[Geschrieben für und veröffentlicht
bei → Faustkultur im März 2021]
Wie oft im Leben widerfährt uns dies, gerechnet, sagen wir, auf meine sechsundsechzig Jahre? Als Kinder dauernd, als Jugendliche oft und bisweilen noch als junge Erwachsene. Dann wird es damit selten. Wir kennen schon zu viel, obwohl es das nicht geben können sollte. Doch wenn, wenn es wiederkommt, ergreift es uns total – mir zuletzt geschehen mit Theodor Currentzis. Von seiner und Kopatschinkajas Interpretation des tschaikowskischen Violinkonzertes habe ich mich über Tage hin so wenig erholen können wie zuvor von Ramirers Variation auf Johann Sebastian Bachs Ricercar a 6. Und nun geschieht es in so kurzer Folge bereits das dritte Mal.
Also. Ich bekam von Kathrin Hauser-Schmolck die Mitteilung, es seien Bachs Partiten und Sonaten für Geige solo von einem Augustin Hadelich neu eingespielt worden, dessen Name mir zwar überhaupt nichts sagte, so daß ich ohne die Nachricht ignorant an ihm vorbeigegangen wäre. Doch gab es den verschlüsselten Link auf hochgeladene Tonfiles im Netz, und weil diese Stücke zu meinen allerliebsten Musiken zählen, rief ich die Site auf. Nein, Besond‘res erwartete ich nicht, tat es nämlich mit Vorurteil: Alle mir bis dato zu Ohr gekommenen Interpretationen werden, nein … jetzt: wurden von einer Aufführung weit, weit überragt, in deren Besitz ich alleine wegen einer auf Cassette mitgeschnittenen Radioübertragung gekommen bin. Shlomo Mintz, 1985 in Salzburg. Niemand seither hat, nein … hatte das zentrale Stück, eine Jahrtausendmusik, derart intensiv und auch jugendlich und in keiner Weise so – zugleich präzis wie unakademisch – erfaßt wie er. Ich meine selbstverständlich die Chaconne (bei Bach italienisch Ciaccona), von der ich nun im Booklet, formuliert von diesem Herrn Hadelich, lesen mußte … Entschuldigung, durfte, es sei vielleicht das bedeutendste je für die Geige geschriebene Stück. – Ja, ist es, Herr Hadelich; jedenfalls kenne ich kein andres, das es wäre.
Wie auch immer. Ich lasse also das erste Adagio spielen und werkle derweil an meinen eignen Sachen weiter. Was schon nach zwei Minuten nimmer geht. Es war ein Schauder, was mich überlief. – Aufstehen also, weg vom Schreibtisch und um den Schreibtisch herum in den Musikstuhl (nein, der ist bei mir nicht weich, sondern holzig hart; wir woll‘n doch konzentriert sein). – Schon der nächste Schauder, fast ein Erschrecken. Was macht der Mann da? Wie macht er es? – Eine fast mythisch-unheimliche Kraft pocht aus den ProAcs, aber nicht getragen, sondern drängend, willensvoll, lustvoll. Und nahezu umstürzlerisch, durchaus Currentzis wie Kopatschinskaja verwandt, aber anders als diese, na logisch, ausgesprochen männlich. Vom Zugriff, also seiner Kraft, muß ich an Janos Stalker denken, dessen Interpretation der Cellosuiten Bachs ähnlich auf mich wirkte wie Shlomo Mintz an der Geige. Doch hier klingt noch etwas anderes, und fordert, hindurch. Nicht ohne subversive Süffisanz erzählt Hadelich im Booklet, Bach habe zwanzig Kinder gehabt. Wer denkt da nicht an die vielen, vielen Male, die unbeknospet blieben? Das eben ist Bach auch, wir machen’s uns nur selten klar. Ein Vögler im Wortsinn vor dem Herrn. Genau das holt Hadelich hervor, wischt die hehre Heiligkeit einfach zugunsten der Lebendigkeit beiseite. Es ist dieses Leben, was die Schauer verursacht.
Momentan bin ich schon in der zweiten Sonate, der Höhepunkt, sechs Sätze weiter, steht erst noch bevor. Und trotzdem: Schweißausbrüche. Wann noch schafft das eine Musik bei mir, jedenfalls eine mir so sehr bekannte und – Todesstoß jeder überwältigenden erotischen Erregung – vertraute? Sexualität sei kein Spaziergang im Grünen, schrieb die große Camille Paglia. Bach indessen, bei Hadelich, tanzt, nein, ravt! Von dessen Virtuosität, die ich voraussetze bei Instrumentalisten solchen Rangs, will ich erst gar nicht sprechen. Oder doch, also darüber, daß jede Themenlinie selbst in den heikelsten Dreiergriffen trotz des oft enormen Tempos so kenntlich bleibt, als würde man parallel die Partitur mitlesen. Nur daß einer wie ich, der nie ein guter Sprinter war, restlos außer Atem kommt, um damit Schritt zu halten, Hörschritt, Gefühls- und Sinnesschritt. Meine Güte, wie beschreib ich das?
Da steht mein Sohn in der Tür, einundzwanzig Jahre alt und Hiphop-geprägt. „Hey, Pa, ich …” verstummt, hat mich auf dem Musikstuhl sitzend erblickt, genau zwischen den Boxen mittig des hintren Schenkels des gedachten gleichseitigen Dreiecks. Wie es bei Hörpuristen sein muß. Und gewissermaßen hebt er das Ohr. Lauscht. Dann, leise: „Pa, was ist das?” ‒ Eigentlich wollte er vom Vater nur seinen Espresso bekommen. Der auch schon aufsteht. – „Nein, bleib sitzen.” Und setzt sich selbst, auf die Couch.
Er kam just, als die Ciaconna begann.
Jetzt höre ich von der Couch immer wieder mal ein Aufseufzen, sehe hin, er sitzt vorgebeugt da, lauscht, schüttelt von Zeit zu Zeit den Kopf, als könnte er’s nicht glauben. Hadelich hat ihn erwischt wie mich. Nicht seine Musik, nein, gar nicht. Also Adrians. (So heißt er). Oder nur wenig. Jetzt völlig.
Wir hören die Ciaconna zuende. Dann dimme ich die Lautsprecher weg. „Nun aber deinen Espresso.”
Zwei Stunden lang sprechen wir dann über nichts als über die Musik.
Als er gegangen ist, setze ich mich hin und schreibe Frau Hauser-Schmolck, sie möge mir bitte die CD zukommen lassen. Ich wolle diese Einspielung rezensieren, sie aber unbedingt in voller Dynamik hören können. – Drei Tage später ist sie hier. Seither höre ich nichts andres mehr. Ich bin mir sicher, daß mich meine Nachbarn mitsingen hören, der ich singen gar nicht kann. Na, besser, als daß ich mit, wie sonst oft, -pfeifen würde.
Auf eines der Geheimnisse dieser Aufnahme, die auch, wie Hadelich andeutet, als Erwiderung auf die Zumutungen durch Corona entstanden ist, komme ich recht schnell; ist auch nicht schwierig, denn er erzählt davon. Er spielt mit einem Barockbogen, mit dem sich, ich zitiere, „eine leichte, federnde Artikulation (…) leichter erzeugen läßt. (…) Die Seiten lassen sich mit viel mehr Energie anpacken, ohne daß ich mich sorgen müßte, daß der Klang zu rau(h) oder zu expressionistisch wird. Passagen mit Dreier- oder Viererakkorden klingen flüssiger, tänzerische Sätze tanzen mehr, langsame Sätze singen mehr.” Genau das ist es: Dieser Einspielung ist ein durch alle Höhen und Tiefen, vor allem die Höhen klingender Gesang. Doch das eigentliche Geheimnis hadelicher Bachkunst muß durch die Adern dieses Mannes fließen, materiell: ein Klangblut, das nicht nur das Gehirn durchzieht, sondern ein jedes, jedes Körperteil berührt. Und es mit einem Glück versorgt, an das wir schon fast nicht mehr glaubten.
Also. Ich bekam von Kathrin Hauser-Schmolck die Mitteilung, es seien Bachs Partiten und Sonaten für Geige solo von einem Augustin Hadelich neu eingespielt worden, dessen Name mir zwar überhaupt nichts sagte, so daß ich ohne die Nachricht ignorant an ihm vorbeigegangen wäre. Doch gab es den verschlüsselten Link auf hochgeladene Tonfiles im Netz, und weil diese Stücke zu meinen allerliebsten Musiken zählen, rief ich die Site auf. Nein, Besond‘res erwartete ich nicht, tat es nämlich mit Vorurteil: Alle mir bis dato zu Ohr gekommenen Interpretationen werden, nein … jetzt: wurden von einer Aufführung weit, weit überragt, in deren Besitz ich alleine wegen einer auf Cassette mitgeschnittenen Radioübertragung gekommen bin. Shlomo Mintz, 1985 in Salzburg. Niemand seither hat, nein … hatte das zentrale Stück, eine Jahrtausendmusik, derart intensiv und auch jugendlich und in keiner Weise so – zugleich präzis wie unakademisch – erfaßt wie er. Ich meine selbstverständlich die Chaconne (bei Bach italienisch Ciaccona), von der ich nun im Booklet, formuliert von diesem Herrn Hadelich, lesen mußte … Entschuldigung, durfte, es sei vielleicht das bedeutendste je für die Geige geschriebene Stück. – Ja, ist es, Herr Hadelich; jedenfalls kenne ich kein andres, das es wäre.
Wie auch immer. Ich lasse also das erste Adagio spielen und werkle derweil an meinen eignen Sachen weiter. Was schon nach zwei Minuten nimmer geht. Es war ein Schauder, was mich überlief. – Aufstehen also, weg vom Schreibtisch und um den Schreibtisch herum in den Musikstuhl (nein, der ist bei mir nicht weich, sondern holzig hart; wir woll‘n doch konzentriert sein). – Schon der nächste Schauder, fast ein Erschrecken. Was macht der Mann da? Wie macht er es? – Eine fast mythisch-unheimliche Kraft pocht aus den ProAcs, aber nicht getragen, sondern drängend, willensvoll, lustvoll. Und nahezu umstürzlerisch, durchaus Currentzis wie Kopatschinskaja verwandt, aber anders als diese, na logisch, ausgesprochen männlich. Vom Zugriff, also seiner Kraft, muß ich an Janos Stalker denken, dessen Interpretation der Cellosuiten Bachs ähnlich auf mich wirkte wie Shlomo Mintz an der Geige. Doch hier klingt noch etwas anderes, und fordert, hindurch. Nicht ohne subversive Süffisanz erzählt Hadelich im Booklet, Bach habe zwanzig Kinder gehabt. Wer denkt da nicht an die vielen, vielen Male, die unbeknospet blieben? Das eben ist Bach auch, wir machen’s uns nur selten klar. Ein Vögler im Wortsinn vor dem Herrn. Genau das holt Hadelich hervor, wischt die hehre Heiligkeit einfach zugunsten der Lebendigkeit beiseite. Es ist dieses Leben, was die Schauer verursacht.
Momentan bin ich schon in der zweiten Sonate, der Höhepunkt, sechs Sätze weiter, steht erst noch bevor. Und trotzdem: Schweißausbrüche. Wann noch schafft das eine Musik bei mir, jedenfalls eine mir so sehr bekannte und – Todesstoß jeder überwältigenden erotischen Erregung – vertraute? Sexualität sei kein Spaziergang im Grünen, schrieb die große Camille Paglia. Bach indessen, bei Hadelich, tanzt, nein, ravt! Von dessen Virtuosität, die ich voraussetze bei Instrumentalisten solchen Rangs, will ich erst gar nicht sprechen. Oder doch, also darüber, daß jede Themenlinie selbst in den heikelsten Dreiergriffen trotz des oft enormen Tempos so kenntlich bleibt, als würde man parallel die Partitur mitlesen. Nur daß einer wie ich, der nie ein guter Sprinter war, restlos außer Atem kommt, um damit Schritt zu halten, Hörschritt, Gefühls- und Sinnesschritt. Meine Güte, wie beschreib ich das?
Da steht mein Sohn in der Tür, einundzwanzig Jahre alt und Hiphop-geprägt. „Hey, Pa, ich …” verstummt, hat mich auf dem Musikstuhl sitzend erblickt, genau zwischen den Boxen mittig des hintren Schenkels des gedachten gleichseitigen Dreiecks. Wie es bei Hörpuristen sein muß. Und gewissermaßen hebt er das Ohr. Lauscht. Dann, leise: „Pa, was ist das?” ‒ Eigentlich wollte er vom Vater nur seinen Espresso bekommen. Der auch schon aufsteht. – „Nein, bleib sitzen.” Und setzt sich selbst, auf die Couch.
Er kam just, als die Ciaconna begann.
Jetzt höre ich von der Couch immer wieder mal ein Aufseufzen, sehe hin, er sitzt vorgebeugt da, lauscht, schüttelt von Zeit zu Zeit den Kopf, als könnte er’s nicht glauben. Hadelich hat ihn erwischt wie mich. Nicht seine Musik, nein, gar nicht. Also Adrians. (So heißt er). Oder nur wenig. Jetzt völlig.
Wir hören die Ciaconna zuende. Dann dimme ich die Lautsprecher weg. „Nun aber deinen Espresso.”
Zwei Stunden lang sprechen wir dann über nichts als über die Musik.
Als er gegangen ist, setze ich mich hin und schreibe Frau Hauser-Schmolck, sie möge mir bitte die CD zukommen lassen. Ich wolle diese Einspielung rezensieren, sie aber unbedingt in voller Dynamik hören können. – Drei Tage später ist sie hier. Seither höre ich nichts andres mehr. Ich bin mir sicher, daß mich meine Nachbarn mitsingen hören, der ich singen gar nicht kann. Na, besser, als daß ich mit, wie sonst oft, -pfeifen würde.
Auf eines der Geheimnisse dieser Aufnahme, die auch, wie Hadelich andeutet, als Erwiderung auf die Zumutungen durch Corona entstanden ist, komme ich recht schnell; ist auch nicht schwierig, denn er erzählt davon. Er spielt mit einem Barockbogen, mit dem sich, ich zitiere, „eine leichte, federnde Artikulation (…) leichter erzeugen läßt. (…) Die Seiten lassen sich mit viel mehr Energie anpacken, ohne daß ich mich sorgen müßte, daß der Klang zu rau(h) oder zu expressionistisch wird. Passagen mit Dreier- oder Viererakkorden klingen flüssiger, tänzerische Sätze tanzen mehr, langsame Sätze singen mehr.” Genau das ist es: Dieser Einspielung ist ein durch alle Höhen und Tiefen, vor allem die Höhen klingender Gesang. Doch das eigentliche Geheimnis hadelicher Bachkunst muß durch die Adern dieses Mannes fließen, materiell: ein Klangblut, das nicht nur das Gehirn durchzieht, sondern ein jedes, jedes Körperteil berührt. Und es mit einem Glück versorgt, an das wir schon fast nicht mehr glaubten.