(Siehe auch >>>> Trainingsprotokoll)
[Arbeitswohnung, 7.52 Uhr | 70,2 kg
Erster Latte macchiato.
france musique contemporaine:
Penderecki, Requiem polonais]
Ein wirkliches kleines Wunder sei es schon, sagte mein Onkologe gestern, als ich unseren ersten gemeinsamen Termin nach der Großen Enteinigung wahrnahm, mit dem Fahrrad hingeradelt, … – ein kleines Wunder, wie er mich jetzt so vor sich sitzen sehe, ohne daß mir, außer daß ich etwas schmaler geworden, etwas anzusehen sei, schon gar nicht solch eine Operation, die überdies nicht einmal zwei Wochen zurückliege.
Ähnliche Sätze habe ich nun mehrfach gehört, von meinen Liebsten, von Freunden, den Verlegern, und Fremde sehen mir sowieso nichts an. Es ist, als hätte es den Krebs, meine Liligeia, nie gegeben. Ich spüre das Bedürfnis, ihr einen Abschiedsbrief zu schreiben, auch wenn es nun eine ins Meer des Lebens zu werfende Flaschenpost sein wird, weil ich über keine gültige Adresse mehr verfüge. Und bin dennoch vorsichtig. Die Krebsin kam aus mir selbst und könnte wiederkommen, jederzeit, zumal sie nämlich — „einfach“ verschwand: nur noch ihr, siehe unten, Bett war zu erkennen. „Derart perfekt haben Sie“ – (was „hat Ihr Körper“ meinte) – auf die vier Chemophasen reagiert, daß, erzählte mir Herr Heise, der Tumor nicht nicht nur bei Beginn der Operation gar nicht mehr sichtbar war, sondern auch die folgende histologische Untersuchung konnte ihn nicht mehr finden, nicht einmal Spuren, so wenig wie in den dreißig mitentfernten Lymphknoten und dem Stückchen herausgeschnittener Bauchspeicheldrüse.“ Und was mich da nun in eine so große Erleichterung versetzte, daß ich gleichsam von ihr geflutet wurde: „Nein, eine postoperative Chemo halte ich für unnötig, ja sogar für kontraindiziert.“ Was ich mir selbst gedacht, aber befürchtet hatte, mich dem doch noch aussetzen zu müssen, also die Bauchwunde ihr aussetzten zu müssen, zumal auch meine Verdauung noch ausgesprochen heikel reagiert. Den Heilprozeß und die allmähliche Neueinstellung der Stoffwechselorganik erneut-massiv mit Zytostatica zu beschießen – diese Vorstellung war mir, seit ich Aqaba verlassen, der pure, ich gebe es zu, Horror. Der ich so etwas, also einen Horror, vorher überhaupt nicht empfunden. Sofern ich mal von dem ersten halben Tag Intensivstation absehe, der – anders als mir „prophezeit“ – eine kleine Hölle war. Davon aber will ich getrennt berichten, wenn ich mir die Große Enteinigung erzählerisch-direkt vornehme. Ein paar Skizzen stehen schon.
Doch hier erstmal der histologische Befund des pathologischen Instituts der Klinik:
Immerhin bezeugt er, daß es Liligeia objektiv gegeben hat, sie nicht etwa meine Erfindung war — mit welchem Vorwurf ich möglicherweise zu rechnen hätte, einigen Freunden zufolge, die meine heikle Stellung im deutschen Literaturbetrieb gut kennen. „Wenn man dir gar nichts ansieht, wird man zumindest munkeln, du habest dich wieder mal wichtig machen wollen mit deinen von ihnen seit je abgelehnten, ja als Machismo verhöhnten Haltungen. Daß die eine solche Erkrankung zu bewältigen helfen und vielleicht sogar mehr als das, darf in der Logik solcher Kritiker nicht sein.“ Denen, in der Tat, gilt schon seit je: Im Zweifel gegen die Tatsachen.“
Und dennoch bin ich unruhig und mag nicht wirklich, was wohl indessen eh unangemessen, triumphieren. Denn was nicht (mehr) da ist, kann auch nicht entfernt werden; so bleibt mir Lilly zumindest imaginär allerhalten. Wir werden genau beobachten müssen, aufmerksam sein: fortan jedes Vierteljahr Kontrolle, teils mit Spiegelungen und in jedem Fall der Tumormarker. Es gilt eine Spanne von fünf Jahren gesund zu überstehen; daß ein Krebs danach wiederkommt, gilt für unwahrscheinlich, bis dahin ist allerdings das Risiko hoch. „Doch bei Ihrem histologischen Befund sind die Chancen, wieder komplett zu gesunden, ausgesprochen groß.“ Wobei ich entschieden darauf beharre, krank nie gewesen zu sein, sondern einen Tumor gehabt zu haben, eine Tumorin. Das ist etwas anderes. Kurz gesagt (und auch dieses wiederholt): Ich bin kein Opfer und war auch niemals eines.
Indessen, da es nun keine Rückreise durch die Nefud mehr gibt, muß ich mich aufmachen, auf مطار الملك حسين الدولي beizeiten meinen Flieger zu erreichen. Doktor Faisal und Lars ben Gamael wollen mich begleiten, jener allerdings, um noch eines unserer guten Gespräche zu führen; ein wirklich guter Freund ist mir in ihm erwachsen – so, wie auf ganz andere Weise Riih, mein → Röhrerich. Doch ich denke, nach Verstreichen meiner Gesundungszeit werde ich hierher auf jeden Fall zurückkommen, dann freilich in der literarisch realistischen Form einer Reise, die sich von meinen üblichen Touren nach Italien, Nordafrika und Indien nicht mehr unterscheidet.
Ihr – „liebste Freundin“ wieder –
ANH
P.S.:
Der oben benannten Fünfjahresregel zufolge müßte bis zum Ablauf dieser Frist jedes hiesige Journal Krebstagebuch bleiben. Wär das nicht aber inflationär? – Gut, ich behalte den Begriff erst einmal bei, bis meine Bauchwunde vernarbt ist, also der Schnitt sowie das zugenähte Loch der Drainage, das sich ein wenig entzündet hat; morgen wird eine sogenannte Wundschwester kommen, um es sich anzusehen; ich wußte nicht einmal, daß es diesen Berufsstand überhaupt gibt. Oder sagen wir so: Sowie ich wieder arbeiten kann, wie ich es gewohnt bin und wonach es mich dringend sehnt, lasse ich das „Krebstagebuch“ endlich fallen, Ich bin eh noch immer sehr schnell, und es ist überaus bezeichnend, daß seit der Operation das Wort „ReHa“ nicht ein einziges Mal gefallen ist, weder seitens der Klinik noch gestern durch meinen Onkologen. In der Tat ist mir auch schon die Vorstellung–allein ein Graus, mich in die Obhut eines, entsetzlich!, Heimes zu begeben, um mich umtüdeln zu lassen und obendrein mit angeblichen „Leidens“gefährtinnen und -gefährten mich über „die Krankheit“ dauernd auszusprechen. Als ob es nicht das Leben gäbe! Viel, viel dringender bedrängt mich die Frage, wann ich meinen Sport wieder aufnehmen kann; der Onkologe wie Phyllis, die Freundin, empfehlen, jetzt schon mit dem Oberkörpertraining zu beginnen, aber eben nur, insoweit nicht der Bauch belastet wird. Hanteltraining, also der Arme und Schultern, auch ein wenig des Rückens, um den Neuaufbau zu starten. Denn in der Tat, von meinem vormals athletischen Körper ist nicht mehr viel geblieben, und meine Arme kommen mir wie Ärmchen vor, langen dünnen Ästen gleich. Daß niemand mir das ansieht, liegt schlichtweg an der Kleidung. Und meinen Arsch will ich in Männerform behalten (kaum was ästhetisch Grauslicheres als flache und hängende Backen; nur geschwollene Füße toppen das noch. — Fahrrad fahren also, fahren, fahren und fahren.
Ich bin ein Ästhet, dessen Normen aus Gründen der Gerechtigkeit ich selbst entsprechen muß. Und will. Alleine schon aus Stolz.
[france musique contemporaine:
Klaus Huber, A l’âme de descendre de sa monture et aller sur ses pieds de soie – concerto de chambre pour violoncelle baryton contralto accordéon et percussions}
smile, Sie sind bestimmt nicht ein Mann ohne Eigenschaften, wenn auch zukünftig ein Mann ohne Magen. Das Internet ist inzwischen so verwahrlost, dass ich mir schon vorstellen kann, dass Sie Feinde haben, die plötzlich behaupten, diese ganze Krebsgeschichte ist nur erfunden, um sich interessant zu machen. Wenn das so wäre, wäre das tatsächlich genial, aber das traue ich Ihnen nicht zu, smile.
Auf jeden Fall halte ich Sie für einen Mann mit einem enorm starken Willen und dazu gratuliere ich Ihnen und übrigens auch allen beteiligten Medizinern, die das erkannt haben müssen, diese Geschichte sollte in den Krebsstationen überall erzählt oder eben gelesen, was ein Mensch so schaffen kann.
Eine gute Woche nach der OP sich Gedanken zu machen um das richtige Training, das hat mich einen Moment lang sprachlos gemacht. Aber ja, das passt zu Ihnen.
Lassen Sie doch den Wunden Zeit zu verheilen,lol, mit Hilfe der Wundschwester, ich meine ja nur.
Danke, dass wir alles mitlesen konnten, die Fotos sind Kunstwerke für sich. Danke auch dafür.