Kummer, Freude, Omikron. Das Arbeitsjournal des Montags, den 17. Januar 2022. Neunhundertsiebenundvierzigkommasieben.

[Arbeitswohnung, 7.46 Uhr
Sibelius, Karelia, in Kalevi Ahos Rekonstruierung.
Erster Late macchiato nebst Orangensaft, selbst gepreßt]
Auch ein Spiel, die Berliner Inzidenzzahlen, die einer wie ich immer halt nur glauben muß, zu quasi Journaltiteln zu machen? Aber Omikron spielt eine tatsächliche Rolle, auch wenn ich selbst nicht im geringsten beunruhigt bin, einmal als „Geboosterter“, an dem die meisten Einschränkungen einfach vorbeifließen, zum anderen aufgrund einer Gefahr, die ich für weitaus größer halte, wenngleich, daß Kriegsgefahr bestehe, emotional bei mir noch nicht angekommen ist, intellektuell indessen sehr wohl. Das Gemisch Rußland/Ukraine/Weißrußland ist für Europa mehr als heikel, das gemeinsam mit der NATO einiges selbst zur unguten Lage beigetragen hat. Der eigentlich NATOfreundliche Eric Gujer, gestern, brachte es in der NZZ → auf den Punkt, einen, auf den der mir leider nur noch selten gegenwärtige → Profi bereits vor Jahren den Finger gelegt. Und nun sitze ich hier und nehme die Arbeitsjournale wieder auf, jedenfalls bis ich weiter an der → Videoserie arbeiten kann, die aus vor allem zwei Gründen pausieren mußte und muß. Zum einen war die Steuererklärung für 2020 zu erarbeiten, die gestern abend per Elster tatsächlich auch hinausgehen konnte, zum anderen, vor allem, ist die fürs Frühjahr angekündigte Neuausgabe der Verwirrung des Gemüths weiter zu bearbeiten. Über meine Probkleme damit schrieb ich ja schon in Amelia; unnötig, es zu wiederholen. → Lesen Sie’s, Freundin, direkt nach. Auch sie aber, die weitere Überarbeitung, hat wegen der Steuer pausieren müssen sowie, weil am vergangenen Sonnabend die erste (online)Ganztagssitzung meines neuen Bamberger Lehrauftrags stattgefunden hat. Gut gelaufen, ist mein Eindruck. Allerdings, um auf Omikron zurückzukommen, erwischte der Virus mich indirekt nun doch; d a s ist männlich-toxisch, ich beharre auf „der Virus“. Hier ist eine vermittels des „das“ beachtete Gendercorrectness nun e c h t einmal wurscht, ja würde verschleiern.

Was geschehen ist, bzw. geschehen nun nicht wird:
Bereits im Dezember hatte ich den immerhin zwanzig Angemeldeten und Angemeldetinnen eine Rundmail geschickt, in der ich fragte, inwieweit Möglichkeit und vor allem Bereitschaft bestehe, daß wir das Seminar physisch und eben nicht nur virtuell abhielten. Darauf gingen, bei zwanzig Angemeldeten, nicht mehr als drei Rückmeldungen ein, in denen die Beantwortung meiner Frage-selbst aber umgangen wurde. Indessen vorgestern, beim die erste Sitzung bewertenden abschließenden Gespräch, wurde das Begehren nach physischer Präsenz von einem Studenten doch noch vorgetragen, so daß ich das allgemeine Meinungsbild nun erfragen konnte. „Ist jemand dagegen, daß wir uns physisch in der Uni treffen?“ Alle waren dafür, mit Freude sogar. Also versicherte ich, mich bei der Uni drauf verwenden zu wollen und daß ich’s auch durchkriegen würde, sofern uns nicht die jeweils geltende Rechtslage einen Strich durch meine Rechnung mache.
Ich verabschiedete die Studentinnen und Studenten, wir hatten eh schon vierzig Minuten überzogen, ließ aber den Zoomraum nach bis 17 Uhr offen, damit, wer noch ein persönliches Anliegen habe, es allein mit mir besprechen zu können. Woraufhin, der Raum war fast schon leer, jemand bekanntgab, daß, leider, leider von dieses Jemands Seite an physischer Präsenz nicht teilgenommen werden könne, weil, schlichtweg, keine Impfung vorgenommen worden sei. „Ich komme bei 2G in die Uni nicht hinein.“
Selbstverständlich verbat ich’s nachzufragen mir, weshalb um Göttinswillen sie, die Person, noch ungeimpft sei; das kann alle möglichen Gründe, auch intime, haben, familiäre, sogar gesundheitliche. Hierzu auch nur eine Meinung kundzutun, wäre mir als Übertritt vorgekommen und tatsächlich einer gewesen. Ergo sind, auch wenn ich anderer, dringend anderer Meinung bin, solche Entscheidungen zu akzeptieren. Und dann muß aber die Gruppe sie mittragen, und zwar nicht einmal knirschend. Sondern hier – in solch doch sehr kleinen Gemeinschaften – gilt die Herzenswärmeregel, daß, wenn eine einzige Stimme nein sagt, man sie hört und eben auch annimmt und mit der Person zusammen geneinschaftlich trägt. In größeren Zusammenhängen, regionalen, nationalen usw. ist es etwas anderes, da hat das N e i n die Folgen zu tragen, nicht die Mehrheit – ein deswegen anderes Regularium, weil wir als Menge, anders als in überschauberen Gruppen, nicht mehr persönlich sind, ja nicht einmal mehr Personen-tatsächlich. Ich kann also als Gesetzgeber für große Verbände z.B. 2G+ verpflichtend machen (nicht aber mit einer Impfpflicht das Grundgesetz beugen) und Ungeimpfte von bestimmten Lebensbereichen des Öffentlichen Lebens mit vollem Recht ausschließen. Nicht so, um es zu betonen, in sehr kleinen Sozialitäten. Da ist je auf die Einzelne und je den Einzelnen zu hören, deren wenn auch Minderheitenposition von vornherein Mehrheitswünsche – egal, aus welchen Gründen – bricht.
Ich werde dies „meinen“ Studentinnen und Studenten nun aber noch erzählen müssen, weil wohl alle jetzt davon ausgehen, daß wir uns vielleicht nicht schon am kommenden Sonnabend, aber zu den Sittzungen danach physisch in der Uni treffen werden. Glücklich darüber werden nicht alle sein. Doch andererseits bin ich in online-Seminaren mittlerweile so ausgefuchst, daß ich dauernd neue spannende Formen finde, sie auch lustvoll genießen zu können.

***

Doch mehr noch, notierte ich mir gestern im Anschluß an das Seminar, als ich noch etwas meditierte:

Ein digitales Leben ist körperlich möglich.

Wobei, jedenfalls für mich, für solch einen Satz die Folgen des (bislang überstandenen) Krebses eine große Rolle spielen durften, vor allem das ständige Bewußtsein, aufgrund der Chemo die körperliche Fruchtbarkeit verloren zu haben, ein Umstand, der mich erotisch ausgesprochen, ich schreib mal euphemistisch, zurückhaltend hat werden lassen. Es bleibt mir aber die geistige – wobei ich daran sehr arbeiten muß, weil Eros und mehr noch gelebte Sexualität für mich von frühauf der poetische Motor waren. Das kann nun so nicht mehr sein. Die „Heilung“ hatte einen hohen Preis, einen, gegen den die andere Nachwirkung der Chemo geradezu achtrangig ist, eine sowieso eher lästige als wirklich böse, nämlich die, wie ich jetzt weiß, bleibende Neuropathie in den Füßen. Wobei meine Gelassenheit der neuen Situation gegenüber ganz sicher auch etwas mit meinem Alter sowie vornehmlich damit zu tun hat, solch einen nahen Sohn zu haben. (Unsere fast stets mindestens einmal pro Woche bei Whisky, Gras, Zigaretten, Peife und Wein geführten Gespräche dauern oft den ganzen Abend an, langen in die Nächte. – Ja, auch „Gras“. Eine weitere, nunmehr erfreuliche Nachwirkung → Liligeias. Seit ich Dronabinol, ein THC-Präparat, verschrieben bekam und, zur vor allem Appetitsteigerung, mehr oder minder regelmäßig einnahm und -nehme, haben sich meine inneren Rezeptoren auf den Wirkstoff eingestellt und nehmen ihn jetzt – bisweilen sogar enorm – wahr. Mein Sohn drückte es so aus: „Deine körpereigenen Rezeptoren sind sensibilisiert worden.“ Ich werde gelegentlich mal von der Fahrradfahrt durch eine kürzliche Rauhnacht erzählen, die geradezu halluzinativ gewesen ist, eine wahrhaftig W i l d e Jagd; für heute wäre der Bericht zu lang. Jedenfalls habe ich bis vor zwei Jahren Cannabis niemals erleben können; es „schlug“ einfach nicht an.)

À propos Liligeia. Es steht im Raum, doch auch dieses erzählte ich Ihnen, glaube ich, bereits … steht also im Raum, aus dem Krebstagebuch ein physisches Buch entstehen zu lassen, wozu es freilich komplett umgeformt werden muß. Allein, es gibt, obwohl der Verlag längst möchte, zwei Probleme, deren eines, sagen wir, abergläubisch, deren zweites aber objektives Hindernis ist. Denn die eigentliche Zentralszene, die OP, kann ich nicht schildern, weil ich dazu, um den angemessenen Ort für das Finale zu finden, nach Akaba müßte, etwas, das bei der dortigen militärischen Lage nicht nur sowieso hochgefährlich, das störte mich wenig, aber faktisch kaum realisierbar ist. Der Aberglaube wiederum beruht auf dem Umstand, daß für geheilt vom Krebs erst jemand gilt, bei der oder dem er fünf Jahre nach der OP nicht erneut auftrat. Bis dahin muß noch Zeit vergehen, auch wenn aus medizinischer Sicht bereits drei Jahre genügen, jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit. Aber auch von denen fehlen anderthalb. Ich hätte deshalb das Gefühl, eine Ernte einzufahren, die noch nicht einmal gesät ward.

Es ist, Freundin, weit mehr noch zu erzählen, unter anderem zu dem, wofür ich gestern den → Brief an Frau Fassio eingestellt habe. Doch will ich jetzt an die Verwirrungs-Arbeit, muß zuvor auch noch aus dem Bademantel in die Dusche und in den Anzug daraufhin, zum Hemd sorgsam die Kawatte bestimmen sowie den Ofen besorgen, der echt mal wieder einigen Dreck in die Arbeitswohnung hineinbläst. Lustig übrigens, daß ich in den letzten drei Wochen → deshalb mehr in der vor allem internationalen Presse war als wegen irgendeinem meiner Texte.

Seien Sie umarmt – ich darf das heute einmal, oder? -, und zwar einfach schon deshalb, weil sich neuerdings wieder erotische Träume einstellen, etwas, an das ich nicht mehr geglaubt habe. Nicht immer gehen sie glücklich aus, heute lief der Traum auf einen schweren Kummer hinaus. Aber auch das ist ein Zeichen von Leben. Mal sehn, ob ich’s in Sätze bekomme. Doch die Verwirrung geht vor. Und ein Gespräch mit meinem Verleger, dem ich gestehen werde müssen, mit der Überarbeitung auf keinen Fall rechtzeitig zu werden, jedenfalls rechtzeitig nicht für ein Erscheinen des Buches im März.

Ihr
ANH

2 thoughts on “Kummer, Freude, Omikron. Das Arbeitsjournal des Montags, den 17. Januar 2022. Neunhundertsiebenundvierzigkommasieben.

  1. Erotisch zurückhaltend? Hoabera, i bitt Sie! Lag hier nicht, als wir neulich beisammensaßen, eine Packung Tadalafil herum, sogar in 20er-Potenz (ein Wort, das in diesem Zusammenhang schloan’den Witz hat, moanen’s Ihna nich‘?)

    1. Oh, Daniello … Zwar melden Sie sich selten, also hier, aber wenn, dann gleich immer scharf. (Jaja, ich habe Ihren Ton mitsamt der scheinbaren Ironie, sich selbst dialekthaft-angeschnibbelt zu präsentieren, wohl verstanden.)
      Aber im Ernst, ja, die Tabletten hat der Onkologe mir verschrieben, ohne daß ich sie – eine Art Langzeit-Viagra – schon ausprobiert hätte, das aber mangels Gelegenheit. Ich suche auch keine, zum einen, weil neue Bekanntschaften unter Coronabedingungen erst einmal ohnedies gehemmt sein müssen, sowie zum zweiten, weil mein Herz, wir immer auch glückhaft oder nicht, anderswo gebunden ist und ich nicht sehe, daß sich das ändern wird. Für jede neue Frau wäre ich deshalb eine Zumutung. Ich werde es keiner mehr antun. Und wieder in die, ich sag mal, „einschlägigen Szenen“ eintauchen werde ich ebensowenig; ich bringe da nicht mehr genug, im Wortsinn, auf die Waage, und überrage dort die meisten um wenigstens fünfunddreißig Jahre, wenn wir uns etwa den heutigen Kitkat angucken. Zumal liefe ich Gefahr, jungen Menschen zu begegnen, denen ich dort aus extremst privaten Gründen begegnen nicht möchte. Es wäre für alle Seiten peinlich. Denn gleichberechtigter Mitspieler könnte ich dort nicht mehr sein – was schlichtweg am natürlichen Lauf der Zeiten und also den Biografien liegt, die sich durch sie hindurchbewegen.
      Was ich allerdings einmal ausprobiert habe, ist, inwieweit sich mit solch einer Tablette bei gleichzeitig visuell zugeführtem Erregungsgeschehen die Produktivität-selbst wieder entfesseln läßt. Das Ergebnis war diesbezüglich mau, insofern die Phantasie – und nun stundenlang anhaltend – auf das Geschehen konzentriert blieb, und zwar so weitgehend, daß zu arbeiten unmöglich nun erst recht war. (Denselben Effekt habe ich, wenn ich das Dronabinol nehme oder nachdem ich gekifft habe. Insofern bin ich in Hinsicht auf alle drei „Hilfsmittel“ eher asketisch.)

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