[Arbeitswohnung, 11.05 Uhr
Gubaidulina, Bratschenkonzert]
Das, Freundin, nach diesen sieben Jahren schwerst zu lösende Problem meiner Arbeitswiederaufnahme des Triestbriefromans besteht darin, daß es mir unmöglich ist, einfach so wie vorher weiterzuschreiben, während gleichzeitig dieses Kriegsmorden brandet; stets habe ich meine Arbeit auch als eine Zeitmitschrift verstanden: Ohne das Völkermorden auf dem Balkan hätte es “Thetis” nie gegeben, jedenfalls nicht so, wie der Roman heute ist. Anders kann ich es auch mit dem brutalen Stellungsschlachten, einem tatsächlich Völkervernichtungszug, nicht halten[1]Genauso muß auch Corona ihren Platz in den neuen Briefen finden, auch sie uns sommerhalber grad mal etwas in Ruhe läßt.… auf gar keinen Fall. Im folgenden eine Passage, in der ich es schon mal versucht habe und aus der vielleicht ein wenig deutlich wird, wie notwendig ich das Motiv als texttragend einkonstruieren will:
[Aus dem dreiunddreißigsten Brief:]
(…)
Nicht nur ich, Du Elbe, habe das Geheimnis gespürt, das aus dieser entfernt an den „Schwanendreher‟ erinnernden Musik weht, die auch tatsächlich eines der Motive Hindemiths zur Grundlage nimmt, nämlich die beiden im zweiten Satz des Stücks in Klänge gesetzten Verse des Volksliedes Nun laube, Lindlein, laube1, was anfangs aber eher in der berückenden Manier Gubaidulinas verarbeitet wird, in die dann pervers so etwas wie Schnittkes sogenannte Polystilistik hineinknallt, die sich zu einem brachialen frühpenderckischen Cluster sozusagen ausflacht, doch aufgebläht zu ungeheurem Lärm. Dennoch spielt die Bratsche mittendrin rasend virtuose Läufe, die bloß kein Mensch mehr hören kann, rein akustisch, meine ich. Die Zimmermann muß auf dem Podium wie die besessene Bratschistin in einem Stummfilm ausgesehen haben, dessen Begleitung aus einem puren Getöse besteht, anstelle vom Klavier zu kommen. Denn nicht nur das eigentlich kleine Ensemble veranstaltet den Krach – es soll im fortissimo ad lib. gespielt werden, und zwar in stark schwankenden Tonhöhen –, vielmehr wurden über Lautsprecher Baustellen- und Verkehrsgeräusche ins Festspielhaus noch hinzuübertragen und aber auch Maschinengewehrsalven, Kanonendonner, Bombeneinschlagskrachen sowie Schreie über Schreie – knapp vier Jahre vor diesem unseligen Krieg, der es nämlich ebenfalls sein kann, was Lars mich Dir jetzt wieder schreiben läßt. Er hat es nicht gesagt, nein, wie sollte er? Aber ich kann mir nichts anderes denken, der ich doch selber solch eine Angst vor allem um meine Zwillinge habe. Wie hätte da er gleich nach des bleichen Lurches, wie Bersarin Hartmann ihn nennt, erster Nukleardrohung nicht um Dich fürchten müssen, das ihm, von Larssohn abgesehen, Allernahste? Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß, sollte Rußland diesen entsetzlichen Feldzug verlieren und sich nicht nur zurückziehen müssen, sondern sich nun seinerseits unterlegen angegriffen fühlen, sein Nukleararsenal in Stellung und zum Einsatz bringen wird. Dann wäre das Land zwar immer noch verloren, wir wären’s aber auch und mit uns alles andere. Also liegt es doch nahe, daß Lars durch mich den Kontakt wieder aufnimmt oder es zumindest versucht, und sei es nur, um Dich vor unser aller Ende vielleicht doch noch einmal zu sehen. Selbst, wenn nur ich es wäre, der Dich sähe. Denn wirklich, ich hab jetzt sofort mit dem Gedanken gespielt, nach Triest zu reisen, was ich ja sowieso vorhatte, erinnere Dich, Lars’ens dreißigster Brief[2]Der Link führt auf die erste, nicht die überarbeitete Fassung dieses Briefes, nur daß es nun nicht „im März‟ sein wird, der liegt ja Jahre hinter uns, sondern wahrscheinlich der kommende September. Wenn dies hier ein Roman werden soll, muß ich die Handlungsorte wirklich sehen. Du kennst doch meine Arbeitsweise, wenn Du mich hast sogar doch übersetzen wollen. Hat Lars mich damals angeschwindelt? Unwichtig, übelnehmen könnte ich’s ihm eh nicht mehr.
(…)
1 „nicht länger ich’s ertrag,/ … / hab gar ein traurig Tag.‟
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