Skandal der moralischen Anthropologie

Sexualität ist der nachtschwarze Schatten des Baums der Erkenntnis, aus der sie die Unschuld verlor. Sie steigt aus dem Grund in den Geist. Da aber klopft sie sein Helles ab, das seine Wurzeln verleugnet, und höhnt es. Was immer er versteckt, sie, wenn zugelassen, deckt es auf und überführt die Kultur ihres anthropologischen Scheins, stellt unser Selbstbild bloß. Eben deshalb ist sie von Religionen verteufelt worden und auf den Scheiterhaufen wie Hexen gezerrt, die noch, wie panisch befürchtet, um den Hintergrund wußten, der Untergrund ist. (Und deshalb fordert der Islam, der Mann müsse die Frau befriedigen können. Vermag er es nicht, verliert er die Macht.)
Wie wir schnüffeln! Was wir dann lecken! Und saugen, ziehen, schlürfen es ein. Wonach’s uns — was, wo’s nicht verdrängt ward, wir meistens verstecken — gelüstet. Frauen wie Männer.
Welch Irrtum vor allem des Biedermeiers, den Frauen die Lust abzusprechen! Und welch peinlich erbärmliche Notwehr, sie ihnen durch Beschneidung zu nehmen! “Welche Frau schleimt nicht schon gerne mal bißchen herum?” wie eine Geliebte spottend sagte, und ihr leises, hochbewußtes Lachen durchleuchtete den Raum. Da läuft was, das nicht wir, das mehr ist als wir, durch unser Gehirn und macht es sich rollen. Da wird geschrien nach dem, was wir scheuen, wenn wir bei Tag autonom sind. Daß wir es nicht sind, ist der Skandal.
Dies soll verborgen bleiben, verborgen wieder werden.

DLXXI

3 thoughts on “Skandal der moralischen Anthropologie

  1. Ach, Baum der Erkenntnis, Tabu Sexualität, repressive Sexualmoral, das Volk dumm halten… Ich glaube seit der Obertertia, daß das alles viel einfacher zusammenhängt – denn mangels Argumentationskompetenz meines Religionslehrers im Internat kassierte ich eine Ohrfeige für meine Hobby-Exegese: Das ist bloß ein unentdeckter Übersetzungsfehler, eine Verwechslung nämlich von “gnoscere” und “gnescere”: Sexualität sollte den Menschen erlaubt bleiben, aber um Gottes Willen keine Erkenntnis… ?

    1. Ohne Erkenntnis macht sie aber weniger — “Spaß” (komplett falsche Wort, weil es den Rausch unterschlägt und zugleich die Bedrohung: Paglia: “Sexualität ist kein Spaziergang im Grünen”.)

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