„Ein bißchen schaurig ist das s c h o n.“ Das Gänsehautjournal des Sonntags, den 27. November 2022.

[Medikamentenversuch Pregabalin → Fünfter Tag]

 

[Arbeitswohnung, 11.44 Uhr
France Musique Classique plus:
Richard Strauss, Letzte Lieder (Jessey Norman)]
Gestern mit dem achtundzwanzigsten Triestbrief tatsächlich fertig geworden und dabei sogar, nach → diesem vermeintlichen Ende einen guten Übergang für den neunundzwanzigsten, also letzten Brief des Romanes hinbekommen. Sehr erleichternd. Also werde ich heute damit zu tun haben, den Brief korrekturzulesen, vielleicht auch noch die eine und/oder andere Änderung, bzw. Schärfung der Szenen einzufügen und ihn dann für den Typoskriptband auszudrucken und drin abzuheften. Daß ich bereits dazu kommen werde, den neunundzwanzigsten Brief zu beginnen, glaube ich hingegen nicht, schon weil ich, da wir solch ein sonniges Wetter haben, gerne einen ausgebigen Spaziergang machen möchte. Womit ich nicht lange warten sollte. Es wird doch in dieser Jahreszeit stets so übel schnell dunkel, und ich brauche Licht.

Außerdem an einer nächsten Ergänzung der zweiten Tattooerweiterung gefriemelt, erst mit Filzer, dann, weil der wieder mal nicht hielt, mit schwarzem Nagellack – was beides aber viel zu dicke Striche ergibt. Denken Sie sich sie feiner, sehr viel feiner, liebste Freundin, so, wie die Realisierung am Hals. Jedenfalls sagte gestern abend auf Broßmanns wunderbarem Fest jemand mir übrigens ausgesprochen Sympathisches, schon, weil er einerseits hochintelligent nicht nur wirkte, andererseits aber selbst sehr hell – und sportlich-elegant dazu, mit berückendem Lachen: „Das ist aber nun ein Statement!“ Zu sehen war selbstverständlich nicht das Tattoo insgesamt, sondern nur mein auf die Oberseite der rechten Hand mit zumal linkisch mit links aufgetragener Entwurfsversuch.
Tatsächlich emfand ich für Tattos Hände stets als Tabu. Doch war mir schleichend klargeworden, daß ich auch dieses würde brechen müssen, wenn ich es denn mit der Selbstermächtigung über meine Versehrung ernstmeinen wolle. Zumal auch dies wieder in den Triestroman hineinspielt und möglicherweise in ihm selbst noch Thema werden wird, ganz sicher aber in meiner nun fest eingeplanten Yōsei/Horu-Shi-Novelle. Ein kleiner Ärger allerdings, daß es keine wasserfesten Hautfarben gibt, die sich mit einem Stift auftragen lassen und zumindest die Haltbarkeit von Henna haben. Sonst würde ich erst einmal damit operieren und schauen, wie ich in, sagen wir, einzwei Monaten zu diesem Wechsel meines Geschmacksempfindens stehe. Aber so nehme ich das Risiko halt an, hat auch was von einem Rausch, der allerdings dem einer Selbstüberhebung eher gleicht als nur jener der -ermächtigung. Was ich mit ausgesprochenem Interesse, sozusagen gehobener Augenbraue, beobachte. Doch ist ja auch dieser Komplex stets in meiner Dichtung zugegen. Die sowas von „neben der Zeit“ liegt! Nicht „gegen“ sie, nein, nur neben, im Wortsinn, ein ganz eigener paralleler Zeitverlaufsstrang, von dem ich freilich weiß, daß er nicht ohne Wurzeln, sondern Fortführung vorheriger simultaner Nebenstränge der poetischen Ästhtik ist, die es – neben – ebenfalls waren. Erzählt indes, in den Feuilletons, wird fast immer nur der Hauptstrang („Mainstream“); anscheinend Abseitiges – das später einmal, wie Kafka und Kleist, das zentrale „Narrativ“ der Literaturgeschichtsschreibung zur Ästhetik werden könnte – wird umso seltener auch nur besprochen, desto querer (nicht „queerer“!) es zur allgemeinen Gutmeinung steht. Insofern muß es mich, auch wenn es mich sehr wurmt, nicht wundern, daß etwa die Béarts in den „offiziellen“ Feuilletons nicht vorkommen, abgesehen von → Carsten Ottes SWR-Besprechung selbstverständlich. Dabei w e i ß ich von Rezensionen, die schon geschrieben und längst abgegeben worden sind, die aber ganz offenbar von den Reaktionschefs und -innen zurückgehalten werden. Es zeigt dies die journalistische unterdessen nicht nur noch „Tendenz“, nicht bloß tendenziös zu schreiben, sondern auch bewußt zu verschweigen, und wiederum mit anderem, das die Zustimmung eines vorgestellten Publikums zu garantieren scheint, also mit schlichtweg der Masse zu laufen, selbst wenn sie gar keine ist, sondern nur aus einigen wenigen besteht, aber aus lauten, sozusagen „moralischen“ Schreihälsen, die die Meinungshoheit okkupierten. So daß es nicht einmal mehr theoretisch um Objektivität, sondern darum geht, sich den Mehrheiten, der „Quote“, anzudienern. Na gut, solln sie. Ich weiß, an was ich arbeite, und weiß auch, warum. Auf jeden Fall bleibe ich frei von grobem ideologischen Unfug. Mitunter komme ich mir wie ein Warner unter all den Intellektuellen vorm Ersten Weltkrieg vor (auch Thomas Mann war dabei), die sich jubelnd darum drängelten, Mitmorden und Mitgemordetwerden zu dürfen. Ein bißchen schaurig ist es s c h o n, daß sich offenbar so gar nichts in den Psychodynamiken ändert.

Ihr, Begehrte,
ANH

[France Musique Contemporaine:
Jana Kmitova, Gesichtsstudien für Orchester (2017)]

Ach so, falls Sie noch ein so ausgefallenes wie edles Weihnachtsgeschenkt brauchen: Diaphanes‘ Sonderausgaben des Béart-Gedichtzyklus sind jetzt erhältlich. Näheres → dort.

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[20.04 Uhr
Tschaikowski, Sinfonie Nr. 3 (Vinyl, 70er Jahre)
Eine LP, die ich mit siebzehn oft, sehr oft gehört habe.
Diese Dritte war mir neben Tschaikowskis Fünfter
die damals immer liebste.]
Fertig geworden mit Korrektur und Ausdruck des achtundreißigsten Triestbriefs, den ich jetzt auch eingeheftet habe. Wie ich’s mir heut morgen gedacht habe, war es doch noch einige Arbeit. Aber insgesamt bin ich fast erstaunt, wie gut er nun „läuft“. – 424 Seiten hat das Typoskript unterdessen, was übern Daumen rund 500 Buchseiten entspricht, eine ziemliche Menge holzhaltigen Papiers. Wobei dieser achtunddreißigste mit seinen zweiundzwanzig Seiten der deutlich längste ist bislang und was nur noch der letzte „toppen“ könnte, aber nicht soll.

Gut, „Feierabend“. Jetzt wird Peter Giacomuzzis „Briefe an Mimi“ zuende gelesen; zwischendurch kommen die bereits vorbereiteten grünen, reisgefüllten Paprikaschoten in den Ofen; der Sugo dazu ist schon fertig. Zum also Nachtessen dann gibt’s vielleicht noch ein oder zwei Folgen „Babylon Berlin“. Genießen auch Sie Ihren Feierabend.

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2 thoughts on “„Ein bißchen schaurig ist das s c h o n.“ Das Gänsehautjournal des Sonntags, den 27. November 2022.

  1. Oh nö…nicht die Hände. Ich meine, wenn das Tattoo eh nur in Gänze zu sehen ist, wenn Sie halbentblösst vor einem stehen, sehe ich (ist klar) die Notwendigkeit nicht. Ihre eigenen Ausführungen dazu verstehe ich gut, tendiere zur FilzStiftIdee (zunächst)…versuchen Sie es doch einmal mit einem feinen “ dokumentenechten Filzer ( die Haut sollte nicht fettig sein).
    Gutes Gelingen…
    In unserer Gegend liegt eine graue Wolkendecke über dem Geschehen, die eher nicht zum Herumspazieren einlädt.
    RIvS.(c).

    1. Nun jà, der Clou ist ja nicht eigentlich, daß die Handoberflächen tätowiert, sondern etwa von unter der Manschette zu erkennen ist, daß das Handtattoo von etwas genährt wird, das unter ihr sichtbnar hervorkriecht. Dadurch ensteht der Eindruck eines Lebendigen, aber halt auch Unheimlichen – aber „unheimlich“ so, daß da etwas ist, das uns bewirkt, über das aber wir keine Macht haben. Keinerlei. Ich erst kehre das bildlich um, indem ich es überhaupt erst schaffe udn dann darstelle. Genauso, in einem anderen Medium, funktioniert jede Tragödie des Theaters und Kinos. Wir stellen etwas her, um es durch – real gemeint – Anschauung zu bannen; und die meinetwegen auch nur Illusion, daß wir das können, schenkt uns Lust auch und gerade beim Betrachten des im Kunstwerk dargestellten Unheils.

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