„Liligäa, Lililady …“: ANH an Liligeia, achter Brief. Am neunundvierzigsten Krebs- und zweitem Tag im dritten Höllenkreis der Nefud: Mittwoch nämlich, den 17. Juni 2020, der mit Mozart anhub.

Wolfi Amadé, den 17. Juni 2020
Klavierkonzert „Jeunnehomme“ KV 271
6.05 Uhr, 73,9 kg

Ich Mozart, Mozart … ich! Kaum Bizarreres zu denken, um „sich vorzustellen“ schon mal ganz in die runden Ecken wegzurücken. Und, Lilly, doch und doch und doch!
Seit nunmehr zwei Tagen höre ich mich, parallel zu Maxwell Davies, durch sein Instrumentalwerk mit Orchester. Das hatte freilich auch den Grund, daß sich bei Neuer Musik (womit ich keine Unterhaltungsmusik meine) im Klangraum schnell die Orientierung verlieren läßt, und stets kommt der Moment, da mein Ohr wissen will, und zwar präzise, wo wer sitzt. Bei guter Arbeit der Toningenieuerinnen und Toningenieure und des weiteren Produktionsteams läßt sich dies Bedürfnis bisweilen auf Zentimeter genau befriedigen – erst mit Beginn des entkontierenden Mischklangs besonders wagnerscher Manier wird es schwierig; präzis wieder in der Zweiten Wiener Schule bis nach Darmstadt hinein; dann legten sich andere Strömungen darüber. Ich aber muß immer zur Erde zurück … zu, kann ich sagen, Lilly, Dir. Dir als Stellvertreterin freilich.
Du fragst, für wen? Ausgerechnet Du fragst das, in der sich’s inkarniert hat? – Wer sich inkarnierte habe? Nu‘ hör auf! Ich kann verstehen, daß Du gestern sauer warst, aber das muß auch mal vorüber. Denn ich, ich halte ganz dasselbe aus. Und stell mich nicht so an. Ich meine, dieses Billet draußen an die Mauer nebens Festungstor anzuschlagen wie seinerzeit die Disputatio an die von nun an „Thesentür“ der Wittenberger Schloßkirche, hättest Du schon unterlassen können. Denn wer auch sollte es lesen; ich wahrscheinlich bin neben Faisal und Gamael, dem Seinen, der einzige, der weit und breit deutsche Sätze lesen kann, um von verstehen ganz zu schweigen. Nein, diese kleine Mühe hättest Du Dir schon machen können, den einen, so verräterisch deutlichen wie darum falschen Satz ins Arabische übertragen zu lassen. Er hätte dann zumindest für Irritation gesorgt.
Na gut, Dir wird danach nicht gewesen, ich muß ja nur schauen, wann Du Deine Nachricht geschrieben hast. Da ließ der Beutel EIns von VIeren bereits sein Innres in mich tropfend, sagen wir dennoch: strömen. Schon wirst Du nach Luft gerungen haben, doch vergißt, scheint es mir, ständig, daß ich dies auch mir selbst antu, was Dich jetzt so quält. Und, hör doch, tu ich’s nicht, quälst nur noch Du – und mich. So war es wieder in den letzten vier Tagen. Zehn Tage nach der Infusion merke ich Dich gar nicht mehr oder nur kaum; dann reichen mein Dronabinol und die THC-Tropfen völlig. Doch ab Tag 11 rührst Du Dich wieder, erst als dieser vertikale Schmerz, der vor allem etwa eine Stunde nach Beginn eines Spaziergangs auftritt, dann schon als Bauchschmerz nach dem Essen. Nun muß ich, was ich sonst vermeide, auf Novaminsulfon und Pantopraxol zurückgreifen — was mit Beginn der jeweils nächsten Chemophase sofort wieder unnötig wird. Und ja – Du scheinst es ständig zu vergessen –  ja, ich schädige meine eigenen Zellen, weil eben auch Du aus deren einiger bestehst, Leib von meinem Leib wie nur die Kugelwesen noch gewesen, von denen bei Platon Aristophanes erzählt.  Ich schlag auf Dich (nachdem Du, vergiß das nicht, mich angegriffen, sogar am Essen gehindert und Schmerz auf es gelegt) und schlage damit mich.
Hat unser Wadi der Verstrickungen, das wir doch beide bestanden, für die Erkenntnis noch immer nicht gereicht? Wobei Du selbstverständlich, bei allen Musen, die Du birgst, mit Dur auch selbst nicht einig sein kannst. Und dennoch, wie anders → war hinterher Dein Ton! Keine Woche liegt das Billet zurück – und sag, auf dem Du nicht hast etwas Schlüpfendes verkündet? das noch indes im grünen Ei ..?
Und nichts mehr davon jetzt. Dabei hatte ich mich für meinen Gang so fein gemacht, der doch, Du vergißt es und vergißt’s, zu Dir führt, ja den’s alleine Deinetwegen gibt. Und schau, so hüpf ich fast schon auf Dich zu!

 

Wer einen Tumor habe, müsse sich gut kleiden, gab ich einem Passanten zur ungefragten Antwort, der mir „geiles Outfit“ hinterherrief – was derzeit, gehe ich abends spazieren, bin also grad mal nicht in der Nefud, dauernd geschieht: „geiler Style“, „das ist mal ein eleganter Mann“, „schöner Gehstock“ und so weiter und so fort.  Imgrunde entspricht meine Antwort dem Satz, den ich allen nun schon oft erwidert habe, die mir „eine Krankkeit“unterstellen. Leute, habe ich nicht, bin nicht krank. Sondern ich habe eine in mir gewachsene Tumorin, die ich, da ich kein Zeus bin, weder aus meinem Unterschenkel das Dionysische (das ich mir außerdem grad abgewöhnen sollte) noch gar die große Ἀθηναίη leiblich aus meinem Kopf hinausgebären kann. Was ich an sich gerne täte; nur wäre dann unsre Vereinigung, Li, nicht nur pädophil (vielleicht zwar in Aqaba nicht solch ein Verbrechen wie in den westlichen Ländern des Puritanismus), sondern auch schwer inzestuös; ein kurzer → Blick auf das Drachenei reicht doch schon, um uns hierüber klarzuwerden. Was da zur Welt kommen wird, ist mit Sicherheit nicht Mensch noch Krebs, sondern wird ein Hybrid sein, geerdet nirgendwo als in Mythe und Netz. Eine Übergangsform der Arten nicht nur, nein auch unserer Realitätssphären. Weshalb ich an den Frühlingskönig denken mußte, zumal derart klar ist, daß ich es bei Dir mit einer deutlich herausgehobenen Matriarchin zu tun habe, wie meine Mutter eine war, nur daß bei Dir noch die Amazone hinzukommt, die sich die Männergesellschaft  nicht pfiffig zurechtbiegt, sondern ihr die abgeschnittne Brust zeigt, damit der Bogen besser zielt.

[Mahler, IX, → Bernstein 1979]

Der Pfeil trifft immer. Schon wütest Du in mir, ich mußte eben Novamintropfen nehmen; nun beruhigst Du Dich. Und gestern abend, direkt vorm Zubettgehn, stellte ich fest, daß die Pumpe, die ich vom Infusionstag bis zum nächsten Mittag in einer Gürteltasche an mir trage, um das Fluorouracil in einer 24-Stunden- Spanne mir eintröpfeln zu lassen — daß die Verbindung zwischen der Pumpe und meinem Bioport zusammengezwackt war, also unterbrochen. So daß die Zufuhr zwar ab 22.30 Uhr wieder geöffnet war, nun aber noch zuviel Mittel drin, um das Gerät heute schon zurückzubringen. Nur war’s so ausgemacht. Die Praxis schließt mittwochs um eins. – Brauchen die das Ding denn dann? Anrufen. „Gut, daß Sie aufpassen. Nein, dann seien Sie bitte morgen früh Punkt acht Uhr dreißig hier.“ Dann werde ich auch meine nunmehr dritte Bauchspritze, die nunmehr dritte bekommen, die dem Rückgang der weißen Blutkörperchen entgegenwirkt und wenigstens einen Tag lang Rückenschmerzen verursachen, die ihren Grund gerade in der angeheizten Neubildung dieser Zellen hat. Genau das, daß die Schwerkraftinfusion für ich weiß nicht wie lange unterbrochen war, hat Dir ein tückisches Oberwasser gegeben, das den Haßsatz des Billets nun unterstrich, auf den allerdings, wie ich soeben sah, die kluge Phyllis Kiehl ausnehmend geschickt reagiert hat. Wofür ich ihr dankbar bin. Daß man Dir, wie Du vorgibst, daß Du mir, mit Haß begegnet, ist Deine Art gewöhnt; mit aber Liebe weiß sie nichts anzufangen. Sie wird von ihr erschreckt.
Mit Recht, Liligeia, ich verstehe Deinen Braß. Wenn wir etwas, anstelle es zu stärken, dekontaminieren wollen, müssen wir es in uns hineinholen und gleichsam in uns selbst entgiften. Das gilt bei allem Fremden, scheinbar Fremden, so. Wir decouvrieren seine Geheimnisse und lassen sie in unsren Reichtum fließen. So tat es Kunst seit je. Und wie Du nun grollend gelesen haben wirst, reagiere nun nicht ich nur als Künstler auf Sie, auf Dich und uns. Du bist in mir, ich komme jetzt in Dich — eine für die pragmatische Realität prinzipiell nicht mögliche Dynamik. Stell Dir’s nur mal bildlich vor:

 

 

 

 

 

[H.C. Escher, Relativity
Abbildung ©: → Wikipedia]

Wie Du von innen nach mir-außen Dich streckst, kehre ich vom Außen ins Innere hinein, und beide umwinden wir uns mit, ich sage mal, Girlanden. Denn eines ist mir doch, Lillymäuserl, sehr bewußt: Du wirst bei mir bleiben, bis es denn doch zu Ende, eines Tages, mit mir geht – zumindest als eine ständige Möglichkeit bleiben. So sieh das doch als einen, Deinen nämlich, Gewinn an – selbst dann, sollte erfolgreich die OP ins Unsichtbare sichtbar Dich entfernen. Denn  plötzlich, wir zählen in Sprüngen von fünf Jahren, bist Du wieder da. Wir haben uns indes längst für geheilt gewähnt. So wär doch dies, oh Freundin, Dir mehr Zeit, als mein früher Tod Dir ließe, der auch Dich mit sich in jedem Fall hinabreißen würde wie sonst die Nixe nur den Fischer, der mir allzu und allzu lang bekannt ist. Aus mir, vom mir, mit mir selbst. Benjamin Steins „Fleische von deinem Fleisch“ hat in einem weiteren als rein-faktischen Sinn recht (und schmecken mal bitte auch dem nach: weiter als faktisch). So sind wir schon seit Jahrzehnten mit- wie gegeneinander ineinander verwachsen, ohne daß aber nicht einmal Du meinen Namen wußtest und Dich nicht mal begriffst. Ich begriff mich ja sowieso nicht, ob mit fünfzehn, ob mit dreißig, aber vielleicht, als ich die Elegien begann. Die ja doch in manchem ein enormer Umbruch waren, für meine Ästhetik wie auch für mich selbst, der ich zum ersten Mal mit Wille einen Abschied nahm, der schließlich neue Ankunft wurde, bis dann auch diese Tür – doch langsam, sehr sehr langsam – zufiel. Und ich mit Dir erwachte, meiner persönlich nun vielleicht größten poetischen Herausforderung, obwohl auch sie durch mich Persönlichstes aufs Öffentlichste als einen Schatten wirft, der Licht ist.
Das liegt nun, daß es sich offenbarte, → keine zwei Monate zurück, in denen sich quasi mein ganzes Leben ein Dreiviertelmal um sich gedreht hat und so zur Seite schaut, wo zuvor noch – und vergeblich eben – nur nach vorne und weiter vorne gedrängt wurde.

Und so sitze ich bereits auf Röhrerich wieder. Nicht nur Dir, ich wiederhole es, wird dieser nunmehr Dritte Nefudkreis auch Böses tun – indem es Dich angreift auch meine guten Zellen zerstören. Was mir vielleicht noch Schmerzen bereitet, die den Deinen und von Dir gesandten gleichen. Nein, ich setze uns den Strahlungen der Wüste nicht gern aus, uns beide nicht, versteh nun Faisals Satz:

Daß ich auf Dein letztes Billet aber unbedingt antworten mußte, werd ich Dir nicht erklären müssen. Doch frag ich mich immer häufiger, wie die Vereinigung denn aussehen wird, in der wir uns, wenn alles gut läuft, in Aqaba dann trennen werden. Und es war alles andere als beruhigend, was ich in → diesen Artikel dort eben las:Gewiß, in Situationen wie der unseren lesen wir alle viel und einigen Unfug darunter; wir wissen nur niemals wirklich zu entscheiden, was tatsächlich wahr ist. Doch denk ich mir, da es auch Dir nicht gefällt, Dir vorführen zu lassen, daß solche wie Du nicht etwa selbstbestimmt Geschöpf – sondern ein Erzeugnis sind sogar der Industrie. Das willst Du Dir gefallen lassen? Also wenn’s Dich wieder überkommt, dann laß die Wut nicht an mir aus, der Dich liebt und abwehrt nur, um sich selbst zu schützen, sondern an denen, die es auch verdienen. Denn sag mir: Haben die jemals auch nur eine Zeile, eine einzige, Dichtung geschöpft, aus sich und Dir heraus?

Das haben sie gewiß, oh meine Lilli, nicht.

So,ich mach mich jetzt für den Abendgang bereit.

A.

[Ingvar Eklund, Nausikaa ensam
Szene für Sopran, Chor und Orchester (1963)]

4 thoughts on “„Liligäa, Lililady …“: ANH an Liligeia, achter Brief. Am neunundvierzigsten Krebs- und zweitem Tag im dritten Höllenkreis der Nefud: Mittwoch nämlich, den 17. Juni 2020, der mit Mozart anhub.

  1. Der Ständer mit den Infusionen: fast sieht er selbst wie ein Krebstier aus, fast seh ich Augen unten dran hängen.
    Die Nefud treibt wunderliche Blüten in meiner Pantasie. Unvergessliche.
    À bientôt –

  2. Lieber ANH,

    eigentlich wollte ich mich ja aus der Wüste raushalten, aber ich finde, Sie müssten jetzt nach dem molto espressivo Bernstein den kühl (!) intellektuellen (!!) Karajan mit seiner 9. anhören. Das ist, obwohl … etc. pp., eine „gültige“ Interpretation.

    Apropos Wüste: Es gibt nicht nur die Banalität des Bösen, sondern auch die von Günther Anders geprägte Umkehrung des Bösen der Banalität, aber: „Folk is everything“ (Currentzis), und z. B. der Treibsand von David Bowie, in der „Unplugged“-Version auf ChangesNowBowie zu hören, ist nicht nur textlich ambitioniert,

    I’m closer to the Golden Dawn
    Immersed in Crowley’s uniform
    Of imagery
    I’m living in a silent film
    Portraying Himmler’s sacred realm
    Of dream reality

    sondern auch musikalisch: was man im Refrain mit 2 verminderten Akkorden machen kann …

    Don’t believe in yourself,
    don’t deceive with belief
    Knowledge comes with death’s release

    Zu den noch zu hörenden Dingen gehört auch das Verdi-Requiem, von TC mit MusicAeterna in der Chiesa di San Marco in Milano aufgeführt – TC hatte sich gewünscht, einmal das Requiem aufführen zu dürfen, ohne dass am Schluss geklatscht würde, und wenn TC einen Wunsch äußert … doch dazu mehr privat.

    1. Lieber Herr Knelangen,
      s e h r spannend, was Sie üner Bowie schreiben, zum dem mich hardline-Popgegner immer irgendetwas gezogen hat, ohne daß ich’s genau bestimmen konnte. Sie jetzt geben mir, soüre ich, einen Hinweis. Für weitere Richtungszeichen wäre ich sehr, sehr dankbar… vielleicht, daß ich eine „Rechnung“ eines Tage werde doch noch schließen können, bevor ich zurück in diese geliebte Erde sinke. Es wäre mir fast ein Anliegen.

      („Wäre mir fast ein“ – welch ein seltsamer, glimmender Satz.)

  3. Nun, nun, der seltsam glimmende Satz sollte nicht zu einer lodernden Flamme werden. Und diese geliebte Erde kann auch noch warten. Alle guten Wünsche, einen erholsamen Schlaf und Daumen drückend für die nächste Etappe vom Ritt durch die Wüste, sie ist ja nicht unendlich… gute Nacht.

    von

    franzsummer

    der Klassiker bei den Omasprüchen: „und immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtschein her.“

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .