Unter der suggestiv — hier sogar kriegsrhetorisch — hingeworfenen Überschrift
Schweigen sagt mehr als tausend Töne
fordert ein wahrscheinlich rasend bedeutender Schreiberling von Teodor Currentzis das Bekenntnis ein, wie er, Currentzis, es denn mit dem kriegsverbrecherischen Angriff auf die Ukraine halte. Er wirft ihm „Schweigen“ vor – als wäre es nötig, ja auch nur geraten, daß jeder mit Rußland in irgend einer Verbindung stehende Künstler sich öffentlich zu positionieren habe.
An sich schon ein Unding erinnert das an die düstren bundesdeutschen Zeiten der → Gesinnungsschnüffelei mit ihrem schließlichen Radikalenerlaß, nur daß in diesem, ich beharre auf den Anführungszeichen, „Fall“ nicht staatlich legitimierte Instanzen agieren, sondern Zivilpersonen als selbsternannte Vertreter (und, nehm ich an, Vertreterinnen auch) der Öffentlichen Meinung. Und was von der zu halten ist, wußte schon → Jacques Offenbach. Oder, um es mit Luigi Lacchè zu sagen:
Und nichts hat mehr als die Affaire Dreyfus gezeigt, wie sehr die Presse, im Guten wie im Schlechten, darauf hinwirken kann, der Öffentlichkeit „Hassobjekte“ einzureden.[1]Luigi Lacchè, „Richtet nicht!“ Anthropologie der Justiz und Formen der öffentlichen Meinung im 19. und 20.. Jahrhundert, → Berlin 2012
Statt dessen maßt sie sich an — in den ukrainisch-russischen Kriegszeiten aufs denunziatorische Longboard von #metoo[2]„… jenes Geheimnis der kollektiven Psychologie, das öffentliche Meinung heißt und das in der modernen Welt einen so großen und gefährlichen Einfluß gewinnt.“ Scipio Sighele 1899 gehüpft —, ein Vernehmungsrichter zu sein, der subversiv-denunziatorisch in Omniperson auch den Ankläger gibt. Begründung: Wer (als mit Rußland irgendwie verbandelt) sich nicht scharf gegen Putins Völkerrechtsbruch stellt, befürwortet ihn. Daß so etwas schon juristisch unhaltbar ist, liegt auf der Hand. Doch selbst moralisch ist es unrecht, es sei denn, wir gestünden etwas zu, das ich fortan selbstbestätigungsmoralisch nennen werde, weil es allein der Bestätigung der eigenen Wahrheit dient, der jedermann sonst sich zu beugen habe.
Es wird nicht mehr gefragt, schon gar nicht ums Warum.
Doch will ich’s einmal anders wenden:
Im Programmheft des, nun jà, inkriminierten Konzertes schreibt der Currentzis befreundete ukrainische (!) Komponist Oleksandr Shchetynsky, dessen Komposition „Glossolalie“ mit aufgeführt wurde:
Diese Sinfonie[3]Gemeint ist Schostakovitschs Sinfonie Nr. 5 paßt wie kein anderes Werk zu unserer Zeit, in der der grausame Krieg Rußlands gegen die Ukraine andauert. Im Widerstand der Ukrainer gegen die neue Barbarei des Kreml ist Schostakowitsch mit seiner Musik unser aufrichtig Verbündeter.
Genau so scheint Currentzis sie auch einstudiert zu haben und hat sie s o dirigiert – gesteht sogar der Herr Rudiger-selbst zu. Wir können es also auch anders interpretieren, als dieser, nun jà, „Journalist“ es tut: Currentzis liefert die Waffen, mit denen in diesem Fall die Kunst sich gegen den Angriffskrieg – nämlich auch auf sie – verteidigt. — Das sei Haltung nicht genug?
Hingegen Herr Rudiger will den offenen Krieg, hier Currentzis‘ gegen Putin. Was für den Dirigenten erst einmal bedeuten würde, fortan als Emigrant leben zu müssen, vor allem aber, wichtiger, das von ihm gegründete russische Orchester → MusicAeterna nicht nur aufzugeben, sondern jede Musikerin darin und jeden Musiker, die und der – was zu erwarten wäre – weiterhin zu ihm stünde, hohen Grades zu gefährden, und nicht allein im Beruf. Kurz, er lieferte sein durch und durch Ausnahmeorchester einer extremen Bedrohung aus. Es lebt und atmet aber mit ihm, fast muß ich „durch ihn“ schreiben – nicht anders als die Musikerinnen und Musiker des noch kurz zuvor so schwer gebeutelten SWR-Sinfonieorchesters, dem er in allerkürzester Zeit ein Format gegeben wie – ich weiß, ein etwas problematischer Vergleich – Barenboim der Staatskapelle Berlin. Nicht nur die Stücke, die und wie sie diese Orchester aufführen, sind Kunst, sondern sie selber, als Orchester, sind Kunstwerke geworden, deren „Schöpfer“ Currentzis und Barenboim heißen; interessanterweise hat auch dieser z w e i, nämlich zudem das → West-Eastern Divan.
Zur Zeit geht Currentzis für MusicAeterna sehr wahrscheinlich seelisch durch die Hölle, konzentriert ihr Fegefeuer auf sich selbst, schirmt seine Musikerinnen und Musiker ab. Und wenn der Herr Rudiger, er schäme sich in Grund und Boden, unter → das neue Foto von Currentzis schreiben läßt – wozu er dessen bisheriger Erscheinung in Punkfrisur und rotgeschnürten Springerstiefeln infamst noch eine sozusagen nachgetretene Ohrfeige gibt -, er trage jetzt „überraschenderweise auch Anzug und Krawatte“ , unterschlägt er das alleroffensichtlichste, daß nämlich Menschen s o — auf Beerdigungen gehn. Menschen also, die in Trauer.
Doch alles dies beiseite, ist es eine extrem peinliche Ungeheuerlichkeit, daß der Herr Georg Rudiger nicht nur den Tagesspiegel, sondern den Völkermord in der Ukraine benutzt, sich seine stumpfen Messer am, wie Schelmenzunft es nennt, „Currentzis-Bashing“ mitzuwetzen. Ihm, nicht Currentzis, sind die Opfer nichts als ein Mittel kriegsbereiter Selbstgeltungslust, über die er, die stumpfen Messerklingen, auch weitre Menschen springen ließe. Und was nennt er als Grund? Daß ein russisches Orchester von einer russischen Bank mitfinanziert wird — mit Geldern, die da eben nicht in den Krieg gehen, sondern an die Kunst. Wenn diese Bank nun auch krebskranken Kindern Krankenhäuser mitfinanzierte, dürfte auch das nicht mehr sein? Ah, stimmt ja, sind ja alles Russen. Und das Böse muß putzweg. Ganz wie für Putin, Lawrow und Kumpane alle Ukrainer.
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P.S.:
Das in Rede stehende Konzert wird als Video ab Mitte Juni → bei swr classic zu sehen und zu hören sein.
NACHTRAG, 10.57 Uhr
Currentzis ist mit ukrainischen Künstlern befreundet, u.a. mit Shchetynsky. Diese haben das Recht, von ihm ein Bekenntnis zu fordern, nicht aber wir. Und wir können uns, denke ich, sicher sein, daß sie untereinander gesprochen haben, längst, mit wahrscheinlich deutlichsten Worten. – Vielleicht auch dieses mal mit in Betracht ziehen.
ANH
References
↑1 | Luigi Lacchè, „Richtet nicht!“ Anthropologie der Justiz und Formen der öffentlichen Meinung im 19. und 20.. Jahrhundert, → Berlin 2012 |
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↑2 | „… jenes Geheimnis der kollektiven Psychologie, das öffentliche Meinung heißt und das in der modernen Welt einen so großen und gefährlichen Einfluß gewinnt.“ Scipio Sighele 1899 |
↑3 | Gemeint ist Schostakovitschs Sinfonie Nr. 5 |
Nun, Currentzis ist inzwischen viel öfter gefragt worden, ohne dass man es für Gesinnungsschnüffelei halten muss, und vor allem von Seiten, die ein größeres Recht zu solchen Fragen haben als Herr Rudiger.
Das SWR Symphonieorchester hat als Ergebnis solcher Befragung verlautbart:
„Die Gespräche zwischen Teodor Currentzis, dem Orchestermanagement und dem Vorstand des Orchesters hätten klar bestätigt, dass die musikalische Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Überzeugungen basiert, hieß es von Seiten des SWR. Teodor Currentzis und die Mitglieder des SWR Symphonieorchesters stünden mit aller Deutlichkeit hinter dem gemeinsamen Appell für Frieden und Versöhnung. Ein darüber hinausgehendes Statement oder gar die Aufgabe seiner künstlerischen Tätigkeit in Russland erwartet der SWR von seinem Chefdirigenten nicht.“
Dem sollte zu folgen sein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Leider, wie Sie an dem Artikel von gestern (!) sehen, doch. Es geht also offenbar tatsächlich um weiteres „Currentzis-Bashing“, nunmehr aber auf den Rücken der schwer leidenden ukrainischen Bevölkerung. Selbst dieses Elend zu benutzen, ist man sich nicht zu schade. Besonders deshalb behält mein Text seine Gültigkeit.
War in Freiburg im Konzert und kann berichten, dass nach der Pause eine 5. Schostakowitsch an den (Derwisch)-Tanz kam, wie ich sie bis dato nicht kannte. Während Kurt Sanderling 18, 6, 16, 12 und Honeck 17, 6, 15, 13 Minuten brauchte, waren es Currentzis 14 (!), 6, 16, 10 (!) Minuten, was einen frappanten, getriebenen, gehetzten Eindruck machte, und jeglicher, wenn langsamer gespielt, maestoso Marschcharakter mutierte zu einem Himmelfahrtskommando ohne Wiederkehr.
Das Schlimme ist, dass Currentzis richtig krank aussieht. Keine Spannkraft, matte, weiße Gesichtsfarbe, alle Bewegungen wie schmerzhaft karikiert. Es kann einem angst und bange werden um ihn. Als ich dann vor dem Konzerthaus mein Fahrrad vom Bauzaun losschoss, kam mir der Maestro ganz in Schwarz mit wehenden Rockschößen entgegen, und ich konnte nicht anders, als „Ich wünsche Ihnen Gesundheit, Maestro“ sagen. Er stutzte, sah mich kurz (schmerzvoll) an, ging aber weiter, weil sein Tross schon vor dem Großraumtaxi nach ihm rief.
Ich hoffe nicht, dass dieser Scheißkrieg so eine, Sie wissen ich bin parteiisch, Jahrhunderterscheinung wie TC verstummen macht. Mir kam beim Anblick von TC dieser Arno-Schmidt-Satz aus seinem Herder-Essay in den Sinn:
„Diesem Morden menschlicher Kräfte und Verdienste stehet ein anderer entgegen, den man den feinsten Selbstmord nennen möchte; er ist umso bedauernswürdiger, weil er nur bei den erlesensten Menschen stattfindet, und ihr köstliches Uhrwerk nach und nach zertrümmert : Menschen nämlich von äußerst zartem Gefühl haben ein Höchstes, wonach sie streben; eine Idee, an welcher sie mit unaussprechlicher Sehnsucht hangen. Wird ihnen diese Idee genommen, wird dies schöne Bild vor ihren Augen zertrümmert, so ist das Herzblatt ihrer Pfanze gebrochen – der Rest steht mit welken, unkräftigen Blättern da.“
Am digitalen Pranger geht es munter weiter. Russische Musik als 5. Kompanie Putins, das Internationale Rote Kreuz wird kritisiert, weil es „mit Moskau“ (!) „redet“ (!!!):
Like this, from the Vienna-based Ukrainian violinist Vira Zhuk, pictured below at her own fundraiser for 73 unaccompanied children evacuated from Ukraine.
Vira writes:
Dear team of Wiener Konzerthaus, liebes Wiener Publikum,
Why do you think that’s it is appropriate to host three concerts of Teodor Currentzis with his musicAeterna the following week? The orchestra is founded and sponsored by VTB bank, the second largest bank in Russia, currently under sanctions due to the Russian invasion of Ukraine. Russia clearly continues the Soviet tradition of using the culture as the main mouthpiece of propaganda. This has been so successful, that Europeans still can’t believe, that this criminal war is not just Putin’s crazy idea, but a horror supported by majority of Russians. Have you seen their latest ‘achievements’ in Ukraine? #buchamassacre.
The third concert announced as a benefit event, ‘a symbol of hope and peace in this crisis-ridden time’ ( crisis! ), which apparently supposed to camouflage the presence of this ensemble in the calendar, deserves special attention. Quite an impressive list of masterpieces from the Western history of music crowned with Tchaikovsky’s Elegie as the final work of the concert. Maybe a sign of ‘Russian liberation’?
Not to mention the recent controversial behaviour of the International Federation of Red Cross in Moscow, which is listed as the final destination for the donations.
https://slippedisc.com/2022/04/vienna-faces-protests-over-currentzis-concert/
Ich kannte diesen Text bereits und reihe ihn in die momentane (kriegs)logische Antwort auf Putins „die Ukraine muß weg“ ein (was deren Künste dann auch mitmeint) – und also: Haust du mir auf die Fresse, hau ich Dir auf die Fresse. Daß gerade die Künste – darunter besonders Musik und Bildende Kunst – ihrer Substanz und ihrem Willen nach notwendigerweise übernational sind, spielt keine Rolle. Es ist tatsächlich ideologiegeleitete Kriegslogik; wir selbst hatten das ja auch schon mal mit z.B. der Abklehnung alles „Welschen“ und wissen, wohin das führte. Auf ziemlich fiese Weise geht die Ablehnung alles „Russischen“, also auch russischer Künste, umgekehrt parallel mit dem im Westen die Vorhand gewinnendem Vorwurf der „cultural appropriation“ ineins, hinter dem die unheimliche Vorstellung „kultureller Reinheit“ steht, wie „Reinheit“ überhaupt. Daß diese, auf Nationen angewendet, letztendlich völkisch ist, ist grauenvoll genug.
„Ist nicht der Russe der menschlichste Mensch?“
Ich erlaube mir, dieses Zitat hier einzustellen, obwohl und gerade weil ich weiß, wie absurd es in unseren Tagen klingt. Es stammt von Thomas Mann, ist aus seinem Essay „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Mann bezieht sich damit vor allem auf Dostojewski und Tolstoi, auf Dostojewskis Verantwortungsbegriff und die sozialrevolutionären Vorstellungen Tolstois.
Auch dann, wenn man Thomas Manns Frage heute verneint, ist es vielleicht gut, sich daran zu erinnern, dass ein solches Russlandbild einmal möglich war.