So hebt er an:
Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, daß unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist. Obschon die beiden eineiige Zwillinge sind, betrachtet man in der Regel den Abgrund vor der Geburt mit größerer Gelassenheit als jenen anderen, dem man (mit etwa viereinhalbtausend Herzschlägen in der Stunde) entgegeneilt. Ich weiß jedoch von einem Chronophobiker, den so etwas wie Panik ergriff, als er zum ersten Mal einige Amateurfilme sah, die ein paar Wochen vor seiner Geburt aufgenommen worden waren. Er erblickte eine praktisch unveränderte Welt – dasselbe Haus, dieselben Leute –, und dann wurde ihm klar, daß es ihn dort nicht gab und daß niemand sein Fehlen betrauerte. Er sah seine Mutter aus einem Fenster im ersten Stock winken, und diese unvertraute Geste verstörte ihn, als wäre sie irgendein geheimnisvolles Lebewohl. Aber was ihm besonderen Schrecken einjagte, war der Anblick eines nagelneuen Kinderwagens, der dort vor der Tür selbstgefällig und anmaßend stand wie ein Sarg; auch er war leer, als hätte sich im umgekehrten Lauf der Dinge sogar sein Skelett aufgelöst.
Jungen Menschen sind derlei Phantasien nicht fremd. Oder anders ausgedrückt: die ersten und die letzten Dinge haben oft etwas Pubertäres an sich — es sei denn, eine ehrwürdige und strenge Religion ordnete sie. Die Natur erwartet vom erwachsenen Menschen, daß er die schwarze Leere vor sich und hinter sich genauso ungerührt hinnimmt wie die außerordentlichen Visionen dazwischen. Die Vorstellungskraft, die höchste Wonne des Unsterblichen und des Unreifen, soll ihre Grenzen haben. Um das Leben zu genießen, dürfen wir es nicht zu sehr genießen.
Erinnerung, sprich, S. 9/10
(Dtsch. v. Dieter E. Zimmer)
Vergleichen Sie, Geliebte, dies mit dem berühmten Anfang der „Höllenfahrt“, dem Vorspiel des ersten Joseph-und-seine-Brüder–Bandes Thomas Manns, der zu ungefähr gleicher Zeit geschrieben wurde, bzw. erschien, in der Nabokov bereits einige Kapitel seines viel später so genannten Wiedersehens mit einer Autobiographie veröffentlicht hatte, hier und dort in verschiedenen Zeitschriften, als aber schon die Kapitelfolge entworfen war, nach der ERINNERUNG, SPRICH sich dann richtet, nämlich bereits 1936.
Doch also Thomas Mann:
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?
Wie vergleichsweise kitschig klingt dies gegenüber Nabokovs Konkretion! — Doch hören Sie weiter:
Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben darum, wenn nur und allein das Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede und Antwort steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und das O all unseres Redens und Fragens bildet, allen Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht.
Thomas Mann, Die Geschichten Jaakobs, zit. n. d. Erstausgabe Bermann-Fischers,Stockholm 1948. S. 9
Ist das im Vergleich mit Nabokovs Schwärze der Vergangenheit eines Nochnichtgelebthabens nicht sogar geschwätzig, der eines baldigen Nichtmehrlebens? Welch einen Schatten Manns Formulierung in Nabokovs helles Dazwischen wirft! — als wäre dieses genauso schwarz. — Genau da setzt Nabokovs nichtsentimentaler Widerspruch ein, ein enormes Veto des Lebens:
Ich lehne mich auf gegen diesen Zustand. Ich verspüre den Wunsch,
eben nicht eine vor-individuelle Geschichte als eine Genese der, sagen wir, Kulturart zu schreiben, um sich selbst in einer höchst vermeintlichen Sicherheit des gemeinsamen Herkunftswissens zu wiegen, sondern
meine Auflehnung nach außen zu tragen und die Natur zu bestreiken. Ein um das andere Mal habe ich in Gedanken enorme Anstrengungen unternommen, um auch nur den allerschwachsten persönlichen Lichtschimmer in der unpersönlichen Dunkelheit auf beiden Seiten meines Lebens wahrzunehmen. Daß an dieser Dunkelheit nur die Mauern der Zeit schuld sind, die mich und meine zerschundenen Fäuste von der freien Welt der Zeitlosigkeit trennen, das ist eine Überzeugung, die ich freudig mit den buntesten Wilden teile. Im Geist bin ich in entlegene Gegenden zurückgereist – und der Geist ermattete dabei hoffnungslos –, auf der Suche nach irgendeinem geheimen Ausgang, nur um zu entdecken, daß das Gefängnis der Zeit eine Kugel und ohne Ausweg ist.
Erinnerung, sprich, S. 20
Thomas Mann hingegen bemüht sich um Einverständnis,
so daß die Erinnerung, wenn auch wohl belehrt darüber, daß die Brunnenteufe damit keineswegs ernstlich als ausgepeilt gelten darf, sich bei solchem Ur denn auch national beruhigen und zum persönlich-geschichtlichen Stillstand kommen mag.
Thomas Mann, Die Geschichten Jaakobs, ebda., S. 10
Wo bei Nabokov Schwärze, unendliches Nichts, gegen das er die alleine persönliche Erinnerung an die „außerordentlichen Visionen dazwischen“ setzt, spricht Mann nicht nur vom komplett abstrakten, überdies administrativen „Nationalen“, sondern beginnt auch noch, das einzig mit übertragenen Geschichten gefüllte Nichts uns nahezu familiär zu machen:
Von dort nämlich [von Uru, dem „Ur der Chaldäer“, ANH] war vor längeren Zeiten (…) ein sinnender und innerlich beunruhigter Mann nebst seinem Weibe (…) und anderen Zugehörigen ausgezogen, um es dem Monde, der Gottheit von Ur, gleichzutun und zu wandern (…)
Thomas Mann, Die Geschichten Jaakobs, ebda., S. 11
Achten Sie, Freundin, auf die Funktion seines vertraulichen „nämlich“s, das rhetorisch eine Nähe des Schongewußten herstellt, das gewußt aber in Wahrheit nicht ist, sondern so nur vorgestellt wird. Kein Auge, das noch lebte, hat das Erzählte je gesehen, indessen sich Nabokov auf seine früheste, nämlich konkrete Erinnerung bezieht:
Wenn ich meine Kindheit erkunde (was nahezu der Erkundung der eigenen Ewigkeit gleichkommt), sehe ich das Erwachen des Bewußtseins als eine Reihe vereinzelter Helligkeiten, deren Abstände sich nach und nach verringern, bis lichte Wahrnehmungsblöcke entstehen, die dem Gedächtnis schlüpfrigen Halt bieten. Zählen und Sprechen hatte ich sehr früh und mehr oder weniger gleichzeitig gelernt, doch das innere Wissen, daß ich ich war und meine Eltern meine Eltern [waren], hat sich anscheinend erst später eingestellt und hing unmittelbar damit zusammen, daß ich ihr Alter im Verhältnis zu meinem begriff. Nach dem hellen Sonnenlicht und den ovalen Sonnenflecken unter den sich überlagernden Mustern grünen Laubes zu urteilen, die mein Gedächtnis überfluten, wenn ich diese Offenbarung denke, war es vielleicht am Geburtstag meiner Mutter im Spätsommer auf dem Land, und ich hatte Fragen gestellt und die Antworten abgewogen. All das ist genau, wie es dem biogenetischen Grundgesetz zufolge sein soll; der Anfang reflektierenden Bewußtseins im Gehirn unseres entferntesten Verwandten ist ganz gewiß mit dem Erwachen des Zeitsinns zusammengefallen.
Erinnerung, sprich, S. 22/23
Hiergegen ist schon — ich begreife dies aber jetzt erst — Manns Bild des Brunnens falsch, bzw. unangemessen gefühlig, als wäre hinter uns die Zeit ein Schlauch oder Schacht hinab, der von mehr oder minder festen Wänden gehalten, und seien es die von Organen, anstelle daß sie, wie Nabokov sieht, die schwarze, allumgebende Unendlichkeit und das, was in dem Schlauch oder Schacht, die Helligkeit unseres Lebens ist: unserer – jeweiligen – Leben.
Dieses im Wortsinn klarzustellen, es besonders zu erleuchten, schien mir soeben nötig zu sein, da mich → das gestern gelesene Bild dieses – meines eigenen Lebens – kurzen Lichtspalts zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels nicht und nicht mehr verläßt — ganz sicher nicht nur, weil angesichts meines unterdessen erreichten Alters der eigene Zeithorizont (→ Andreas Steffens) zunehmend schmal wird, sondern weil die im Wortsinn gegenwärtige Pandemie ein sehr viel schnelleres Übertreten, als vorher anzunehmen war, aus meines Lebens „außerordentlichen Visionen“ des Lichts in des Nichtses unbegreifbare Schwärze im zweitenmal Wortsinn wahrscheinlich macht.
Sehr, sehr unheimlich ist mir dies.
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das ist eine sehr starke passage mit dem chronophobiker. mir geht es hingegen leicht anders, ich verstehe meine mutter immer dann am besten, wenn ich sie mir als vorfamiliäre frau denke. ich mag sie am liebsten auf bildern, wo sie ein unbeschwertes mädchen ist, in ihren erzählungen, die sich um kaputt gerodelte hosen ihres halbbruders drehen, der mit 19 als bordfunker eines stuka abgeschossen wurde. ich kann sie mir bis heute sehr gut ohne familie vorstellen. sie hat davon auch immer sehr plastisch erzählt, wenn mir langweilig war, bat ich sie immer, von früher zu erzählen und tauchte in eine welt ein, in der es mich gar nicht gab und die fand ich sehr viel spannender, als die, in der es mich gab, weil meine mutter da eben auch nicht nur meine mutter war, sie war die heldin ihrer eigenen geschichten.