Das Arbeitsjournal des Sonntags, den 26 Juni 2022. Krawattenknoten & Triest.

[Arbeitswohnung, 8.56 Uhr
France Musique, Le Baroque:
Antonio Draghi, El Prometeo, Y a tus plantas]

Für Instagram mal wieder g e s p i e l t . Dieses Mal der Rosenknospen-Krawattenknoten. Meine Beschreibung, liebste Freundin, lesen Sie einfach direkt → dort. Hingegen waren die drei vergangenen Tage einer sommerlichen Anzug-mit-TShirt-Lässigkeit gewidmet, also in Sachen Haute Couture. Das TShirt muß selbstverständlich “uni” sein, also bitte keine Grafiken oder sonstigen Bilder drauf, erst recht kein Markenname, sondern am besten ist es schon knapp vorm Entsorgen. Dafür der Anzug makellos; Armani und Lagerfeld bieten sich an. Die Differenz macht das Bild. Es geht aber auch hier um Formung, also bewußte Entscheidung.
So forme ich derzeit auch →  die Triestbriefe um; sechseinhalb liegen noch vor mir. Danach darf ich neu weiterzuschreiben beginnen; es müssen noch sieben weitere sein. Wobei ich erst das Problem hatte, viereinhalb Arbeitsjahre an diesem Roman ausgesetzt zu haben und nun einen organischen Übergang zu finden. Unterdessen ist er mir klar. Es ist dies poetologisch umso wichtiger, als ich selbstverständlich nicht schreiben kann, ohne den Ukrainekrieg zumindest Spuren in das Buch einprägen zu lassen, wahrscheinlich auch Liligeia. Es gehört bekanntlich zu meinen Grundüberzeugungen, daß jeder Roman auch eine Mitschrift der Zeit sein muß, in der und wie er entsteht. Lenz wird dann also schon nahezu fünf Jahre in seinem Grenzhäuschen leben, oben auf dem Karst, also durch und durch Bauer geworden sein; die Lydierin dürfte er in all der Zeit nicht gesehen, nicht einmal etwas von ihr gehört haben. Schon gar nicht hat er ihr weitere Briefe geschrieben. Umso erstaunlicher, daß er damit jetzt wieder anfängt. Da ist der Krebs übrigens ein schwereres Problem als der Krieg, der ein durchaus angemessener Grund ist, indessen die nach wie vor geliebte Frau auf keinen Fall das Gefühl bekommen darf, Liligeia sei eine Folge ihres, der Lydierin, Rückzugs — mithin eine physische, sagen wir: psychosomatische Trennungsfolge. Also wird Lenz, daß die Tumorin sich in ihm eingenistet hat, anderswie begründen, und meinerseits ich werde achthaben müssen, den Triestroman nicht versehentlich ins → Krebstagebuch übergehen zu lassen oder gar beide Projekte miteinander zu verschmelzen — ganz abgesehen davon, daß mir das Buch sonst zu umfangreich würde. Dreihundert bis vierhundert Seiten genügen eh vollauf; besser wären weniger.
Zudem läuft die Bearbeitung der frühen Gedichte weiter, momentan nicht mehr jeden Tag eines, aber doch alle drei vier Tage, und ich denke immer mal wieder an das neue Gedichtprojekt, Sapho, doch will mich nicht verzetteln, sondern warte vor allem auf die zweite Lektoratstranche der Verwirrung des Gemüths, damit wir, Elvira und ich, bis Mitte Juli rechtzeitig abgeben können, um zur Frankfurtmainer Buchmesse tatsächlich den Roman auch vorliegen zu haben. Wenn die lektorierte Fassung gesetzt sein wird, stehen ja noch die Fahnenkorrekturen an.

Gut war gestern, frühabends bis nachts, auf Uwe Schüttes jährlichem Sommerfest gewesen zu sein, auch wenn ich einmal wieder merkte, wie randständig ich im Betrieb positioniert; mittlerweile macht mir das meistens nichts mehr aus, manchmal sogar im Gegenteil, doch hin und wieder nehme ich es dann doch leicht schmerzhaft wahr. Zumal ich schlichtweg aus Altersgründen nicht mehr annehmen kann, es werde sich daran noch etwas ändern — nicht, weil es de facto noch an mir liegen würde, meiner Erscheinung, meiner Widerständigkeit, meiner, nun jà, Arroganz, sondern einfach, weil neue Generationen nachgewachsen sind, die jetzt zurecht im Mittelpunkt stehen; der Wechsel hat ja nicht nur bei den Autorinnen und Autoren, sondern auch den Vermittlerinnen und Vermittlern stattgefunden, denen ihre Generation nachvollziehbarerweise näher ist. Hier wird erst die Zeit ausgleichen, ich meine historische Zeit, wenn die rückwärtsgewandte Perspektive die Lebenszeitgeschichten engführt. Zu ihrer Zeit lagen zwischen, sagen wir, Beethoven und Mozart W e l t e n, heute fassen wir beide in die gleiche kulturgeschichtliche Ära. Man muß eine Art vorangeschrittener Lebensreife haben, um dies nicht nur zu verstehen, sondern auch zu fühlen. — Auch dort, übrigens, Gespräche zum Ukrainekrieg, in denen sich die verschiedenen Einschätzungen aneinander rieben. Unterm Strich sind wir, da hatte in der Büchner Buchhandlung vor vier Tagen Stephan Wackwitz — mit dem ich mich bereits auf der Frankfurtmainer PEN-Tagung im Oktober angefreundet habe  — recht, ratlos. Aber jeder spürt, und sagt es, die akute Gefahr. Nur unsere Reaktionen auf sie sind verschieden.
Nach der Veranstaltung lud der Verlag, S. Fischer, zum Essen; die junge Dame, die ihn vertrat, wollte partout nicht warten, bis draußen für uns etwa elfzwölf Leute genügend Tische frei waren, um sie aneinanderzurücken, und hieß also die Gäste, sich drinnen zu setzen. Ich empfand das als eine, der wunderbaren Sommernacht gegenüber, Blasphemie – und vondannte. Wofür ich mit einem herrlichen, von süßem Lindenduft gesalbtem Schlendern belohnt wurde. Selig darob nahm ich daheim noch einen letzten Wein.

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