Abschiede, Begrüßungen. Das alte Notizbücherl, das neue. Im Arbeitsjournal des Montags, den 14. Februar 2022. Darinnen über Liebesenden. Und wieder die fiktive Macht.

[Arbeitswohnung, 6.44 Uhr
Janáček, Věc Makropulos]
Zwar sind anderthalb Seiten noch frei, aber ich wußte gestern nachmittag, ihrer mehr zu brauchen, wenn ich nachher in der Lindenoper säße und, wie immer quasi blind dann, Stichworte zur Aufführung notierte, während ich ihr zusah und lauschte (möglicherweise mitdirigierend hier und da, vorsichtig freilich, um meine Nachbarn nicht zu stören, oder Nachbarinnen, aber es ist dem Taktzucken des Fußes gleich, das, wenn eine Musik uns nah, hineingerät). Doch mitten da drin das Notizbuch zu wechseln, hätte unnötig Unruhe geschaffen und wäre vor allem profan ihm selbst gegenüber gewesen. Sie wissen, Freundin, wie ich es scheue, das, profan, zu sein. Es ehrt das Leben nicht, auf das nun gerade → Janáčeks Oper ein Gesang ist, wenn auch wider den Strich unsrer Begehren. Doch dazu dann in meiner … nun jà, ich nenne meine Überlegungen zur Musik, auch zum Musiktheater nur ungerne „Kritik“… – also dazu später (erst einmal) → bei Faustkultur.
So bereitete ich das neue Notizbuch schon mal vor, weiß gar nicht mehr, woher ich es habe. Irgend jemand wird es mir geschenkt haben, so, wie ich das nun vorherige geschenkt bekommen habe und all die Notizbücherln vorher. (Sie merken schon, ich nenne sie zärtlich). Diese bekam ich in den letzten Jahren stets von der Löwin, und es liegt von ihr seit zwei Jahren auch das nächste hier, noch ins Seidenpapier eingeschlagen und von ihr gesiegelt. Doch diese Zeit ist vorbei, so mochte ich`s noch nicht, ich schreibe einmal, deflorieren. In einigen kleinen Hinsichten bin ich, aus Liebe, abergläubisch. Nein, besser, ich schöbe ein anderes, dieses neue, dazwischen.
Die Notizbücher der Löwin sind in weiches schwarzes Leder gebunden und haben 496 Dünndruckpapierseiten, was es nötig macht, auf keinen Fall mit Tinte auf ihnen zu schreiben, weil die durchscheint. Am besten eignen sich Bleistifte, Kugelschreiber freilich auch. Doch die schiere Zahl der Seiten läßt ein solches Bücherl uns lange, sehr lange Zeit begleiten. Das, von dem es Abschied nun zu nehmen galt, diente mir, so steht es oben ganz am Anfang, vom

Das sind vier ganze Jahre plus sechs Tage. Danke, liebste Löwin. Und Dank, Notizbuch, Dir.

Ich machte mich also an die Übertragungen, denn auf den letzten Seiten sind oft gebrauchte fixe Angaben notiert, (verschüsselte) Paßwörter und sonstige (ebenfalls verschlüsselt) Zugangsdaten & PINs, Kontonummern, Kleidungsmaße, Hutmaße, Telefonnummern usw., die ich stets zur Hand haben möchte, ohne lange suchen zu müssen; sozusagen oldschool. Auch, seit → Liligeia und den Folgen, Angaben zu Medikationen. Sowie müssen auf der neuen ersten Seite, wie auf der ersten alten anfangs auch, mein Name und meine Kontaktdaten stehen für den Fall, daß ich es einmal liegen lasse, versehentlich, und jemand findet es. Tatsächlich hat dergleichen sich beim nun alten Notizbuch schon einmal ergeben, ebenso bei dem davor. Beide Male rief mich jemand an. Da sich meine Handschrift, bisweilen für mich selber auch, schwer lesbar gibt, habe ich zwar keine Sorgen, irgend etwas in den Notaten könne mißbraucht werden. (Allein mein Sohn kann alles stets auf Anhieb entziffern, ein im Wortsinn bemerkenswertes Phänomen, das ein anderes, wenn auch nur ungefähres und dennoch signifikantes Licht auf unsere Genetik wirft.) Dennoch wäre ein Verlust sehr zu beklagen. Denn viele Notate werden in aller Regel erst nach Abschluß des Bücherls in Notat-Dateien übertragen. Was mich meist zwei Tage Arbeit kostet, mitunter mehr: Ideen für neue Geschichten, Gedichtzeilen oder nur -titel usw., Beobachtungen, Adressen neuer Kontakte, alles durcheinander, aber stets datiert. So lassen sich auch Ideengenesen nachvollziehen, etwas, das mir wichtig ist, der ich die Entstehungsphasen eines Werkes als grundlegende Mitaspekte betrachte und sie stets teilhaben lasse; ohne das wäre es nicht zeitgenössisch.
Auch mit dem jetzt alten Notizbuch steht mir das nachträgliche Übertragen noch bevor. So ganz wird die Trennung also noch einige Zeit nicht abgeschlossen sein; es sind nicht immer scharfe Akte, die unsere Lieben beenden, sondern häufig gleicht es einem so milden Entschlafen, daß wir es gar nicht merken. Auch so gesehen hat es seinen Grund, daß ich der Löwin eingeseidetes Notizbuch noch nicht anrühren mochte. Ihre, Freundin, hohe Sensibilität wird es verstehen.

17.40 Uhr, ich saß bereits auf dem Platz, der große Spielsaal war fast noch leer, und bereitete mich vor. Das neue Notizbuch wird nicht so lang halten wie das alte. Keine Dünndruckpapier- sowie deutlich weniger Seiten, nämlich 176. Der Umschlag aus fester, lederfingierender Pappe, darauf in dünnem Scheingold faksimilierte Handschriftzeilen Charles Dickens‘, und zwar eines Auszugs der Kapitelplanung seines letzten abgeschlossenen Romanes → Our Mutual Friend. Ich bin kein Dickensianer, hätte, hätt ich das Bücherl selbst ausgesucht, sicher nach einem anderen Autor, einer andren Autorin gegriffen. Dennoch muße ich befinden, dies sei nun ein ziemlich symbolischer Umstand, jetzt, da ich das Impressum dieses Notizbuches erst entdeckt habe und lese, „letztabgeschlossener Roman“. Doch find‘ ich’s eher hübsch ironisch, denn daß es mich furchtsam werden ließe. Liegt mir eh nicht – zumal mir mein kleiner Aberglaube sagt, daß wir so einiges, das vorgezeichnet zu sein scheint und vielleicht auch ist, abwenden können, sofern wir es – benennen. Und also nicht verdrängen, sondern hinter die Türen unsrer Nachtmare schauen oder unters Kinderbett, wo, beides, sie sich gern verstecken. In diesem Augenblick ändert sich die Dynamik, was grundlegende Bedingungen des vormals Vorgezeichneten ändert. So daß es vorgezeichnet länger nicht mehr sein kann. Auch dies gehört zur Realitätskraft der Fiktionen. — Verstehen Sie, Freundin, die Bedeutung, die selbst ein Wechsel des Notizbuchs haben kann und – eben nicht profan zu sein? Wie sagte → Phyllis Kiehl? Aufladung ist das Geheimnis. In den → Béarts wird dieser große Satz zitiert.
Und, Löwin, geben Sie es zu, daß das Notizbuch zu wechseln einen angemesseneren Anlaß gar nicht haben kann als ein wirklich großes Stück Musiktheater, in dem es zumal um ein potentiell unendliches Leben und darum geht, was ein solches würde bedeuten? Und was wir Sterblichen dann wärn? S o betrat ich gestern → den Abend und schritt durch ihn und den Klang seiner enormen heißen kalten Wogen:

 

Ihr
ANH

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