seelisch. Denken Sie an die bildnerischen Totentänze, ans barocke memento mori, an die Vanitas-Ermahnungen usw. Objektiv helfen sicher auch Gebete nicht, da die Wahrscheinlichkeit, daß es einen Gott (oder mehrere Götter, bzw. Göttinnen) gibt, doch sehr gering ist. Dennoch finden Millionen Menschen darin Halt. Und solche wie ich in Spekulationen, die über den Anlaß hinausgehn. Wir ringen dem Geschehen sozusagen einen Sinn ab, von dem es egal ist, ob er objektiv stimmt. Daß wir gleichzeitig die Schutzmaßnahmen beachten, steht dabei für mich außer Frage. Aber man kann – und ich tu’s – sich durchaus die Frage stellen, was ist mit mir, wenn’s mich trifft? „Gehe“ ich dann grollend oder imgrunde einverstanden? Das sind die, nun jà, „Dinge“, die hier grad verhandelt werden. Ich selbst gehöre meinem Alter nach zur Gefährdetengruppe, einer meiner Gesprächspartner, und heute halt Gegner, ist sogar extrem gefährdet. In meiner nahen Bekanntschaft sind bereits zwei Leute an dem Virus verstorben; beide waren alt und, obwohl im Geist hellwach, gebrechlich. Da einfach zuzusehen, ohne zu denken, würde das Gefängnis erst richtig schließen.
      Leider bin ich weder Arzt noch als Helfer ausgebildet, sonst stünde ich tätig „im Feld“ mit. Denn nichts ist schlimmer als Handlungsunfähigkeit; besser erfolglos handeln als gar nicht. Und Künstler handeln immer — vermittels ihrer Kunst, der Gedanken meistens vorausgehn.

      1. Ich denke auch, die Situation ist inzwischen da angelangt, wo man eine Diskussion in einem Blog nicht so wichtig nehmen sollte. Alle Beteiligten hier sind ja keine Entscheidungsträger im realen Leben, sondern meist ältere oder alte Personen, die ein bissel reflektieren möchten, was gerade geschieht in unserem Land, in Europa, in der Welt.
        Da ich in einem „geriatrischen“ Alter angelangt bin, wie ich hier lerne, empfehle ich nur etwas Besonnenheit in der Wortwahl. „Faschistoid“ oder „Nazi“ ist hier niemand.
        Ich lese hier ganz gerne und bin bestimmt nicht mit allem einverstanden, aber viele Blogs gibt es nicht, wo man solche auch interessanten Anstöße findet bei allem möglichen Widerspruch.
        Das sollte niemand kaputt machen bei allem Verständnis für persönliche Probleme.
        Ich möchte nur ein Beispiel erzählen. Mein Vater starb 1967 in der DDR, er war 55 Jahre alt und starb am Nierenversagen (Schrumpfniere). Die Ärzte im Klinikum Buch erklärten damals der Familie, dass nur ein Gerät zur Verfügung stünde, um ihn zur Blutwäsche anschließen zu können. Er wäre zu alt gewesen, um ihn dort einreihen zu können. Ich wurde gerade 17 Jahre alt, als ich den Vater verlor.
        Sie ließen ihn quasi sterben, weil andere Kandidaten jünger waren. Wir alle, die Familie, nahmen das hin als ein Schicksal.
        Wenn ich heute mit 70 Jahren am Corina-Virus erkranken sollte und kein Beatmungsgerät zur Verfügung stünde, könnte ich das akzeptieren, was dann geschieht, ohne jemanden, der darüber nachdenkt, als einen Nazi zu bezeichnen.
        Es ist so, wie es ist.
        Und es muss das Recht bleiben, dass man das aussprechen darf, sorry, ohne so unter der Gürtellinie angegriffen zu werden.
        Ansonsten entwickeln wir eine Meinungsdiktatur unter dem Mantel einer angeblichen Moral.

      2. Frau Dr. med. KB….und würde mich Italien/Griechenland rufen, ich wäre sofort dabei, meine hausärztliche Praxis zu schliessen, um andernorts Hilfe zu leisten. Covid-19 bedeutet, ohne Überdruckbeatmung mittels Intubation, sie sterben bei vollem Bewusstsein, sie haben keine ausreichenden Morphine in Italien, es ist die schlimmste Art zu sterben, wie ein langsames Ertrinken…der Gasaustausch O2 vs. CO2 funktioniert nicht mehr, bei einer interstitiellen Pneumonie beider Lungenflügel. Dagegen ist eine Pneumokokken bedingte Lungenentzündung, wie sie bei Älteren auch mal vorkommt, ein immer beherrschbares klinisches Bild.

        1. Verzeihen Sie: Frau Doktor, da ich’s jetzt nun weiß. Und mit der pneumokokkenverursachten Pneumonie kenne ich mich ein bißchen aus, da ich vor zweidrei Jahren solch eine hatte (heftige Thoraxschmerzen, ich aufs Rad (!, typisch …) und zur Charité, wo man mich sofort drannahm, ein paar Stunden aufs Untersuchungslager legte, dann war der Befund klar. (Es war ein Sonntag, sonst wäre ich zu meiner Hausärztin spaziert, was ich nächstentags tat.) Die jungen behandelnden Charitéärzte haben übrigens sofort kapiert, wie ich ticke, und mir das Rad expressis verbis verboten. Ich war da noch extrem trainiert, aber selbst der dann nur kurze Weg zu meiner Ärztin (die ich ausgesprochen schätze, Uta Stege, Stargarder), war mit einem Mal kaum mehr zu bewältigen. Auch hatte sich das Fieber nunmehr eingestellt (es schießt bei mir seit meiner KIndheit immer schnell und ziemlich sehr hoch). Manches fand ich aber dann sogar komisch, vor allem, daß sogar zu duschen schwer fiel, vor allem, sich bückend sich Füße zu waschen: sofortige Atemnot; ich schwitzte sogar unter der Dusche und fröstelte zugleich. – Das Fieber selbst war wie Morphin: Ich döste drei Tage vor mich hin, konnte nicht mal mehr hier in Der Dschungel schreiben – habe eben gesucht, ich finde keinen Eintrag.
          Es war mir lieb, allein zu sein. Wenn ich krank bin, ziehe ich mich wie ein Tier zurück – wenn es stimmt, was über Tiere gesagt wird. Einzweimal schaute die Mama meines Sohnes herein, was einerseits schön war, obwohl es natürlich nichts half; andererseits war es mir unangenehm, weil ich erkrankt wirklich lieber allein bin: eine Frage meines Stolzes.
          Penicillin, klar, nach vier Tagen war der schlimme Spuk vorüber. Wenn so etwas, weil die Ursache eben viral, nicht anschlägt, habe ich ein deutliches Bild von dem, was Sie beschreiben. Und der kompletten Hilflosigkeit, des völligen Ausgeliefertseins, die und das dies bedeutet. Ich bin dankbar, daß Sie es mir (und meinen Leserinnen und Lesern) so klar vor Augen stellen. Denn es verdeutlicht mir, wie nötig es ist, jetzt bereits eine innere Haltung zu finden und ggbf. für mich selbst die Konsequenzen zu ziehen.

  4. Sehr geehrter Herr Herbst, INNERE Haltung und für SICH die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, erscheinen mir derzeit die einzig richtigen Maßnahmen. In Italien werden gläubige Ärzte und Pfleger/Innen gebeten, zumindest symbolisch beim Eintritt des Todes ein Kreuz auf die Stirn der Sterbenden zu zeichnen, wenn es ihnen schon nicht möglich ist/war, von Angesicht zu Angesicht, den Jeweilig Anderen, der Jeweilig Anderen mit einer letzten Zwiesprache/Aussprache, ohne deren Angehörige angemessen begleitet haben zu können. Das sollte uns Allen, auch uns Atheisten…einen Moment in tiefer Stille bescheren. Danke für Ihre Rückkopplung!

    1. „zumindest symbolisch ein Kreuz auf die Stirn“: Welch ein starkes Bild, Frau Dr. KB! „Stark“, weil es nicht „nur“ offenbar Realität, sondern zugleich enorm poetisch ist. (Poesie ist, auch wenn der Klang des Wortes etwas anderes suggeriert, kein Weichspüler). Und ist es hier, ob wir gläubig oder nicht, nicht tatsächlich eine Erlösung, wenn der Tod eintritt? – jedenfalls demzufolge, was Sie >>>> dort geschildert haben?

  5. Ja, Erlösung mag es bedeuten, im Sein des Sterbens.
    wie schlimm muss es sein ….langsam zu ersticken oder zu ertrinken?

    Nein, wie schlimm muss es sein, dass keine menschliche Wärme, keine schützende Hand, keine letzte Liebkosung im letzten Moment er-fahren werden darf.

    Auf der letzten, diesseitigen Reise.

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